Die International Association for the Study of Pain definiert Schmerz als „unangenehme sensorische und emotionale Empfindung, die mit einer tatsächlichen oder potenziellen Gewebeschädigung einhergeht oder wie eine solche Schädigung beschrieben wird“.
Schmerzerleben setzt Bewusstsein und Aufmerksamkeit voraus und ist nie frei von emotionaler Tönung.
Biopsychosoziales Schmerzmodell
Schmerz entsteht durch das Zusammenwirken biologischer und psychosozialer Faktoren.2 Dazu zählen z. B.:
Nozizeption
Aktivierung peripherer sensorischer Nerven durch eine Gewebeschädigung
lokale und systemische metabolische Faktoren, z. B. auf der Ebene von:
Entzündungsmediatoren
Stresshormonen
Immunsystem
Endorphinsystem
Endocannabinoidsystem.
Schmerzmodulation im ZNS (Gate Control) durch:
emotionale Faktoren
Schmerzerwartung und -bewertung
Konditionierung (Schmerzgedächtnis).
Emotionale Faktoren können das Schmerzerleben auf zentralnervöser Ebene verstärken oder dominieren, z. B. Angst, Depression.
Ist in der Regel an erkennbare Auslöser, wie aversive und schädigende äußere Reize oder endogene Prozesse (z. B. Gelenküberdehnung, Entzündung), gekoppelt.
Die Beendigung des exogenen Reizes oder das Abklingen der endogenen Störung geht einher mit dem Abklingen des Schmerzes.
Je nach dominierender Schmerzform und der zugrunde liegenden Erkrankung oder Verletzung können sich die erforderlichen therapeutischen Maßnahmen stark unterscheiden.
Folgende 3 Schmerzarten können entweder einzeln oder kombiniert auftreten:
Durch eine Schädigung peripherer oder zentraler neuronaler Strukturen kommt es zu einer gestörten Weiterleitung oder spontanen Entstehung von Schmerzreizen.
Schmerzqualität: brennend, einschießend, „wie Stromstöße", ziehend, eher heller Charakter
Begleitempfindungen: Dysasthesien, Parästhesien, Hyp- oder Hyperästhesien, Allodynie
durch vollständige oder teilweise Unterbrechung der Nervenleitung, z. B. Amputation
überwiegend zentralnervzentralvenöse Pathogenese
mit pathologischen Umbauvorgängen auf spinaler
und zerebraler Ebene (Neuroplastizität)
Eine Deafferenzierungskomponente kann auch in anderen Schmerzformen enthalten sein, z. B. bei einer Radikulopathie mit partiellem Ausfall von Nervenfasern.
Typ II mit Schädigung des Nervensystems (Kausalgie)
Noziplastische oder somatoforme Schmerzen
Weitgehende Überschneidung der Konzepte „noziplastische“, „somatoforme“, „funktionelle“ oder „idiopathische“ Schmerzen.
Noziplastischer Schmerz nach der Definition der IASP von 2017: „Schmerz, der aus einer veränderten Nozizeption hervorgeht, ohne eindeutigen Nachweis einer bestehenden oder drohenden und periphere Nozizeptoren aktivierenden Gewebeschädigung und ohne Nachweis einer schmerzverursachenden Erkrankung oder Schädigung des somatosensorischen Systems.“6
Somatoform heißt, dass sich keine organische Ursache der Beschwerden finden lässt.
Je mehr Schmerzorte beteiligt sind und je häufiger sie wechseln, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für einen hohen Anteil psychosozialer Faktoren bei der Schmerzentstehung.7
Eine somatoforme Schmerzerkrankung ist ein eigenständiges Krankheitsbild, eine Unterform der somatoformen Störung.
Patient*innen mit somatoformer Schmerzerkrankung stehen meist unter einem hohen Leidensdruck.
Schmerzen können auch als dominierendes Symptom einer anderen psychischen Störung auftreten, z. B.:
Die Schmerzwahrnehmung und -filterung im Gehirn – auch bei eindeutig nozizeptiver oder neuropathischer Schmerzursache – wird immer auch durch emotionale und kognitive Prozesse beeinflusst.2
Die grobe klassifikatorische Trennung zwischen organisch und somatoform (noziplastisch) bedingten Schmerzen kann daher nur pragmatisch begründet werden.
