Definition:Beckenfrakturen werden eingeteilt in Beckenringfrakturen, Sakrumfrakturen, Azetabulumfrakturen und Frakturen eines Schambeinasts (Niedrigenergietraumata bei älteren Menschen).
Häufigkeit:Beckenfrakturen machen etwa 3 % aller Knochenfrakturen aus.
Symptome:Nach einer Verletzung oder einem Sturz liegen Schmerzen im Beckenbereich vor. Häufig handelt es sich um Hochenergietraumata/Polytraumata.
Untersuchung:Es liegen lokale Schmerzen und Druckempfindlichkeit vor, insbesondere beim Gehen. Es sind Ödeme, Ekchymosen, Lazerationen und Deformitäten im Bereich des Beckens/Perineums zu beobachten.
Diagnostik:Die Diagnose kann anhand einer Röntgen-, CT- und MRT-Untersuchung gestellt werden.
Therapie:Die Therapie besteht zunächst in einer Schockprophylaxe und dem Stillen von Blutungen. Stabile Frakturen werden konservativ, instabile operativ behandelt.
Allgemeine Informationen
Definition
Beckenfrakturen entstehen häufig infolge schwerer Hochenergie-/Polytraumata.1-2
pelvine Massenblutung, wie z. B. bei traumatischer Hemipelvektomie oder „Crushverletzungen", nach schwerem Überrolltrauma
Komplextrauma des Beckens bzw. Azetabulums
Frakturen/Luxationsfrakturen mit zusätzlichen peripelvinen Verletzungen des Haut-Muskel-Mantels, des Urogenitalsystems, des Darms, der großen Gefäße und/oder der großen Nervenbahnen
Traumatische Hemipelvektomie
ein- oder beidseitiger Abriss des knöchernen Hemipelvis in Kombination mit der Zerreißung der großen intrapelvinen Nerven- und Gefäßbahnen
Häufigkeit
Beckenfrakturen können in allen Altersgruppen auftreten, die Ätiologie ist bei jüngeren und älteren Menschen jedoch unterschiedlich.
Frauen sind von Beckenfrakturen häufiger betroffen als Männer.
Beckenfrakturen machen etwa 3 % aller Knochenfrakturen aus.
Polytrauma-Patienten weisen zu 20 % Beckenverletzungen auf.
Patienten mit Beckenverletzung sind zu 60 % polytraumatisiert.
Die Häufigkeit der einzelnen Verletzungsarten variiert je nach Verletzungsmechanismus.
laterale Kompression: 50 % der Beckenfrakturen
anteroposteriore Kompression: 20 %
vertikale Verschiebung: 6 %
kombinierte Mechanismen: 20–25 %
Ätiologie und Pathogenese
Junge Patienten
Hochenergietraumata (Verkehrsunfälle und Ähnliches)3
meist Kombination von Verletzungen im vorderen und hinteren Bereich
Ältere Patienten
Niedrigenergietraumata (Sturz aus dem Stand)
mMeist Fraktur im vorderen Bereich, mitunter aber auch dorsale Verletzungen
Bei Verletzungen mit geringer Krafteinwirkung sind grundsätzlich keine schweren Blutungen oder Nervenschäden zu beobachten. Auch das Symptombild ist weniger dramatisch: Häufig fehlen äußere Anzeichen einer Verletzung.
Sie sind dennoch als schwere Verletzungen anzusehen, da sie Personen betreffen, die im Falle einer Immobilisation sehr vulnerabel sind und systemische Komplikationen entwickeln können.
Primär offene Beckenfrakturen: definitionsgemäße direkte Verbindung zwischen dem Knochenbruch und der Haut bzw. Schleimhaut der Vagina oder des Anorektums
Geschlossene Beckenfraktur mit operativ eingelegten Tamponaden zur Blutstillung
Geschlossene Beckenläsion mit dokumentierter Kontamination des Retroperitoneums aufgrund einer intraabdominellen Verletzung
Beckenfrakturen mit alleiniger Läsion von Harnblase oder Urethra sind lediglich als komplex, nicht aber als offen zu bezeichnen.
Hohe Mortalität (ca. 45 %) aufgrund intraabdomineller Begleitverletzungen mit der Gefahr des akuten Blutungstodes sowie der späteren Sepsis.
Bildgebende Diagnostik
Sonografie
Diagnostik von Begleitverletzungen
sofortige Darstellung freier Flüssigkeit im Abdomen
große Gefäße der Beine
Harnblase und Prostata
Hämatome (retroperitoneal)
Röntgenuntersuchung des Beckens und der Hüftgelenke
Diese ist bei Verdacht auf eine Fraktur grundsätzlich durchzuführen. Es ist zu beachten, dass nicht unbedingt Schmerzen vorliegen müssen.
