Allgemeine Informationen
Definition
- Hereditäre autosomal dominante Multiorganerkrankung, die sich primär durch Läsionen der Haut, des Nervensystems und der Knochen äußert und zur Entwicklung primär gutartiger, aber auch maligner Tumoren prädisponiert.1-3
- Zwei Untergruppen
- Neurofibromatose Typ 1 (NF1) (von Recklinghausen-Krankheit) macht 96 % aller Fälle aus und fällt u. a. durch multiple Neurofibrome, Café-au-lait-Flecken und Optikusgliome auf.
- Neurofibromatose Typ 2 (NF-2), bei der bilaterale Vestibularis-Schwannome und Meningeome auftreten. Sie wird in einem separaten Artikel behandelt.4
Häufigkeit
- Prävalenz liegt bei 1 pro 2.600–3.000.
- Die Häufigkeit ist unabhängig von Geschlecht und ethnischem Hintergrund.1-2,5-7
Ätiologie und Pathogenese
Vererbung und Pathophysiologie
- Autosomal-dominant
- Penetranz 100 %
- variabler Phänotyp und variable Ausprägung
- Etwa die Hälfte der Fälle ist familiär, die andere Hälfte entsteht durch spontane Neumutationen.
- Genetische Grundlage
- Neurofibromatose 1 entsteht durch unterschiedliche Mutationen im NF1-Gen auf Chromosom 17 (17q11.2), die die Erkrankung verursachen.
- Es besteht eine erhöhte Inzidenz von benignen und malignen Tumoren, vorwiegend im ZNS, aber auch in anderen Organsystemen.
- Neurofibrome sind gutartige Tumore, die aus dem Stützgewebe der peripheren Nervenzellen hervorgehen (Schwann-Zellen, Perineuralzellen, Fibroblasten und andere).
- Plexiforme Neurofibrome sind ähnlich und entstehen aus den Muskelnervenfaszikeln. Sie können maligne entarten.
- Zusätzlich zur Tumorbildung kommt es zu Veränderungen der Pigmentierung, Skelettdysplasien, neurokognitiven Defiziten und Anomalien des Herz-Kreislauf-Systems.3-5,7
Disponierende Faktoren
- Erkrankungsfälle in der Familie
ICPC-2
- A90 Angeborene Anomalie NNB
ICD-10
- Q85.0 Neurofibromatose (nicht bösartig)
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Primär klinische Diagnose
- Eine genetische Diagnostik erfolgt vor allem bei unklaren Fällen oder im Rahmen der genetischen Beratung.7
Neurofibromatose 1: Es müssen mindestens 2 der folgenden 7 Kriterien vorliegen
- Mindestens 6 Café-au-lait-Flecken mit einem Durchmesser von mehr als 5 mm im Kindesalter, über 15 mm in der Jugend und im Erwachsenenalter
- Mindestens 2 Neurofibrome (histologisch bestätigt) oder 1 plexiformes Neurofibrom
- Sommersprossartige Pigmentierungen in der Achselhöhle oder in der Leistengegend
- Dysplasie der langen Röhrenknochen oder des Os sphenoidale
- Mindestens 2 Hamartome der Iris (Lisch-Knoten)
- Optikusgliome
- Verwandte 1. Grades mit Neurofibromatose Typ 12-3,7
Differenzialdiagnosen
- Da die Neurofibromatose ein sehr breites Spektrum von Symptomen und klinischen Befunden hat, soll für jedes einzelne Symptom eine Differenzialdiagnose erwogen werden.
- Zwei der Diagnosekriterien (Café-au-lait-Flecken und sommersprossartige Pigmentierungen in der Achselhöhle) treten auch bei anderen Syndromen auf. Falls dies die einzigen Diagnosekriterien sind, die die Patientin/der Patient aufweist, soll zum Stellen der endgültigen Diagnose ein Gentest durchgeführt werden.
- Mögliche Differenzialdiagnosen
- familiäre oder sporadische Cafe-au-lait-Flecken
- Neurofibromatose Typ 2 (klassischerweise mit ggf. bilateralen Vestibularis-Schwannomen und Meningeomen)
- Neurofibromatose-Typ-1-ähnliches Syndrom (hier liegen keine Neurofibrome vor und eine Genmutation im NF1-Gen kann nicht nachgewiesen werden)
- segmentale Neurofibromatose Typ 1 (Beschränkung auf ein Körpersegment)
- Legius-Syndrom
- McCune-Albright-Syndrom3-4
Anamnese
- In etwa 50 % der Fälle liegt eine positive Familienanamnese vor.