Bei allen Schmerzpatient*innen ist eine integrale, biopsychosoziale Sicht notwendig.
Komplexe psychoneurologische Interaktionen spielen eine entscheidende Rolle bei der Schmerzchronifizierung.2
Diagnostische Schwierigkeiten
Patient*innen, die über Schmerzen berichten, haben in aller Regel Schmerzen.
Selten werden Schmerzen vorgetäuscht oder selbst induziert.
Aggraviert von den Patient*innen dargestellte Schmerzen, etwa bei einem Rentenbegehren, sind oft besonders schwer von Schmerzen hoher Intensität zu unterscheiden.
Nicht alle Patient*innen, die Schmerzen haben, berichten darüber.
Fehleinschätzungen sind z. B. bei beeinträchtigter Kognition und verbaler Kommunikation möglich, etwa infolge einer Demenz.
Nonverbal können sich Schmerz und andere unangenehme Empfindungen, wie Angst, Hunger oder Übelkeit, ähnlich äußern.
Bei Patient*innen mit Demenz können Schmerzen Verhaltensstörungen und psychische Symptome auslösen oder verstärken. Der Schmerz als zugrunde liegende Ursache wird dabei oft übersehen.
Verschiedene Schmerzursachen und Schmerzarten – nozizeptiv, neuropathisch, noziplastisch/somatoform – brauchen jeweils unterschiedliche Therapieansätze.
Eine möglichst sorgfältige diagnostische Abklärung ist daher entscheidend für den Therapieerfolg.
Bei wiederkehrendem und lang anhaltendem Schmerz: Diagnostik interdisziplinär abstimmen.
Grundlage der Diagnostik und der Zuordnung eines bestimmten Schmerztyps zu einem Schmerzmechanismus ist die umfangreiche Erhebung der Anamnese.
Diese ist wichtiger als die körperliche Untersuchung und sehr viel wichtiger als apparative Zusatzuntersuchungen.
Der von den Patient*innen empfundene Schmerz, dessen Charakter und Intensität korrelieren oft nicht mit dem Ausmaß der klinisch und apparativ befundeten Organschäden.
Sie können Patient*innen mit somatoformen Schmerzerkrankungen in ihrer Abwehrhaltung gegenüber psychosozialen Therapieansätzen bestärken und psychophysiologische Chronifizierungsmechanismen begünstigen.
Anamnese
Der gesamte Abschnitt basiert auf dieser Referenz.5
Allgemeines
Patient*in während des Gesprächs beobachten.
Körperhaltung
Passen Bewegungen, Mimik und Gestik zur Schmerzschilderung?
Verändern sich Symptome in Momenten emotionaler Anspannung?
Bei welchen Fragen kommt es zu emotionaler Bewegung?
Wie schwingungsfähig ist die Patient*innen bei der Beschreibung negativer und positiver Erfahrungen?
Beschreibung der Schmerzen
Schmerzlokalisation
Genaue Lokalisation und Ausstrahlung zeigen lassen.
Evtl. in ein Körperschema einzeichnen lassen.
An welcher Stelle sind die Schmerzen am schlimmsten?
Neuralgien können in der Regel von den Betroffenen sehr exakt lokalisiert werden.
Beim zentralen Thalamusschmerz wird entweder ein Körperquadrant oder eine Körperhälfte als schmerzhaft empfunden.
Bei Wurzelkompressionssyndromen kommt es zur typischen Ausstrahlung in die Dermatome des Armes oder Beines.
Es ist nicht immer das ganze Dermatom betroffen.
Ausstrahlung kann z. B. nur bis in die Wade reichen.
Überschreitungen der Dermatomgrenzen sprechen aber in der Regel für eine pseudoradikuläre Ausstrahlung, z. B. Piriformis-Reizsyndrom oder Arthrose der Wirbelgelenke.
Beim CRPS (komplexes radikuläres Schmerzsyndrom) imponiert eine akrale Betonung der Symptome unabhängig vom Ort der primären Läsion.
Bei sympathisch vermittelten Schmerzen kann der Schmerz eine ganze Extremität oder einen Körperquadranten erfassen.
Schmerzen unterschiedlicher und wechselnder Lokalisation
Diffuse Multilokalisation des Schmerzes (Pananalgesie) ist ein charakteristisches Zeichen einer Chronifizierung.
Belastungsabhängig?
