Definition:Milde Hypoglykämie: Kann von Patient*in selbstständig durch Kohlenhydrateinnahme therapiert werden. Schwere Hypoglykämie: Patient*in auf Fremdhilfe angewiesen.
Häufigkeit:Bei Typ-1-Diabetes deutlich häufiger als bei Typ-2. Inzidenz schwerer Hypoglykämien 0,1–0,96 Fälle pro Jahr pro Patient*in in Deutschland.
Symptome:Initial autonome Symptome wie Unruhe, Schwitzen, Herzklopfen, Heißhunger. Im Verlauf schwere neurologische Symptome bis Koma möglich.
Therapie:Gabe leicht resorbierbarer Kohlenhydrate, je nach Bewusstseinszustand oral oder i. v. Bei Typ-1-Diabetes ggf. Glukagon i. m. oder s. c.
Allgemeine Informationen
Definition
Einteilung in milde und schwere Hypoglykämie nicht an Blutglukosewerten ausgerichtet, sondern ausschließlich an Fähigkeit zur Selbsttherapie1
Milde Hypoglykämie: Hypoglykämie kann von Patient*in selbständig durch Kohlenhydrateinnahme therapiert werden.
Schwere Hypoglykämie: Patient*in ist bei Therapie der Hypoglykämie auf Fremdhilfe angewiesen.2
Definition einer Hypoglykämie anhand von bestimmten Blutglukosewerten aufgrund der individuell unterschiedlichen Reaktionen bei bestimmten Schwellenwerten problematisch.1
Häufigkeit
Hypoglykämie ist eine häufige Nebenwirkung der Insulintherapie bei Patient*innen mit Typ-1-Diabetes mellitus.2-3
Inzidenz schwerer Hypoglykämien: 0,1–0,96 Fälle pro Jahr pro Patient*in in Deutschland1
bei medikamentös behandeltem Typ-2-Diabetes deutlich seltener
Leichte Hypoglykämien kommen deutlich häufiger als schwere Hypoglykämien vor.
neuroglykopenische Symptome: u. a. Wortfindungsstörungen, Doppelbilder und andere Sehstörungen, Koordinationsschwierigkeiten, Bewusstseinseinschränkung bis Koma, Krämpfe
allgemeines Unwohlsein: Übelkeit, Kopfschmerzen.
niedriger Blutglukosekonzentration
Verbesserung der Symptomatik nach Glukosezufuhr
Differenzialdiagnosen
Erkrankungen, bei denen einen Missverhältnis zwischen Glukose, Insulin, Glukagon, Adrenalin, Kortisol und Wachstumshormonen besteht.
Hypoglykämien sind wichtige, weil potenziell lebensbedrohliche unerwünschte Wirkungen einer Blutglukose senkenden Behandlung.
Auftreten von Hypoglykämien sollte immer wieder erfragt werden, weil sie nicht selten von den Patient*innen als Schwindelgefühl, Kopfschmerzen, Heißhunger, aber auch Übelkeit „übersehen“ werden können.6
Anfängliche Symptome
Unruhe, Schweiß, erhöhter Puls, Herzklopfen, Stimmungsschwankungen und Durst (autonome Symptome)
Im Verlauf zerebrale Symptome
eingeschränktes Bewusstsein, Bewusstlosigkeit, Krampfanfälle und Lähmungen (neuroglykopenische Symptome)
Cave: Abnahme der Symptomatik möglich nach langer Krankheitsdauer, Einnahme nichtselektiver Betablocker, Alkoholgenuss oder niedrigem Blutzuckerspiegel über langen Zeitraum!
Das Gefühl für zu niedrigen Blutzuckerspiegel kann zurückkommen, wenn der Blutzuckerspiegel über einige Wochen konstant über 90 mg/dl (5 mmol/l) gehalten wird.
Phasen mit nächtlicher Hypoglykämie kommen unter Insulintherapie relativ häufig vor und lassen Patient*innen nicht immer erwachen (z. T. kenntlich an reaktiven morgendlichen Hyperglykämien).
Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis
Glukose-Schnelltest
Ggf. Laboruntersuchungen zur Differenzialdiagnostik der Hypoglykämie-Ursache
parallele Messung von Plasmaglukose, Insulin, C‑Peptid, Proinsulin und Ketonen
Messung von Insulin-Autoantikörpern (autoimmunes Insulinsyndrom)
Nachweis von IFG‑2 (paraneoplastische Sekretion)
Indikationen zur Krankenhauseinweisung/Überweisung
Einweisung
fehlendes Ansprechen auf Glukosegabe
Einnahme von Sulfonylharnstoffen (längerfristige Überwachung nötig)
Überweisung an Diabetolog*in
bei rezidivierenden Hypoglykämien zur verbesserten Therapieeinstellung
Überweisung an Endokrinolog*in
bei differenzialdiagnostischen Unklarheiten
Therapie
Therapieziele
Schnelle Feststellung und Behandlung der Hypoglykämie, um das Zentralnervensystem vor irreparablen Schädigungen infolge schwerer, lang anhaltender und/oder wiederholter Hypoglykämie-Episoden zu schützen.