- Sehr variabler Verlauf, bei der Mehrheit der Patienten verläuft die Erkrankung gutartig ohne schwere Komplikationen.
- Die meisten Anzeichen von Neurofibromatose 1 treten bereits in der Kindheit auf und entwickeln sich dann schrittweise. Nicht selten wird die Diagnose trotzdem erst im Erwachsenenalter gestellt.
- Bei neu auftretenden neurologischen Auffälligkeiten sollte an Hirntumoren und zerebrovaskuläre Ursachen gedacht werden.
- Intrakranielle Tumoren können sich u. a. durch neurologische Ausfälle, Kopfschmerzen und Krampfanfälle äußern. Kopfschmerzen sind allerdings auch unabhängig von Tumoren bei Neurofibromatose häufig.
- Viele Betroffene erkranken an Bluthochdruck. Bei arterieller Hypertonie sollte eine mögliche Nierenarterienstenose oder auch ein Phäochromozytom in Erwägung gezogen werden.2-4,7
Klinische Untersuchung
- Café-au-lait-Flecken
- hellbraune, scharf begrenzte Hautflecken von 0,5–50 cm Größe
- einzelne Café-au-lait-Flecken finden sich bei etwa 10 % der Bevölkerung.
- Bei Neurofibromatose 1 finden sich klassischerweise mindestens 6 Flecken.
- häufig das erste Symptom, Entwicklung innerhalb der ersten 2 Lebensjahre
- zunehmende Größe und Anzahl bei allen betroffenen Patienten
- Sommersprossartige Pigmentierungen in der Achselhöhle und in anderen intertriginöse Arealen wie der Leistengegend (Crowe-Zeichen)
- sehr spezifisches Zeichen
- Entwickelt sich später als die Café-au-lait-Flecken (typischerweise 5.–8. Lebensjahr).
- bei 70 % der Betroffenen
- sehr spezifisches Zeichen
- Neurofibrome
- gutartige Tumoren mit sehr geringem Entartungsrisiko
- meist hautfarbene, weiche Tumoren der Haut oder Unterhaut
- in der Regel breitbasig, gelegentlich auch gestielt
- hauptsächlich an Rumpf und Extremitäten
- Größe von einigen Millimetern bis Zentimetern
- Entwicklung in Jugend und jungem Erwachsenenalter, lebenslange Neubildung
- Juckreiz ist häufig.
- Können auch im Mund im Bereich des Gaumens und der Zunge auftreten (5–10 % der Betroffenen).
- Auch ein Auftreten im Körper ist möglich (z. B. periokulär, im Mediastinum, Retroperitoneum oder Gastrointestinaltrakt).
- Spinale Neurofibrome können zu sensiblen und motorischen Ausfällen führen.
- Plexiforme Neurofibrome
- 30–50 % der Betroffenen
- Entstehen meist innerhalb der ersten 2 Lebensjahre.
- diffuse, längliche Nerventumore entlang des Nervenverlaufs
- Häufig sind der Nervus Trigeminus und zervikale Nerven betroffen.
- maligne Entartung und invasives Wachstum möglich
- 30–50 % der Betroffenen
- Lisch-Knoten
- Benigne, melanozytäre Hamartome der Iris, die sich durch Flecken auf der Iris in der Spaltlampenuntersuchung zeigen.
- 90 % der Betroffenen
- typischerweise um das 5–10. Lebensjahr
- in der Regel asymptomatisch
- Knöcherne Auffälligkeiten
- Dysplasie des Os sphenoidale
- Kyphoskoliose (2 % der Fälle)
- Dysplasie der langen Röhrenknochen, z. B. Pseudoarthrosen von Tibia und Radius (1 % der Fälle)
- Im Allgemeinen besteht ein erhöhtes Frakturrisiko.
- Malignome
- Optikusgliome (15 % der Fälle, meist vor dem 7. Lebensjahr, können sich durch Sehstörungen manifestieren).
- Astrozytome, Schwannome, Glioblastome, maligne periphere Nervenscheidentumore
- Auch Malignome außerhalb des ZNS wie Phäochromozytom, Wilms-Tumor, Rhabdomyosarkom, duodenales Karzinoid, Leukämie, Retinoblastom, gastrointestinaler Stromatumor, Brustkrebs und malignes Melanom sind mit der Neurofibromatose 1 assoziiert.