Claudicatio intermittens bei PAVK: Schmerzlinderung beim Stehenbleiben („Schaufensterkrankheit“)
Claudicatio spinalis bei Spinalstenose: Schmerzlinderung beim Setzen und bei Anteflexion
Unspezifische Rückenschmerzen verbessern sich meist in Ruhe.
Schmerzdauer
Intermittierender Schmerz
Dauerschmerz?
Kombination?
Zahl der schmerzfreien Tage pro Monat?
vor allem bei Kopfschmerzen ein entscheidendes Kriterium
Bei typischer Neuralgie, z. B. des Trigeminus: nur Sekundenbruchteile dauernde Schmerzattacken (Tic Doloreux)
Neurogene Läsionen: meist Dauerschmerz mit oder ohne zusätzliche Attacken
Tageszeit
Schmerzen im Rahmen entzündlicher und muskulärer Erkrankungen sind nachts häufig weniger quälend als am Tag (Entlastung).
Bei neurogenen Schmerzen ist es umgekehrt.
Nächtliche Schmerzmaxima im Bereich der Wirbelsäule können auch auf Tumoren oder Metastasen hinweisen.
Schmerzbeginn und -entwicklung
Plötzlicher oder schleichender Beginn?
Plötzliche oder allmähliche Verschlimmerung im Laufe der Jahre?
Seit wann ist der Schmerz so stark wie jetzt?
Allmähliche oder plötzliche Veränderungen der Schmerzqualität oder -lokalisation im Verlauf der Erkrankung?
Eine plötzliche Veränderung der Schmerzqualität oder -Ausstrahlung kann ein Alarmzeichen für eine neu eingetretene, möglicherweise gefährliche Schmerzursache sein, z. B. Hirntumor, intrakranielle Blutung, Bandscheibenvorfall, lokale Infektionen, paraneoplastische Schmerzen.
Erkrankungen und Organinsuffizienzen sind bei der medikamentösen Therapie zu berücksichtigen als Kontraindikationen, oder weil sie eine Dosisanpassung oder prophylaktische Maßnahmen erforderlich machen. Zu den relevanten Erkrankungen und Funktionsstörungen zählen z. B.:
Spezifische Angaben zur klinischen Untersuchung siehe die Artikel zur jeweiligen schmerzverursachenden Erkrankung.
Körperliche Untersuchung
orientiert an Beschwerden einschließlich Begleitsymptomen (s. o.) und Voruntersuchungen
Besonders zur diagnostischen Differenzierung zwischen nozizeptiven und neuropathischen Schmerzen ist je nach betroffenem Abschnitt des Nervensystems eine orientierende oder ausführlichere neurologische Untersuchung erforderlich.
eine Erkrankung, die u. U. einer invasiven Therapie bedarf, z. B. ein maligner Tumor.
einen Krankheitsprozess im Gehirn oder Rückenmark.
Maßnahmen und Empfehlungen
Diagnostik bei Spezialist*innen
Neurophysiologische Untersuchung
Durch positiven Befund kann eine Neuropathie bewiesen werden.
Ein negativer Befund schließt diese jedoch nicht aus.
Hautbiopsie
zur Früherkennung einer Nervenschädigung bei bestimmten neurologischen Erkrankungen, z. B. Small-Fiber-Neuropathie (Näheres siehe Artikel Periphere Neuropathien)
bei positivem Befund evtl. auch zur Verlaufskontrolle
Indikationen zur Überweisung
Bei Verdacht auf eine zugrunde liegende Systemerkrankung – Überweisung z. B. an:
Neurolog*in
Endokrinolog*in
Rheumatolog*in
Diabetolog*in
Orthopäd*in.
Wenn eine klare Differenzierung zwischen neuropathischen und nozizeptiven Schmerzen aufgrund des klinischen Bildes nicht gelingt (Neurologie).
Bei fortgeschrittener Chronifizierung: Behandlung im interdisziplinären Team2
verschiedene medizinische Fachrichtungen, z. B. Anästhesie und Neurologie
Spezialist*in für psychische Erkrankungen
ggf. Physiotherapeut*in
evtl. Ergotherapeut*in
Ggf. zur invasiven Diagnostik oder Therapie
Checkliste zur Überweisung
Schmerzen
Zweck der Überweisung
Diagnosesicherung?
