Aufgrund der verbesserten Überlebensraten und der zunehmend ambulanten Behandlung sind onkologische Notfallsituationen trotz ihrer relativen Seltenheit auch für die hausärztliche Versorgung relevant.
Zu berücksichtigen ist dabei auch, dass bei einigen Patient*innen der onkologische Notfall die Erstmanifestation eines bis dahin noch nicht bekannten Grundleidens ist.4
Für das weitere Vorgehen in der Notfallsituation sollten die onkologische Gesamtsituation (Art des Leidens, Prognose), aber auch die Wünsche der Betroffenen berücksichtigt werden.5
Bei guter Prognose ist rasches Handeln inklusive der Veranlassung intensivmedizinischer Maßnahmen angezeigt.1
Eine im Einzelfall schwierig abzuschätzende Prognose sollte Maßnahmen nicht verzögern.5
Das Vorliegen eines onkologischen Notfalls schließt die Heilung von der Grunderkrankung nicht aus.6
Insgesamt nimmt die Zahl kritisch kranker Tumorpatient*innen mit prinzipiell notwendiger intensivmedizinischer Versorgung zu.7
In der terminalen Phase einer malignen Erkrankung hingegen kann es sinnvoll sein, nicht mit allen modernen Möglichkeiten zu intervenieren.1
Bei der Versorgung solcher Notfälle steht die Palliation im Vordergrund:6
Symptomlinderung
Verbesserung der Lebensqualität
evtl. Lebensverlängerung.
Metabolische Störungen
Hyperkalzämie
Eine Hyperkalzämie ist die häufigste lebensbedrohliche metabolische Entgleisung bei onkologischen Patient*innen.8
Tritt bei ca. 20 % der Patient*innen mit einer malignen Erkrankung auf.9
Eine ausgeprägte, therapiebedürftige Hyperkalzämie ist aber deutlich seltener.10
Pathophysiologie
am häufigsten (ca. 80 %) durch humorale Störung mit paraneoplastischer Bildung von Parathormon-related Peptid (PTHrP)11
Zweithäufigste Ursache sind osteolytische Metastasen.11
seltener verursacht durch Mehrsekretion von 1,25-Dihydroxycholecalciferol11
inadäquate Produktion von antidiuretischem Hormon durch Tumorgewebe (SIADH = Syndrom der inadäquaten Produktion von antidiuretischem Hormon)
vermehrte renale Rückresorption von Wasser im Sammelrohr mit hypotoner Hyponatriämie6
zur Erhaltung der Normovolämie vermehrte Ausscheidung von Natrium und Wasser mit Verstärkung der Hyponatriämie6
Grunderkrankungen
vor allem kleinzellige Bronchialkarzinome, Karzinome des Gastrointestinal- und des HNO-Bereichs, bei zentralnervöser Metastasierung durch jedes Malignom12
Auch Chemotherapeutika (z. B. Cisplatin, Vincristin, Ifosfamid) können eine erhöhte ADH-Produktion der Hypophyse auslösen.12
Bei Tumorpatient*innen mit normovolämischer Hyponatriämie sollte ein SIADH erwogen werden.4
Im Labor wegweisend sind Hyponatriämie, verminderte Serumosmolalität (< 275 mOsm/kg) sowie erhöhte Harnosmolalität (> 100 mOsm/kg) und erhöhtes Harnnatrium (> 40 mmol/l).12
Therapie
Eine kausale Therapie ist die Behandlung der Tumorerkrankung.
Zur symptomatischen Behandlung langsames Anheben des Natriumspiegels, bei zu schneller Korrektur besteht die Gefahr der zentralen pontinen Myelinolyse.
Hämatologische Störungen
Febrile Neutropenie
Definition
Febrile Neutropenie (FN) ist definiert als Kombination aus:16
einmalig erhöhter oraler Körpertemperaturmessung ≥ 38,3 °C oder anhaltender Temperaturerhöhung ≥ 38,0 °C über einen Zeitraum von 1 h – und –
neutrophilen Granulozyten < 500/μl bzw. < 1.000/μl mit zu erwartendem Abfall auf < 500/μl innerhalb der nächsten 48 h.
