Definition:Verschiedene Bewegungsstörungen können durch Medikamente, insbesondere neuroaktive Substanzen, verursacht werden.
Häufigkeit:Abhängig von der Medikamentenklasse und der Art der Bewegungsstörung; häufig z. B. bei Pharmakotherapie mit Antipsychotika.
Symptome:Symptome umfassen Hypo- und Hyperkinesien, z. B. Parkinsonoid, Tremor, Chorea, Dystonie, Akathisie.
Befunde:Klinische und ausführliche neurologische Untersuchung mit Augenmerk auf das motorische System (Kraft, Koordination, Körperhaltung, Muskeltonus, Reflexstatus).
Diagnostik:Im Wesentlichen klinische Diagnose im Zusammenhang mit Medikamentenanamnese; zusätzliche Untersuchungen (Labordiagnostik, Bildgebung) zur Differenzialdiagnostik oder bei schwerer Erkrankung, z. B. malignem neuroleptischen Syndrom (MNS).
Therapie:Reduktion der Dosierung oder Absetzen des auslösenden Medikaments; ggf. Wechsel des Medikaments und/oder symptomatische Behandlung der Bewegungsstörung.
Allgemeine Informationen
Definition
Eine arzneimittelinduzierte Bewegungsstörung kann durch eine Reihe verschiedener, meist neuroaktiver, Medikamente verursacht werden und in der klinischen Ausprägung sehr variabel sein.
Eine häufige Ursache ist eine Therapie mit Antipsychotika (Neuroleptika) im Rahmen einer Schizophrenie.1
Nebenwirkungen treten oft in den ersten Tagen und Wochen auf, sind dosisabhängig und meist reversibel bei Dosisreduktion oder Absetzen.
Unterscheidung nach dem zeitlichen Verlauf in akute und chronische Bewegungsstörungen
In den meisten Fällen interagieren die entsprechenden Medikamente mit dem extrapyramidalmotorischen System, das für die unwillkürliche Koordination von Bewegungsabläufen, die nicht über die Pyramidenbahn vermittelt sind, zuständig ist.1-2
Die Folge sind extrapyramidal-motorische Störungen (EPS).1
Nebenwirkungen werden durch einen Antagonismus am Dopaminrezeptor, insbesondere dem D2-Rezeptor, verursacht.1
Die Bewegungsstörungen äußern sich häufig als Störung des Bewegungsausmaßes (Hyper- oder Hypokinesien).
Wichtig sind die Aufklärung vor Beginn einer Therapie über mögliche unerwünschte Wirkungen und die Abfrage von Symptomen während der Therapie mit entsprechenden Medikamenten.1
Der erste Behandlungsschritt besteht meist in der Reduktion oder dem Absetzen des ursächlichen Medikamentes und ggf. einer symptomatischen medikamentösen Behandlung.
Das extrapyramidal-motorische System beschreibt eine Gruppe von Zentren im Großhirn und Hirnstamm sowie die entsprechenden Bahnen im Rückenmark, die an der unwillkürlichen Steuerung von Bewegungsabläufen beteiligt sind.
Die Extrapyramidalmotorik ist z. B. an Stütz- und Haltebewegungen und der Aufrechterhaltung des Spannungszustands der Muskulatur (Tonus) beteiligt.
Es steht damit dem pyramidalen System, das im Wesentlichen willkürliche Motorik über die Pyramidenbahn vermittelt, gegenüber.
Neben Teilen des motorischen Kortex und den Basalganglien sind Kerngebiete im Hirnstamm, z. B. der Nucleus ruber und die Formatio reticularis wichtige Teile des extrapyramidalen Systems.
Die extrapyramidalen Bahnen sind motorische Projektionen im Rückenmark, die nicht in der Pyramidenbahn verlaufen.
Durch Innervation der distalen Muskulatur wird der Tonus der distalen Extremitäten beeinflusst.
Durch Innervation der proximalen Muskulatur werden Massenbewegungen von Rumpf und proximalen Extremitäten koordiniert.