Therapie?
Planung des weiteren Vorgehens im interdisziplinären Team?
Anamnese
Dauer und Verlauf? Progression?
Lokalisation, Qualität und Intensität der Schmerzen?
Ausstrahlung?
Veränderung unter Belastung oder mit der Tageszeit?
Begleitsymptome?
Belastungsabhängig?
Schmerzabhängig?
Zeitlicher Zusammenhang mit Medikamenteneinnahme?
Hinweise auf eine Systemerkrankung: onkologisch, neurologisch, endokrinologisch, rheumatisch, psychisch?
Begleit- und Vorerkrankungen, somatisch und psychisch
Vorbehandlungen
medikamentös
nichtmedikamentös
Reha- und Wiedereingliederungsmaßnahmen
biografische und berufliche Situation
Auswirkungen der Schmerzerkrankung
Renten- oder Entschädigungsverfahren?
Perspektive?
Ähnliche Beschwerden bei anderen Familienmitgliedern?
Ziele formulieren, gemeinsam mit den Patient*innen.
Schmerzlinderung, z. B. 30 % Verbesserung auf der Analogskala
Lebensqualität
Funktion
Stimmung
Teilhabe am sozialen Leben, privat und beruflich
Reduktion des Analgetikakonsums
partizipative Entscheidungsfindung
Mit den Patient*innen den möglichen Nutzen und Schaden einer Therapie, z. B. mit Opioiden, im Vergleich zu anderen medikamentösen Therapieoptionen sowie zu nichtmedikamentösen Behandlungsoptionen besprechen.
Strukturierte Patientenführung
regelmäßige Termine zur Verlaufskontrolle und ggf. Therapieanpassung
Nichtmedikamentöse Verfahren
Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.2,5
Aktivierende Maßnahmen, z. B. Gymnastik, Yoga, Pilates, Schwimmen
Einzige Maßnahme, die nachweislich den Verlauf der Arthrose positiv beeinflusst.
Bekannte Migräneauslöser nicht komplett vermeiden, sondern sich schrittweise an kleine Mengen gewöhnen. Beispiele für Auslöser: Rotwein, Hartkäse, Bananen, Nitrat, Glutamat
Organfunktionseinschränkungen und Veränderungen im Metabolismus können besonders bei älteren Patient*innen zu veränderter Wirksamkeit und Verträglichkeit von Analgetika führen.
Ggf. Nieren- und Leberfunktion prüfen.
Individuelle Dosistitration
Start low, go slow!
Davon nur abweichen, wenn eine sofortige Schmerzlinderung bei sehr starken akuten Schmerzen notwendig ist.
Regelmäßige Überwachung möglicher Nebenwirkungen
Absetzversuch, wenn die Schmerzursache nicht mehr vorhanden ist.
Opioide ausschleichend absetzen.
Ausgangsdosis um 10 % pro Tag reduzieren.
Das gilt auch für andere Analgetika nach längerer Behandlung.
Besonders bei anhaltenden Schmerzen:
Retardierte Arzneiformen bevorzugen.
Bedarfsmedikation
schnell resorbierbare, kurz wirksame Präparate nur zum Abfangen akuter und starker Schmerzen und während der Eindosierungsphase
evtl. zur Vermeidung schmerzbedingter Bewegungseinschränkungen, z. B. vor der Krankengymnastik oder dem Umlagern
Wurde sie regelmäßig gebraucht, sollte sie nach Möglichkeit über eine Intensivierung der Dauertherapie wieder reduziert werden.
Sofern sie ausreichend wirksam sind, haben die meisten Medikamente der Stufe 1 Vorteile, z. B. hinsichtlich zentralnervöser Nebenwirkungen, aber je nach individuellem Risikoprofil können auch primär Opioide sinnvoll sein.5
ei gleicher Wirksamkeit ist die nebenwirkungsärmere Therapie vorzuziehen.
Man wird z. B. bei einer gastrointestinalen Blutungsanamnese schon von Beginn anstatt eines Antiphlogistikums ein Opioid bevorzugen, auch dann, wenn z. B. die Intensität oder Ätiologie der Schmerzen primär für die Gabe eines NSAR spricht.