- Kardiovaskuläre Komorbiditäten
- arterielle Hypertonie
- kongenitale Herzfehler (am häufigsten: Pulmonalarterienstenose)
- Vaskulopathien (u. a. Nierenarterienstenose, Aortenisthmusstenose, arteriovenöse Malformationen)
- Neurokognitive Auffälligkeiten und Entwicklungsverzögerungen (50 % der Fälle)
- Lernschwierigkeiten
- Verhaltensauffälligkeiten
- sprachliche Entwicklungsstörungen
- motorische Defizite und Muskelhypotonie
- Autismus-Spektrum-Störungen
- Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS)2-3,5,7
Ergänzende Untersuchungen
- Genetische Diagnostik
- ggf. zur Bestätigung der Erkrankung (nicht zwingend)
- bei atypischer Manifestation
- im Rahmen der genetischen Beratung
- Ermöglicht keinen Ausschluss zu 100 %.
- Korreliert in der Regel nicht mit der Prognose.
- MRT
- Nachweis von Tumoren im zentralen Nervensystem und Gefäßfehlbildungen
- Screening zum Nachweis intrakranieller Läsionen
- CT
- Kann eine Vielzahl von mit Neurofibromatose assoziierten Tumoren darstellen.
- PET-CT bei Verdacht auf maligne Transformation eines Neurofibroms
- Konventionelle Röntgenbilder
- Können u. a. Defekte im Os sphenoidale zeigen.
- Vergrößerte Foramina intervertebralia sind häufig.
- In langen Knochen können Areale mit verminderter Knochendichte, pathologische Frakturen und Pseudoarthrosen auftreten.
- Neuropsychologische Tests zum Ermitteln von Lernschwierigkeiten, spezifischen Problembereichen und der generellen kognitiven Funktion
- Augenärztliche Untersuchung
- VEP (visuell evozierte Potenziale)
- Ultraschall z. B. Echokardiografie zum Ausschluss kongenitaler Herzfehler2-3,7
Indikationen zur Überweisung
- Bei Verdacht auf Neurofibromatose wird die Überweisung an eine spezialisierte Einrichtung empfohlen.3-4,7
Therapie
Therapieziele
- Es gibt keine kurative Therapie.
- Das Ziel ist es, die Funktionsfähigkeit und Lebensqualität in Bezug auf die verschiedenen Manifestationen der Erkrankung zu erhalten.
- Meist steht die lokale Tumortherapie im Vordergrund.
- Die Behandlung ist komplex.
Allgemeines zur Therapie
- Regelmäßige Verlaufskontrollen zur Evaluierung möglicher Komplikationen
- Wachstumskontrolle bei Kindern
- Evaluierung von neurokognitiver, motorischer und psychosozialer Entwicklung insbesondere bei Kindern
- Blutdruck
- neurologische Untersuchung
- Inspektion der Haut
- augenärztliche Kontrollen
- Untersuchung des Bewegungsapparats
- kardiologische Untersuchung und ggf. Echokardiografie
- ggf. MRT
- Café-au-lait-Flecken bedürfen keiner Therapie. Kosmetische Behandlungen sind möglich falls erforderlich.
- Auch Neurofibrome bedürfen in der Regel keiner Therapie. Sie können chirurgisch behandelt werden, wenn sie Beschwerden verursachen, in ihrer Größe zunehmen oder kosmetisch stören. Rezidive sind möglich.
- Bei plexiformen Neurofibrome kann es zu einer malignen Transformation kommen (8–13 %).
- Verdächtig auf eine maligne Entartung sind zunehmende Beschwerden und eine rasche Größenzunahme.
- Therapeutisch erfolgt, wenn möglich, eine chirurgische Exzision.
- Imatinib und andere Chemotherapeutika können zu einer Größenreduktion führen.
- Therapie der Wahl bei Optikusgliomen ist eine Chemotherapie.
- Andere Tumoren und Malignome werden entsprechend ihrer Ätiologie behandelt.
- Bei neurokognitiven Auffälligkeiten sollte eine Beratung, Unterstützung und ggf. Therapie erfolgen, z. B. durch Kinder- und Jugendpsychologen und -psychiater, Logopäden, Ergotherapeuten, Sonderpädagogen.