Risikostratifizierung vor Chemotherapie und Prophylaxe mit G-CSF
Abhängig vom Risiko durch das spezifische Tumortherapieregime für eine FN und von individuellen Risikofaktoren für FN ergibt sich ggf. die Indikation für eine prophylaktische Gabe von G-CSF (Granulozyten-Kolonie-stimulierende Faktoren).17
Vor der Chemotherapie sollten daher patientenindividuelle Risikofaktoren evaluiert werden.17
Alter > 65 Jahre
niedriger Performancestatus (z. B. Karnofsky-Index)
zunehmendes Risiko für neutropenisches Fieber mit dem Schweregrad und zunehmender Dauer der Neutropenie18
auch bei nur leichtem Fieber lebensbedrohlicher Zustand wegen der Gefahr der raschen Entwicklung einer Sepsis
initial häufig unspezifische Allgemeinveränderungen wie körperliche Schwäche, Gliederschmerzen als Hinweis auf generalisierte Infektion10
Bei einem Großteil der Patient*innen ist kein konkreter Infektfokus nachweisbar.10
Mortalitätsraten bis 18 % für gramnegative und 5 % für grampositive Infektionen19
Knapp die Hälfte der Krebspatient*innen mit Sepsis sind neutropen und/oder St. n. Chemotherapie.20
Diagnostik
Neben der körperlichen Untersuchung sollten durchgeführt werden:16
Blutuntersuchung: (Differenzial-)Blutbild, Nieren- und Leberwerte, Gerinnung, CRP
Der Tiefstwert der Granulozytenzahl tritt überwiegend nach 1–2 Wochen auf, je nach verwendetem Chemotherapeutikum nach 4–42 Tagen.18
Blutkulturen (aerob/anaerob) einschließlich Kulturen aus venösen Kathetern
Urinanalyse und -kultur
Mikroskopie und Kultur von Sputum und Stuhl bei V. a. entsprechenden Fokus
Röntgen-Thorax
evtl. weitere Untersuchungen wie bronchoalveoläre Lavage und CT bei anhaltender Neutropenie/Fieber
Therapie
Rasches Handeln ist entscheidend, Patient*innen mit V. a. febrile Neutropenie sollten umgehend zur weiteren Abklärung und antibiotischen Therapie hospitalisiert werden.
Das Risiko für Komplikationen und damit die Prognose kann stratifiziert werden, z. B. mit dem MASCC-Score.21
Patient*innen mit niedrigem Risiko können z. T. oral antibiotisch behandelt und zeitnah wieder aus der Klinik entlassen werden.16
Eine orale Therapie ist die Alternative vor allem bei hämodynamisch stabilen Patient*innen ohne Organversagen, Pneumonie, Venenkatheterinfektion oder schwerer Weichteilinfektion.22
Patient*innen mit hohem Risiko werden intravenös antibiotisch behandelt.16
Die erste Verabreichung der antibiotischen Therapie sollte innerhalb 1 Stunde nach stationärer Aufnahme erfolgen.16
Hyperviskositätssyndrom
Pathophysiologie
Hohe Konzentration zirkulierender Immunglobuline führt zu erhöhter Viskosität des Blutes und Hypoperfusion.4
Entwicklung meist über Wochen mit Entstehung eines Kollateralkreislaufs, daher besteht in diesen Fällen keine akute Lebensgefahr.5
in seltenen Fällen plötzlicher Verschluss mit intrakraniellem Druckanstieg und Hirnödem5
Streng genommen handelt es sich daher nur bei Patient*innen mit rascher Progredienz der klinischen Symptomatik und schwerem Leidensdruck um eine Notfallsituation.2
seltener Hodgkin-Lymphome, Keimzelltumoren, Thymome oder Metastasen anderer solider Tumoren10
Klinisches Bild
Das klinische Bild zeichnet sich vor allem aus durch:2
Zunahme des Halsumfangs
Schwellung des Gesichts und u. U. auch der Arme
venöse Stauung
Zyanose des Oberkörpers mit Ausbildung von Kollateralen
Zunahme der Beschwerden bei flachem Liegen.
Bei schneller Entstehung mit Hirnödem auch Kopfschmerzen, Vigilanzstörungen
Diagnostik
primär klinische Diagnose
ergänzende Bildgebung mit CT oder MRT zur genauen Beurteilung des Pathomechanismus
Therapie
Behandlung der Grunderkrankung durch Chemotherapie und/oder Bestrahlung
durch Stenting der V. cava komplette Symptomfreiheit innerhalb von 3 Tagen bei 83 % der Betroffenen, partielle Besserung bei 15 % der Patient*innen25
nur selten Indikation zu chirurgischem Vorgehen aufgrund der zumeist begrenzten Lebenserwartung26
Der Evidenzlevel zu den verschiedenen Therapieoptionen ist gering, die Entscheidung ist abhängig von der klinischen Symptomatik, Histologie und Tumorausdehnung, aber auch von den zur Verfügung stehenden Ressourcen und Expertisen.25
Epidurale Rückenmarkskompression
Pathophysiologie
Ein Kompressionssyndrom wird hauptsächlich durch Metastasen verursacht.25
Es gibt 4 mögliche Mechanismen, die zur Kompression der neuronalen Strukturen führen können:25
Tumor in Wirbelkörper oder Bogenwurzeln mit Wachstum in Richtung des Rückenmarks
Tumor, der die mechanische Stabilität der Wirbelsäule zerstört.
intraduraler oder intraspinaler Tumor ohne Beteiligung des Achsenskelettes
Tumorinvasion durch die Foramina intervertebralia.