NSAR einschließlich COX-2-Hemmer und Acetylsalicylsäure
Besonders bei entzündlicher Schmerzkomponente nur zur kurzfristgen Behandlung geeignet
möglichst nicht länger als 7 Tage
maximal 4 Wochen
Niedrig dosieren, ggf. in Kombination mit anderen Schmerzmitteln.
Wahrscheinlich die häufigste Ursache für Arzneimittel-Folgeerkrankungen
Kritisch bei:
erhöhtem kardiovaskulärem Risiko
Gerinnungsstörungen
eingeschränkter Nieren- oder Leberfunktion
gastrointestinalen Ulzera.
Leicht unterschiedliches Risikoprofil bei den einzelnen Substanzen11
Das Herzinfarktrisiko scheint unter Diclofenac deutlich höher zu sein als unter Ibuprofen oder Naproxen.
Das gastointestinale Risiko scheint unter Ibuprofen geringer zu sein als unter anderen klassischen NSAR.
PPI reduzieren das Risiko für Magen-, nicht aber für Darmblutungen.
Ab einer eGFR < 30 ml/min oder einem Serumkreatininwert > 2,5 mg/dl sollten weder NSAR noch COX-2-Hemmer verordnet werden.
COX-2-Hemmer
Celecoxib, Parecoxib, Etoricoxib
Die zum Zeitpunkt der Entwicklung dieser Medikamente gehegte Hoffnung, sie seien grundsätzlich magen- oder darmfreundlicher als klassische NSAR, hat sich nicht in vollem Umfang erfüllt.
Das Gesamtrisiko schwerwiegender Nebenwirkungen ist nicht niedriger als bei klassischen NSAR.
Die Verordnungszahlen in Deutschland lagen im Jahr 1990 unter 20 Mio. Tagesdosen und stiegen bis 2012 auf über 140 Mio. an.
Im selben Zeitraum stiegen die gemeldeten Agranulozytosefälle von etwa 10 auf über 50.
23,6 % der Agranulozytosen verliefen tödlich.
Blutbild vor und innerhalb der ersten 7 Tage nach Beginn einer Metamizoltherapie
Wiederholung: alle 1–3 Monate
Aufklärung der behandelten Person und ggf. der Angehörigen und Pflegekräfte über Agranulozytose-Warnzeichen (sofort in ärztliche Behandlung begeben!):13
Fieber
Halsschmerzen
entzündliche Schleimhautveränderungen.
Vorsicht bei intravenöser Applikation
Sehr langsam injizieren oder besser als Kurzinfusion über 30–45 min unter Blutdrucküberwachung.
Die intramuskuläre Injektion (auch im Notfalldienst) ist obsolet.
Sind vor allem für die Behandlung starker bis sehr starker Schmerzen geeignet.
länger als 3 Monate nur nach primärem Ansprechen
Nutzen und Schaden einer Therapie mit opioidhaltigen Analgetika im Vergleich zu anderen medikamentösen und nichtmedikamentösen Behandlungsoptionen mit den Patient*innen besprechen.
Reevaluation bei Wirkungsabnahme:
Krankheitsprogression?
Toleranzentwicklung?
Opioidbedingte Hyperalgesie?
Fehlgebrauch, Missbrauch oder Substanzabhängigkeit?
Ab einer bestimmten Dosis niedrig potenter Opioide nimmt durch weitere Dosiserhöhung nicht die analgetische Wirksamkeit weiter zu, sondern nur noch die Nebenwirkungen.
Eine niedrige Dosis eines hochpotenten Opioids kann besser verträglich sein als eine hohe, vergleichbar analgetisch wirksame Dosis eines niedrigpotenten Opioids.
Eine Kombination von niedrigpotenten (WHO Stufe 2) mit hochpotenten (WHO Stufe 3) Opioiden ist pharmakologisch nicht sinnvoll.
Ist eine Bedarfsmedikation mit einem Opioid erforderlich, dann sollte dafür das Medikament gewählt werden, das bereits als Basismedikation eingesetzt wird.
ggf. Änderung der Basismedikation
Bei der Auswahl eines opioidhaltigen Analgetikums und seiner Applikation berücksichtigen:
Begleiterkrankungen
Kontraindikationen für transdermale Systeme oder eine orale Einnahme
Nebenwirkungsprofil des Opioids
Präferenzen der behandelten Person.