Vermeidung von Hypoglykämien ist eine der größten Herausforderungen bei der Erreichung eines möglichst normnahen Blutglukosespiegels.
Je niedriger der anvisierte Blutglukosebereich ist, desto häufiger treten Hypoglykämien auf!1
Bei einer milden Hypoglykämie (typische Symptome und geringe Blutglukosekonzentration, Selbsttherapie möglich) sollen 15–20 g Kohlenhydrate vorzugsweise in Form von Glukose zugeführt werden.
Diese Maßnahme soll nach 15 min wiederholt werden, wenn die Blutglukosekonzentration weiter gering (50–60 mg/dl [2,8–3,3 mmol/l]) bleibt.
Bei einer schweren Hypoglykämie (Selbsttherapie nicht möglich), bei der die Patient*innen bei Bewusstsein sind, sollen 30 g Kohlenhydrate oral in Form von Glukose verabreicht werden.
Diese Maßnahme soll nach 15 min wiederholt werden, wenn die Blutglukosekonzentration weiter gering (50–60 mg/dl [2,8–3,3 mmol/l]) bleibt.
Bei einer schweren Hypoglykämie (Selbsttherapie nicht möglich), bei der die Patient*innen bewusstlos sind, sollen
mindestens 50 ml 40-prozentige Glukose im Bolus i. v. – oder –
alternativ (wenn intravenöser Zugang nicht verfügbar ist) 1 mg Glukagon i. m. oder s. c. verabreicht werden.
Cave: Sulfonylharnstoffinduzierte Hypoglykämien dürfen nicht mit Glukagon therapiert werden, denn Glukagon führt bei noch funktionierenden Betazellen zur Freisetzung von Insulin mit der Gefahr der Verstärkung der Unterzuckerungen!4
Für alle Hypoglykämien gilt:
Nach erfolgreicher Therapie Mahlzeit oder Snack einnehmen, um wiederkehrende Hypoglykämie zu vermeiden.
Hypoglykämien werden insbesondere bei älteren Menschen häufig nicht erkannt oder fehlinterpretiert bzw. von Betroffenen nicht erkannt (veränderte Hypoglykämiewahrnehmung infolge rezidivierender Hypoglykämien).
Im Fall veränderter Hypoglykämie-Wahrnehmung bzw. nach schweren Hypoglykämien sollen Plasmaglukosespiegel so gehalten werden, dass weitere Hypoglykämien mindestens für einige Wochen vollständig vermieden werden können.
Dadurch kann das Gefühl für Unterzuckerung zurückkommen.
Traubenzucker
In Tablettenform meist schwierig zu verabreichen, löst sich schlecht auf.
Günstiger sind handelsübliche Glukosegels (in verschiedenen Geschmacksrichtungen verfügbar).
Glukose in flüssiger Form (Fruchtsäfte, Cola) wegen der raschen Resorption wirksam, birgt aber das Risiko der Aspiration bei Bewusstseinsstörung.
Bei Acarbosetherapie kann oral nur Traubenzucker (kein Rohrzucker oder andere Di- oder Polysaccharide) eingesetzt werden.
Langwirkende Sulfonylharnstoffe (u. a. Glibenclamid, Glimepirid) können zu schweren und lang anhaltenden (bis zu 72 Stunden rezidivierend) Hypoglykämien führen, die selten auch letal verlaufen können.
Hierbei sind insbesondere Patient*innen mit eingeschränkter glomerulärer Filtrationsrate (eGRF < 60 ml/min) gefährdet.
Daher ist bei Hypoglykämie eine stationäre Aufnahme zur Überwachung empfohlen.
Sulfonylharnstoffinduzierte Hypoglykämien dürfen nicht mit Glukagon therapiert werden, denn Glukagon führt bei noch funktionierenden Betazellen zur Freisetzung von Insulin mit der Gefahr der Verstärkung der Unterzuckerungen.4
Prävention
Bei Menschen mit Diabetes und schweren Hypoglykämien in den letzten Monaten sollte (vorübergehende) eine Anhebung des HbA1c erfolgen.1
Das Risiko einer Hypoglykämie kann durch gute Aufklärung, regelmäßige Verlaufskontrollen und individualisierte Therapie reduziert werden.3
Menschen mit Diabetes und ihre Angehörigen oder primäre Betreuungspersonen sollten über die Anwendung von Glukagonspritze und andere Sofortmaßnahmen bei einer Hypoglykämie aufgeklärt werden.1
Menschen mit Diabetes und einer Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörung sollte eine spezifische strukturierte Schulung angeboten werden.1
Bei schneller Zufuhr leicht resorbierbarer Kohlenhydrate gehen leichte Hypoglykämie-Anfälle in der Regel zurück.