U. U. sind Schrägaufnahmen notwendig, um undislozierte Frakturen der Schambeinäste zu erkennen. Outlet- und Inlet-Aufnahmen und eine seitliche Aufnahme liefern zusätzliche Informationen.
Es ist zu beachten, dass undislozierte Frakturen der Schambeinäste und Oberschenkelhalsfrakturen auf der initialen Röntgenaufnahme schwer zu erkennen sein können.
Röntgenuntersuchung des Os sacrum
Diese ist bei einer Verletzung des Os sacrum oder Schmerzen im dorsalen Bereich indiziert.
Bei undislozierten Frakturen kann die Aufnahme normal aussehen.
CT und MRT
Diese sind bei Polytraumata Bestandteil der Diagnostik3(sequenzieller Einsatz der radiologischen Diagnostik (Ganzkörper-CT, Beckenübersichtsaufnahme a. p., dynamische Untersuchung unter Röntgendurchleuchtung mit dem Bildwandler)
CT und MRT können zudem auch bei Niedrigenergietraumata indiziert sein, bei denen Frakturen bildmorphologisch nur im Bereich des vorderen Beckenrings erkannt werden, zur Diagnostik der häufig zusätzlich vorliegende Fraktur des hinteren Beckenrings.4
Bei Kindern hat die MRT den Vorteil, auch noch nicht ossifizierte Strukturen darzustellen und somit auch hier eine multiplanare Darstellung einer Beckenverletzung zu ermöglichen.1
Angiografie oder Phlebografie
zur Ermittlung der Lokalisation etwaiger Blutungen
Zystografie/Urethrozystografie
insbesondere bei urethralen Blutungen
zur Feststellung etwaiger Harnwegsverletzungen
Indikationen zur Überweisung/Klinikeinweisung
Verletzungen mit geringer Krafteinwirkung
Alle Patienten, bei denen der Verdacht auf eine Fraktur besteht, sind zur radiologischen Diagnostik zu überweisen.
Verletzungen mit hoher Krafteinwirkung
Alle Patienten mit großen/instabilen Beckenfrakturen, Hochenergietrauma, Polytrauma sollen unverzüglich in Arztbegleitung in eine unfallchirurgische Klinik mit möglichst maximaler Versorgungsstufe transportiert werden.
Therapie
Therapieziel
Schmerzlinderung
Stillen von Blutungen und Vermeidung eines Schocks
Reposition und Schaffung optimaler Voraussetzungen für die Heilung der Fraktur
Therapie in der akuten Phase
Schmerzlinderung
Schockprophylaxe und Stillung von Blutungen
Immobilisation und schneller Transport ins Krankenhaus
Konservative Therapie bei stabilen Frakturen, operative Therapie bei instabilen
Prähospitale Therapie
Stabilisation und Immobilisation der Fraktur
Verwendung der verfügbaren Mittel: Stöcke, Sandsäcke, luftgefüllte Schienen und Ähnliches
Sicherung der Atemwege und Verabreichung 100%igen Sauerstoffs (10–12 l/min)
bei Bedarf Atemunterstützung und Infusion von Flüssigkeit (s. u.)
flache Lage oder Hochlagerung der Beine
mechanische Notfallstabilisierung
Hypothermieprophylaxe
geschützter Ort, vorzugsweise ein warmer Raum, Entfernung nasser Kleidung
Reposition
In der Regel nicht indiziert
Bei penetrierenden Verletzungen keine Maßnahmen ergreifen.
Infektionsprophylaxe
bei offenen Frakturen hohes Infektionsrisiko
Abdeckung mit feuchten, sterilen Kompressen, falls der Transport lange dauert.
Evtl. Katheterisierung
bei Verdacht auf eine urethrale Verletzung niemals blindes Legen eines Katheters
Bei Verdacht auf Läsionen in den Harnwegen stets suprapubischen Katheter verwenden.
Leitlinie Polytrauma: Therapie der Beckenfrakturen1
Bei instabilem Beckenring und hämodynamischer Instabilität soll eine mechanische Notfallstabilisierung vorgenommen werden (Pelvic-Binder, Beckenzwinge, Fixateur externe).
Bei persistierender Blutung sollte eine chirurgische Blutstillung und/oder selektive Angiografie mit anschließender Angioembolisation erfolgen.
Bei Kindern und älteren Menschen ist rasches und effektives Handeln erforderlich wegen geringerer Kompensationsmöglichkeiten.