Therapie nach Zeitplan
Therapie nach einem festen Zeitplan, orientiert an der Wirkdauer des verwendeten Präparats
Außer wenn starke Schmerzen schnell gelindert werden sollen, mit niedriger Startdosis beginnen.
bei älteren und multimorbiden Patient*innen evtl. nur 25–50 % der üblichen Startdosis
In Anpassung an die Schmerzsituation ggf. auftitrieren.
Die notwendige Dosierung wird nur durch den Effekt und die Verträglichkeit aus Betroffenensicht bestimmt.
120 mg/d orales Morphinäquivalent nur in Ausnahmefällen überschreiten. Vorher prüfen: Indikation, andere Therapieoptionen, möglicher Missbrauch!
Beendigung eines Therapieversuches
Die Therapie mit opioidhaltigen Analgetika sollte schrittweise beendet werden, wenn in der Einstellungsphase von maximal 12 Wochen
die individuellen Therapieziele aus Sicht der betroffenen und/oder der behandelnden Person nicht erreicht werden oder
wenn nicht ausreichend therapierbare oder nicht tolerierbare Nebenwirkungen auftreten.
Beendigung einer Therapie > 12 Wochen
Die Therapie mit opioidhaltigen Analgetika sollte schrittweise beendet werden, wenn
die individuellen Therapieziele nicht mehr erreicht werden.
aus Sicht der betroffenen und/oder der behandelnden Person nicht ausreichend therapierbare oder nicht tolerierbare Nebenwirkungen auftreten.
die individuellen Therapieziele durch andere medizinische Maßnahmen erreicht sind.
die Patient*innen die rezeptierten opioidhaltigen Analgetika trotz Mitbehandlung durch Suchtspezialist*innen missbräuchlich verwenden.
Laxanzienprophylaxe, ggf. über die gesamte Therapiedauer
Opioidrotation?
Änderung der Darreichungsform?
Laxanzienklassen
osmotisch wirksam: Macrogol als 1. Wahl
antiresorptiv und sekretorisch, z. B. Natriumpicosulfat, Bisacodyl, Sennapräparate
Kombination mit Opioid-Antagonist: z. B. Fixkombination Oxycodon und Naloxon max. 2 x 40 mg/20 mg pro Tag (Naloxon kann in höheren als den zugelassenen Dosierungen den analgetischen Effekt abschwächen)
Antihistaminika, z. B. Diphenhydramin bis zu 50 mg alle 8 Stunden
Neuroleptika, z. B. Haloperidol 0,2–1,0 mg oral alle 8 Stunden oder Levomepromazin 1–5 mg oral (Tropfen) alle 12 Stunden
Prokinetika, z. B. Metoclopramid: 10 mg oral alle 4–6 Stunden (keine Daten zum Nutzen-Risiko-Verhältnis verfügbar; Stand März 2017) oder Domperidon 10 mg alle 8–12 Stunden (Domperidon wirkt nur auf die opioidinduzierte Magenentleerungsstörung, nicht auf die zentralnervös induzierte Übelkeit; cave: Verlängerung der QTc-Zeit mit Risiko Torsade de Pointes!).
Setrone, z. B. Ondansetron 4–8 mg oral alle 12 Stunden
Atemdepression und Bronchospasmus
Können durch folgende Maßnahmen vermieden werden:
Wahl einer niedrigen Anfangsdosis
sorgfältiges Auftitrieren
Komedikation mit zentral wirksamen Arzneistoffen vermeiden, z. B. auch mit Pregabalin oder Gabapentin.
Begleiterkrankungen beachten, z. B. Asthma oder COPD.
Weitergabe von Medikamenten an unberechtigte Personen
Unkontrollierte Medikamenteneinnahmen
Fehlende Bereitschaft oder Unfähigkeit zur Einhaltung des Behandlungsplans
Entzugssyndrome
Um Entzugssymptome zu vermeiden:
Nicht abrupt absetzen, sondern langsam ausschleichen.
„End of Dose Failure“ durch zu lange Dosierungsintervalle vermeiden.
Retardierte Präparate bevorzugen.
Nichtretardierte Opioide nur im Rahmen der Aufdosierungsphase und in Situationen, in denen eine schnelle Linderung akuter, starker Schmerzen nicht mit anderen Mitteln erreicht werden kann.
Sehr schnell resorbierbare bukkale oder transnasale Applikationen sind ausschließlich bei Tumordurchbruchschmerzen vertretbar und außerhalb dieser Indikation nicht zugelassen.