Ein maligner Perikarderguss ist definiert durch den Nachweis maligner Zellen (in Ergussflüssigkeit, Perikard oder Epikard) in Abgrenzung zum malignomassoziierten Perikarderguss.26
Bei ca. 2/3 der Patient*innen mit Malignom ist der Erguss durch nichtmaligne Ursachen, z. B. Bestrahlung oder opportunistische Infektionen verursacht.29
Bronchoskopie: Möglichkeit zur Biopsie und Intervention
Therapie
Medikamentös: Patient*innen mit nicht heilbarer Krebserkrankung und Atemwegsobstruktion durch den Tumor können zur Linderung von Atemnot mit Kortikosteroiden behandelt werden.32
z. B. 8 mg Dexamethason tgl. morgens für 1 Woche, anschließend schrittweise Reduktion um 2 mg alle 3 Tage bis zur niedrigst möglichen Erhaltungsdosis
Bronchoskopische Intervention: für die interventionelle Akutbehandlung bei mechanischer Atemwegsobstruktion stehen verschiedene Techniken zur Verfügung.
Optionen zur Behandlung der obstruhierenden Raumforderung sind z. B. mechanisches Debridement, thermische Behandlung mit Laser oder Elektrokauter und Kryotherapie.31
Stentimplantation ist eine Option zum Offenhalten der Atemwege ohne direkte Behandlung der Raumforderung31,33
Eine maligne Atemwegsobstruktion stellt einen Risikofaktor für das Versagen einer nichtinvasiven Beatmung dar.34
Dexamethason zur Linderung des Hirndrucks, schrittweise Dosisreduktion sobald wie möglich, weitere Gabe mit niedrigster noch effektiver Dosis17
bei moderaten Beschwerden meist Dosierungen von 4–8 mg/d ausreichend
bei ausgeprägter Symptomatik initial einmalige Dosis von 50–100 mg i. v. unter Magenschutz, für weitere 2–3 Tage 24–32 mg i. v., dann Erhaltungsdosis von 4–8 mg/d p. o.
bei einzelner Hirnmetastase evtl. chirurgische oder stereotaktische radiochirurgische Behandlung5
bei fortgeschrittener Erkrankung bevorzugt Ganzhirnbestrahlung5
entweder zu einer versehentlichen Injektion des Tumortherapeutikums in das Gewebe
oder zu einem Austritt des Tumortherapeutikums aus einem Gefäß in das umliegende Gewebe.
Es handelt sich um eine potenziell schwerwiegende Komplikation mit Gewebeschädigung von lokaler Entzündung bis hin zur Nekrose.17
In schweren Fällen mit Zerstörung von Nerven und Muskulatur ist ein vollständiger Funktionsverlust der betroffenen Extremität bis hin zur Amputation möglich.17
Die Schwere der Paravasatreaktion ist abhängig vom eingesetzten Therapeutikum (Unterscheidung in 3 Klassen:
gewebenekrotisierender Substanztyp, gewebereizender Substanztyp und nicht gewebeschädigender Substanztyp).36
Klinisches Bild
klinischer Verlauf am Beispiel einer Anthrazyklininfusion17
sofort: brennende, stechende Schmerzen mit lokaler Schwellung und Rötung
innerhalb von Stunden: Ödem mit zunehmenden Schmerzen und lokaler Rötung
innerhalb von Tagen: Induration mit Thrombosierung von Kapillaren
nach mehreren Wochen: evtl. weiterhin Schmerzen, Sklerosierungen, Hautatrophien, evtl. Exulzerationen
nach Wochen und Monaten: Stillstand der Ulzerationen, Abheilung beginnt nach ca. 6 Monaten
Dauerschäden: Kontrakturen mit Dauerschmerzen; in Ausnahmefällen Amputation der betroffenen Extremität notwendig
Therapie
Für den Fall eines Paravasats sollte ein Paravasatnotfallset zur Verfügung stehen.17
Mit einer 10-ml-Spritze so viel wie möglich des Paravasats aspirieren, anschließend Kanüle oder Portnadel unter Aspiration entfernen.
Hochlagerung und Ruhigstellung der betroffenen Extremität, Analgesie, Applikation von trockener Kälte oder Wärme
Applikation eines Antidots (falls indiziert, keinesfalls über gleichen Zugang)
Konsultation einer Chirurgin/eines Chirurgen (falls indiziert)
sorgfältige Dokumentation des Paravasats, wiederholte Kontrollen und Dokumentation
keine Okklusivverbände oder Alkoholumschläge
Aufklärung der Patient*innen
Quellen
Leitlinien
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Autor*innen
Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
Ein onkologischer Notfall ist eine lebensbedrohliche Störung, die unmittelbar oder mittelbar mit einer Neubildung in Zusammenhang steht.1
Ohne sofortige Hilfeleistung drohen erhebliche gesundheitliche Schäden oder Tod.2