Medikamentöse Therapie
Schmerzlinderung
In der aktuen Phase werden hauptsächlich Narkosemittel eingesetzt.
Die Wahl richtet sich danach, was zur Verfügung steht. Bei Patienten mit beeinträchtigtem Kreislaufzustand ist bei der Schmerzbehandlung Vorsicht geboten.
Die Mittel dürfen nur ansprechbaren Patienten verabreicht werden.
Achtung: Atmung und Kreislauf überwachen!
Morphinsulfat
Betäubungsmittel mit zuverlässiger, vorhersehbarer Wirkung
zusammen mit Naloxon ein ausgezeichnetes Schmerzmittel
Sollte nicht bei Patienten mit niedrigem Blutdruck verabreicht werden.
Ketamin
potentes Analgetikum und Hypnotikum
Fentanyl
Kann bei Patienten mit niedrigem Blutdruck oder instabilem Kreislauf eingesetzt werden.
Wirkung ist von kurzer Dauer, daher mehrmals täglich verabreichen.
Bei schwer verletzten Patienten sollte eine Volumentherapie eingeleitet werden, die bei unkontrollierbaren Blutungen in reduzierter Form durchgeführt werden sollte, um den Kreislauf auf niedrig-stabilem Niveau zu halten und die Blutung nicht zu verstärken.
Bei Traumapatienten soll ein venöser Zugang gelegt werden.
Bei fehlendem Hinweis auf einen Volumenmangel kann auf eine Volumentherapie verzichtet werden.
Zur Volumentherapie bei Traumapatienten sollten Kristalloide eingesetzt werden.
Isotone Kochsalzlösung soll nicht verwendet werden.
Balancierte kristalloide, isotone Vollelektrolytlösungen sollten verwendet werden.
Balancierte Infusionslösungen mit Acetat oder Malat statt Lactat können erwogen werden.
Humanalbumin soll nicht zur präklinischen Volumentherapie herangezogen werden.
Infektionsprophylaxe
Bei offenen Frakturen indiziert; sollte schnell eingeleitet werden, spätestens 3 Stunden nach der Verletzung.
2 g Cefazolin oder 1,5 g Cefuroxim i. v.
Bei Penicillinallergie vom Typ I (Anaphylaxie), bei Cephalosporinallergie oder einer hohen Rate vom Methicillin-resistenten Staphylococcus aureus (MRSA) soll Vancomycin eingesetzt werden.5
Thromboseprophylaxe
Es besteht ein deutlich gesteigerte Thromboserisiko, weswegen auf eine adäquate medikamentöse Prophylaxe geachtet werden sollte.
Verletzungen mit geringer Krafteinwirkung: stabile Frakturen (Typ A) – konservative Therapie
Maßgeblich für die Akuttherapie ist, ob die Patienten infolge der Beckenfraktur hämodynamisch instabil sind.
Instabile oder dislozierte Beckenfrakturen bei Patienten mit instabilem Kreislauf sollten nach Stabilisierung der hämodynamischen Situation (nach 5–8 Tagen) operativ mit einer offenen Reposition und einer internen Osteosynthese (z. B. Plattenosteosynthese, Verschraubung) therapiert werden.
Ein erweitertes Becken führt zu einem erhöhten Beckenvolumen. Das Volumen wird durch einen Beckengurt, einen vorderen Fixateur externe oder einen hinteren Fixateur externe (Beckenzwinge) reduziert. Ein Beckengurt ist leicht und schnell anzulegen, kann jedoch zu Dekubitalgeschwüren führen. Zudem ist er bei lateralen Kompressionen und Azetabulumfrakturen unangenehm.3
Informationen zum Fixateur externe sind im nachfolgenden Abschnitt zu finden.
Sind die Patienten hämodynamisch instabil, obwohl keine Beckenerweiterung vorliegt, ist eine Angiografie mit Coiling der blutenden Gefäße durchzuführen, oder es sind retroperitoneale Tamponaden einzusetzen.
Bei Patienten mit Hämaturie wird ein suprapubischer Katheter gelegt.
Es sollte nicht versucht werden, durch die Urethra zu katheterisieren.
Operation
Besteht der Verdacht auf Blutungen, sind die Patienten umgehend zu operieren, da sie große Mengen Blut in das Abdomen verlieren können.
Ist das Becken erweitert, wird es mithilfe eines Fixateur externe über Stifte in der Crista oder oberhalb des Azetabulums zusammengezogen. Die Beckenzwinge (C-Clamp) ist ein Fixateur externe, der am hinteren Teil des Beckens angebracht wird.