Bei Toleranzentwicklung
Ggf. Dosiserhöhung, Opioidwechsel oder suchtmedizinisch begleiteter Opioidentzug
Nur indiziert, wenn eine stabile Schmerzsituation mit wenigen Schwankungen der Schmerzintensität besteht.
Die transdermale Applikation ist im Prinzip eine parenterale Anwendung und erfordert eine entsprechend hohe Wachsamkeit hinsichtlich der Arzneimittelsicherheit.
Auch nach Entfernen des Pflasters können erhöhte Serumkonzentrationen für 24–48 Stunden persistieren.
Zusätzlich zu den opioidtypischen Nebenwirkungen können Hautreaktionen auftreten.
Weitere Substanzen
Andere zentral wirksame Substanzen, z. B. Hypnotika und Tranquilizer
Vor Beginn einer Opioidtherapie reduzieren oder absetzen.
Laut einer Metaanalyse sprechen Studien moderater Qualität für die Wirksamkeit von Cannabinoiden bei chronischen Schmerzen.17
In der Neufassung 2020 des von der BKK Mobil Oil unterstützten, an der Universität Bremen erarbeiteten Cannabis-Reports18 werden chronische Schmerzen wie bereits in der Vorversion von 2018 unter die denkbaren Indikationen für den Einsatz von Cannabinoiden gezählt. Einschränkend wird dort jedoch auf die umfassende Synthese klinischer Daten hingewiesen, aufgrund derer die im November 2019 publizierte britischen NICE-Leitlinie NG144Cannabinoide19 vom Einsatz der Cannabinoide zur Behandlung chronischer Schmerzen abrät, ausgenommen CBD im Rahmen klinischer Studien.
Eine Metaanalyse der US-amerikanischen Fachgesellschaft für Neurologie (American Academy of Neurology, AAN)20 sowie weiterer systematische Metaanalysen kontrollierter Studien21-22 zeigen eine moderate, aber signifikante Schmerzreduktion
unter Δ9-THC, teilweise in Kombination mit CBD, bei Patient*innen mit:
unter einem synthetischen Cannabinoid bei einem gemischten Kollektiv chronisch neuropathischer Schmerzpatient*innen.
Zwei Studien bei Patient*innen mit diabetischer Neuropathie zeigten keinen signifikanten Unterschied zwischen den analgetischen Effekten von Δ9-THC/CBD und Placebo.23-24
Welchen Stellenwert Cannabinoide in der Behandlung neuropathischer Schmerzen haben, ist kontrovers.
Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie kam in der zuletzt 2019 aktualisierten Version ihrer S2k-Leitlinie zur nicht interventionellen Therapie neuropathischer Schmerzen zu folgenden Schlussfolgerungen:25
„Cannabinoide können zur Therapie neuropathischer Schmerzen jeglicher Ursache nicht empfohlen werden, da ihr Effekt eher gering ausgeprägt ist und die Nebenwirkungsrate hoch ist."
„Nur in Einzelfällen kann bei Versagen anderer Schmerztherapien der Einsatz von Cannabinoiden als Off-Label-Therapie im Rahmen eines multimodalen Schmerztherapiekonzepts erwogen werden.“
Die Zeitschrift arznei-telegramm bewertet die Datenlage zur Wirksamkeit von Cannabinoiden bei chronischen einschließlich neuropathischer Schmerzen weniger positiv als die Autor*innen der oben zitierten Studien26 (Stand Oktober 2017).
In einer 2018 publizierten Meta-Metaanalyse waren 23 systematischen Metaanalysen zu Cannabinoiden in der Schmerztherapie berücksichtigt.27
Insgesamt kamen die Autor*innen zu folgendem Schluss: „Es ist unsicher, ob Cannabinoide schmerzlindernd wirken und wenn überhaupt, dann auf neuropathische Schmerzen und wahrscheinlich mit geringem Nutzen."
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Autor*innen
Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
Marlies Karsch-Völk, Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin, München
WHO-Schmerzschema inklusive Dosierungen Die International Association for the Study of Pain definiert Schmerz als „unangenehme sensorische und emotionale Empfindung, die mit einer tatsächlichen oder potenziellen Gewebeschädigung einhergeht oder wie eine solche Schädigung beschrieben wird“.