- Ophthalmologische Mitbetreuung
- Ggf. Ursachensuche und Behandlung einer arteriellen Hypertonie
- Ggf. kardiologische und angiologische Mitbehandlung bei Auffälligkeiten des Herz-Kreislauf-Systems
- Ggf. orthopädische Mitbehandlung und Physiotherapie
- Aufgrund der Neigung zu Osteopenie und dem erhöhten Frakturrisiko sollte an Lebensstilmaßnahmen wie körperliche Bewegung sowie eine ausreichende Kalzium- und Vitamin-D-Aufnahme gedacht werden.
- Verschiedene medikamentöse Therapien für Neurofibromatose befinden sich in der Erprobungsphase.3-4,7
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
- Die ersten Manifestationen der Neurofibromatose 1 treten bereits in der Kindheit auf und entwickeln sich dann über die nächsten Jahre und Jahrzehnte.
- Durch gezielte klinische Untersuchungen sollte eine Diagnose im 6. Lebensjahr der Betroffenen gestellt werden können.
- Nicht selten wird die Diagnose trotzdem erst im Erwachsenenalter gestellt.
- Der Verlauf der Krankheit lässt sich beim Einzelnen nicht voraussagen.1-4,7
Komplikationen
- Maligne Transformation vor allem bei plexiformen Neurofibromen
- Auftreten anderer Malignome
- Verdrängungssymptome auch bei gutartigen Tumoren, z. B. neurologische Ausfälle und Krampfanfälle
- Schädigung des Sehvermögens bei Optikusgliomen
- Folgeschäden bei kongenitalen Herzfehlern und Vaskulopathien
- Folgeerkrankungen und Komplikationen der arteriellen Hypertonie
- Pathologische Frakturen und orthopädische Komplikationen
- Psychosoziale Probleme2-4,7
Prognose
- Von der Schwere der Ausprägung abhängig, insbesondere in Bezug auf das Auftreten von Malignomen und Deformitäten
- Die Lebenserwartung ist im Vergleich zur Normalbevölkerung bei Neurofibromatose 1 geringer.2-4,7
Patienteninformation
Worüber sollten Sie die Patienten aufklären?
- Über Krankheitsverlauf, Komplikationen, Früherkennungs- und Vorsorgemaßnahmen
- Allen Patienten und Familien mit Neurofibromatose sollte die Beratung durch Spezialisten auf dem Gebiet medizinische Genetik angeboten werden.
Patienteninformationen in Deximed
Patientenverbände
- Bundesverband Neurofibromatose www.bv-nf.de
Illustrationen
Quellen
Kompetenzzentren
- Universitätsklinikum Tübingen: Zentrum für Neurofibromatosen
Literatur
- Lammert M, Friedman JM, Kluwe L, Mautner VF. Prevalence of neurofibromatosis 1 in German children at elementary school enrollment. Arch Dermatol 2005; 141: 71-4. PMID:15655144 jamanetwork.com
- Adil A, Singh AK. Neurofibromatosis Type 1 (Von Recklinghausen). In: StatPearls. Treasure Island (FL): StatPearls Publishing; 2020. PMID: 29083628 www.ncbi.nlm.nih.gov
- Miller DT, Freedenberg D, Schorry E, et al. Health Supervision for Children With Neurofibromatosis Type 1. Pediatrics. 2019;143(5):e20190660. PMID: 31010905 pediatrics.aappublications.org
- Le C, Bedocs PM. Neurofibromatosis. In: StatPearls. Treasure Island (FL): StatPearls Publishing; 2020. PMID: 29083784 www.ncbi.nlm.nih.gov
- Theos A, Korf BR. Pathophysiology of Neurofibromatosis Type 1. Ann Intern Med 2006; 144: 842-49. PMID: 16754926 annals.org
- Orphanet - Krankheiten aufgelistet nach absteigender Prävalenz, Inzidenzen oder Anzahl veröffentlichter Fälle Januar 2020 - N°2. www.orpha.net (6.5.2020). www.orpha.net
- Hirbe AC, Gutmann DH. Neurofibromatosis type 1: a multidisciplinary approach to care. Lancet Neurol. 2014;13(8):834‐843. PMID: 25030515 www.thelancet.com
Autoren
- Anneke Damberg, Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin, Münster
- Kurt Østhuus Krogh, spesialist i barnesykdommer, Norsk Helseinformatikk/ Barne-og ungdomsklinikken, St. Olavs Hospital
- Bjørnar Grenne, PhD, konst. overlege, Klinikk for hjertemedisin, St. Olavs-Hospital, Trondheim
- Espen Dietrichs, professor og avdelingsoverlege, Universitetet i Oslo og Nevrologisk avdeling, Rikshospitalet, Oslo