Zur Stillung von Blutungen können über eine Inzision in der Mittellinie sterile Tamponaden in den Raum zwischen dem Peritoneum und dem Becken eingelegt werden.
Bei einer vertikalen Verschiebung einer Beckenhälfte kann eine Strecktherapie erfolgen.
Die endgültige Therapie umfasst entweder keine weiteren operativen Maßnahmen, eine weitere Behandlung mit einem Fixateur externe oder einen offenen Eingriff mit Osteosynthese.
Die Prognose ist von verschiedenen Faktoren abhängig:
Alter: Osteoporotische Verletzungen heilen innerhalb eines Monats, aufgrund der eingeschränkten Mobilität besteht jedoch das Risiko systemischer Komplikationen (Pneumonie).
Größe der bei dem Trauma einwirkenden Kraft
weitere Verletzungen.
Beckenfrakturen stellen bei schweren stumpfen Traumata, etwa bei Autounfällen, eine häufige Todesursache dar.
Die Mortalität und Morbidität von osteoporotischen Insuffizienzfrakturen ist mit denen von Hochrasanztraumen vergleichbar.6-7
Es besteht ein erhöhtes Risiko einer sekudären Arthrose (Hüfte, Iliosacralgelenk).
A.p.-Aufnahme eines gesunden Beckens mit Os sacrum und den Hüftgelenken: 1. Trochanter major, 2. Collum femoris (Oberschenkelhals), 3. Caput femoris (Hüftkopf), 4. Os ilium, 5. Os coccygis, 6. Symphyse, 7. Os ischii
Quellen
Leitlinien
Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie. Polytrauma / Schwerverletzten-Behandlung. AWMF-Leitlinie Nr. 012-019, Stand 2016. www.awmf.org
Literatur
Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie. Polytrauma / Schwerverletzten-Behandlung. AWMF-Leitlinie Nr. 012-019, Stand 2016. www.awmf.org
Russell GV. Pelvic fractures. Medscape, last updated Jan 25, 2016. emedicine.medscape.com
Rice PL Jr, Rudolph M. Pelvic fractures. Emerg Med Clin North Am. 2007 Aug. 25(3):795-802, x.
Fuchs T, Freistühler M, Raschke M. Geriatrische Beckenfrakturen. Orthopädische und Unfallchirurgische Praxis 2013; 2(5): 248-252. DOI:10.3228/oup.2013.0248–0252 www.online-oup.de
Kleber C, Trampuz A. Antibiotikaprophylaxe in der Orthopädie und Unfallchirurgie – was, wann und wie lange applizieren?. OP-Journal 2014; 30: 8-10. doi:10.1055/s-0034-1368332 DOI
Alost T, Waldrop RD. Profile of geriatric pelvic fractures presenting to the emergency department. Am J Emerg Med 1997; 15: 576–578. PMID: 9337365 PubMed
Mears SC, Berry DJ. Outcomes of displaced and nondisplaced pelvic and sacral fractures in elderly adults. J Am Geriatr Soc 2011; 59: 1309–1312. PMID: 21718260 PubMed
Autoren
Sandra Krüger, Dr. med., Fachärztin für Orthopädie, Berlin
Cecilia Rogmark, docent och överläkare, Ortopediska kliniken, Skånes universitetssjukhus, Sverige
Arild Aamodt, overlege/professor, Ortopedisk avdeling, Lovisenberg Sykehus, Oslo
Ingard Løge, spesialist allmennmedisin, universitetslektor, institutt for sammfunsmedisinske fag, NTNU, redaktør NEL
brudd bekken; pelvis fraktur; fraktur bekken; brudd i bekkenet; Bekkenbrudd
L76
Fraktur des Beckens; Beckenringfrakturen; Sakrumfrakturen; Azetabulumfrakturen; Frakturen eines Schambeinasts; Schambeiastfraktur; Fraktur des Os sacrum; Fraktur des Os coccygis; Fraktur des Os ilium; Fraktur des Acetabulums; Fraktur des Os pubis
Fraktur des Beckens
BBB MK 17.04.2023 umfassend revidiert, komplett umgeschrieben und dabei stark gekürzt.
chck go 9.6.
DDD MK 06.02.2018, komplett überarbeitet
Zusammenfassung Definition:Beckenfrakturen werden eingeteilt in Beckenringfrakturen, Sakrumfrakturen, Azetabulumfrakturen und Frakturen eines Schambeinasts (Niedrigenergietraumata bei älteren Menschen).
Orthopädie/Unfallchirurgie
Beckenfraktur
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