Wesentliche Aufgaben des extrapyramidal-motorischen Systems
Steuerung von Ausmaß, Richtung, Kraft und Geschwindigkeit einer Bewegung (Basalganglien)
Orientierungs-, Ausweich- und Stützbewegungen
aufrechte Körperhaltung
Zielmotorik
Muskeltonus
Erkrankungen, die die Basalganglien betreffen werden häufig als „extrapyramidale Erkrankungen“ bezeichnet.
Neuroanatomisch umstritten, da die Basalganglien ebenso an der pyramidalen Motorik beteiligt sind.2
Im Falle von Antipsychotika entstehen die medikamentös induzierten Bewegungsstörungen als Folge einer hemmenden Wirkung am Dopamin-Rezeptor (D2-Blockade).1
Das Risiko korreliert mit Potenz und Dosis des Medikaments.
Jüngere Patient*innen und Männer sind häufiger betroffen.
Akathisie
Bewegungsunruhe und quälende innere Anspannung
Bewegungsdrang kann generalisiert auftreten, ist aber meist auf die Beine begrenzt (Sitzunruhe).
Typisch sind ein Hin- und Herschaukeln, Aufstehen und Hinsetzen, Trippeln auf der Stelle und dauerndes Übereinanderschlagen der Beine im Sitzen.1
Ursache sind meist klassische Antipsychotika (starker Dopamin-Antagonismus)
bei ca. 20–30 % der Antipsychotika der 1. Generation1
Beginn in den ersten Tagen möglich oder nach Wochen und Monaten der Therapie
Akathisie ist mit einem erhöhtem Risiko von Suizidalität verbunden.1
Spätdyskinesie (tardive Dyskinesien)
Unwillkürliche, stereotype Bewegungsmuster
z. B. orofaziale Kaubewegungen, Schluckautomatismen, Schmatzen, Grimassieren, Zungenbewegungen, Kopfwendungen, beständiges Blinzeln und andere Hyperkinesien
Spätdyskinesien können irreversibel sein.
Ursache sind meist Antipsychotika der 1. Generation.
bei klassischen Antipsychotika Inzidenz von 4–8 % pro Behandlungsjahr1
Für viele Patient*innen subjektiv nicht sehr beeinträchtigend
Reduziert jedoch die Lebensqualität und kann zu Stigmatisierung und sozialen Problemen führen.
Auch spontane Spätdyskinesien ohne antipsychotische Behandlung sind bei Schizophrenie beschrieben.1
Seltenes, aber potenziell lebensbedrohliches Syndrom mit extrapyramidal-motorischen Störungen (v. a. Rigor), Bewusstseinsstörung, autonomer Dysfunktion und CK-Erhöhung
Klinische Charakteristika eines malignen neuroleptischen Syndroms (MNS)1
Einnahme von antidopaminergen Substanzen oder Entzug von Dopamin-Agonisten innerhalb der letzten 72 Stunden
Hyperthermie > 38 °C (mind. 2 Messungen) und starkes Schwitzen
Dokumentation des Vorfalls (z. B. Patientenpass) und Weitergabe an alle Behandler*innen
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
Extrapyramidale Störungen als Nebenwirkungen von Antipsychotika treten meist in den ersten Tagen bis Wochen auf.
dosisabhängig und meist reversibel bei Dosisreduktion, Absetzen oder Wechsel des Medikaments
Spätdyskinesien (tardive Dyskinesie) können noch Monate bis Jahre nach Beginn der medikamentösen Therapie mit Antipsychotika auftreten und mitunter irreversibel sein.
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Autor*innen
Jonas Klaus, Arzt, Freiburg im Breisgau
Die ursprüngliche Version dieses ArtikelArtikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
Definition:Verschiedene Bewegungsstörungen können durch Medikamente, insbesondere neuroaktive Substanzen, verursacht werden. Häufigkeit:Abhängig von der Medikamentenklasse und der Art der Bewegungsstörung; häufig z. B. bei Pharmakotherapie mit Antipsychotika.