Schwere Hypoglykämie-Anfälle können dramatischeren Verlauf nehmen, wenn nicht schnell Glukose oder Glukagon zugeführt wird.
Komplikationen
Lang anhaltende schwere Hypoglykämie kann zu Hirnschäden, Koma und Tod führen.
Unfälle, Stürze und Frakturen durch Bewusstseinsstörung
Rezidivierende Hypoglykämien, insbesondere bei älteren Menschen, sind mit schlechterem kognitivem Outcome assoziiert.9
Erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse (Myokardinfarkt, Schlaganfall) im ersten Monat nach einer schweren Hypoglykämie.10
Prognose
In der Regel bei milden Symptomen bzw. schneller Intervention gut, aber das Mortalitätsrisiko liegt bei Insulintherapie-assoziierter Hypoglykämie bei 0,2 %!1
Patienteninformationen
Worüber sollten Sie die Patient*innen informieren?
Alle Patient*innen mit Diabetes mellitus, die Insulin spritzen oder Sulfonylharnstoffpräparate einnehmen, über Hypoglykämierisiko sowie Wahrnehmung, Akutbehandlung und Prävention informieren und schulen.
Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG). Therapie des Typ-1-Diabetes. AWMF Leitlinie 057-013. S3, Stand 2018. www.awmf.org
Programm für Nationale VersorgungsLeitlinien. BÄK, KBV, AWMF. Nationale VersorgungsLeitlinie (NVL) Typ-2-Diabetes – Teilpublikation, 2. Auflage. Stand 25.03.2021. www.leitlinien.de
Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG). Diabetes und Straßenverkehr. AWMF-Leitlinie Nr. 057-026. S2e, Stand 2017. www.awmf.org
Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM). Leitlinie: Hausärztliche Risikoberatung zur kardiovaskulären Prävention. S3, Stand 2017. www.degam.de
Literatur
Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG). Therapie des Diabetes mellitus Typ 1. AWMF Leitlinie 057-013. S3. Stand 2018. www.awmf.org
Donnelly LA, Morris AD, Frier BM, et al. Frequency and predictors of hypoglycaemia in Type 1 and insulin-treated Type 2 diabetes: a population-based study. Diabet Med 2005; 22:749. PubMed
Cryer PE, Axelrod L, Grossman AB, et al. Evaluation and management of adult hypoglycemic disorders: an Endocrine Society Clinical Practice Guideline. J Clin Endocrinol Metab 2009; 94:709. PubMed
NVL-Programm von BÄK, KBV, AWMF. Nationale VersorgungsLeitlinie Typ-2-Diabetes: Therapie. AWMF-Leitlinie Nr. nvl-001g, Stand 2013 www.awmf.org
Seaquist ER, Anderson J, Childs B, et al. Hypoglycemia and diabetes: a report of a workgroup of the American Diabetes Association and the Endocrine Society. J Clin Endocrinol Metab 2013; 98:1845. PubMed
Egidi G. Die Neue Nationale Versorgungsleitlinie „Therapie des Typ-2-Diabetes“. Darstellung der wichtigsten Inhalte für die Hausärzteschaft. ZFA | Z Allg Med | 2013; 89 (5) www.degam.de
Treiber G. Nicht-Diabetes-assoziierte Hypoglykämien. Journal für Klinische Endokrinologie und Stoffwechsel 2020; 13: 177-81. link.springer.com
Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG). Diabetes und Straßenverkehr. AWMF-Leitlinie Nr. 057 - 026. S2e. Stand 2017 www.awmf.org
Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM). Leitlinie: Hausärztliche Risikoberatung zur kardiovaskulären Prävention. S3. Stand 2017 www.degam.de
Lo SC, Yang YS, Kornelius E, et al. Early cardiovascular risk and all-cause mortality following an incident of severe hypoglycaemia: A population-based cohort study. Diabetes Obes Metab. 2019. PMID: 30972910. www.ncbi.nlm.nih.gov
Autor*innen
Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung, Innere Medizin, Frankfurt
Caroline Beier, Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin, Hamburg
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
BBB MK 20.04.2021 revidiert, neue NVL.
Revision at 11.12.2015 14:43:44:
German Version
Revision at 11.12.2015 14:22:02:
German Version
CCC MK 03.07.2018, komplett überarbeitet
Definition:Milde Hypoglykämie: Kann von Patient*in selbstständig durch Kohlenhydrateinnahme therapiert werden. Schwere Hypoglykämie: Patient*in auf Fremdhilfe angewiesen.