Definition:Mangel an spezifischen Gerinnungsfaktoren als Folge eines X-chromosomal rezessiven Erbgangs.
Häufigkeit:Im Jahr 2017 waren in Deutschland ca. 4.550 Patient*innen mit Hämophilie in Behandlung. Davon 80–85 % mit Hämophilie A.
Symptome:Spontaneinblutungen in Gelenken, lang andauernde Blutung bei z. B. Zahnextraktion.
Befunde:Bewegungseinschränkungen bei Gelenkblutungen, großflächige Hämatome, teilweise Pseudotumoren durch chronische Einblutungen.
Diagnostik:Laborchemische Bestimmung von INR, Thrombozyten und aPTT (typischerweise verlängert) sowie Aktivität von Faktor VIII und IX.
Therapie:Abhängig vom Schweregrad, häufig Blutungsprophylaxe durch Faktorsubstitution notwendig. Kurative Gentherapie aktuell in Erforschung.
Allgemeine Informationen
Definition
Die Hämophilie ist charakterisiert als ein X-chromosomal-rezessiv vererbter Mangel an spezifischen Gerinnungsfaktoren.1-2
Mangel an Faktor VIII: Hämophilie A
Mangel an Faktor IX: Hämophilie B
Hämophilie A und B sind klinisch nicht voneinander zu unterscheiden.
Die Hämophilie C bezeichnet den extrem seltenen, autosomal-dominant oder autosomal-rezessiv vererbten Faktor-XI-Mangel, der nur mit einer Prävalenz von 1–9 auf 1.000.000 Patient*innen auftritt3 und daher in diesem Artikel nicht weiter thematisiert wird.
Bei der Hämophilie kommt es aufgrund von Defiziten in der sekundären (plasmatischen) Hämostase zu Blutungen.
Die primäre (zelluläre) Hämostase, also die Bildung eines Thrombozyten-Pfropfs, läuft normal ab. Die Stabilisierung des Pfropfs durch Fibrinfäden ist jedoch gestört.
Abfolge der Mechanismen
Nach einem blutigen Trauma kommt es durch Komplexbildung mit dem Gewebsthromboplastin (Tissue Factor) zur Aktivierung des Faktors VII, wodurch letztlich auch der Faktor X zu Faktor Xa aktiviert wird.
Der aktivierte Faktor Xa spaltet Prothrombin, und es entsteht Thrombin, das für die Polymerisation von Fibrin und damit für die Stabilisierung des Thrombus zuständig ist.
Die Aktivierung vom Faktor Xa muss fortlaufend durch die Faktoren VIII und IX verstärkt werden. Bei einem Mangel an Faktor VIII oder IX wird zu wenig Faktor Xa gebildet (aktiviert), um die Hämostase aufrecht zu erhalten.
ICPC-2
B83 Purpura/Gerinnungsstörung
ICD-10
D66 Hereditärer Faktor-VIII-Mangel
Hämophilie A
D67 Hereditärer Faktor-IX-Mangel
Hämophilie B
D68.1 Hereditärer Faktor-XI-Mangel
Hämohilie C
M36.2 Arthropathia haemophilica )
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
Die Familienanamnese ist nicht immer positiv, etwa 30 % haben eine Neumutation.
Bestimmung der Gerinnungsaktivität von Faktor VIII und IX
Indikationen zur Überweisung
Grundsätzlich soll die Behandlung in einem Hämophiliezentrum oder in Zusammenarbeit mit einem solchen Zentrum erfolgen.5
Therapie
Therapieziele
Blutungen und daraus resultierende Komplikationen verhindern.
Allgemeines zur Therapie
Die Behandlungsstrategie ist abhängig vom Schweregrad der Hämophilie.
Als langjährig bewährter Goldstandard der Hämophilie-Therapie gilt momentan noch die regelmäßige Dauerbehandlung (Prophylaxe) mit Infusion von hergestellten Faktorpräparaten.5
Eine frühzeitige Behandlung ist wichtig, um Blutungskomplikationen, wie z. B. die hämophile Arthropathie, zu verhindern.7
Neuartige Therapieansätze streben eine Behandlung der Hämophilie ohne Substitution von Gerinnungsfaktoren an, z. B. durch Faktoranaloga oder durch Suppression natürlicher Antagonisten der Gerinnungskaskade.5
Mehrere Phase-I-Studien zu einer kurativen Gentherapie sind erfolgreich abgeschlossen, aktuell laufen Phase-III-Studien.5
Bei einer milden Hämophilie A stellt Desmopressin eine Therapieoption dar.
Prophylaktische Faktorsubstitution
Bei vielen Patient*innen sind regelmäßige intravenöse Gaben von Gerinnungsfaktoren zur Blutungsprophylaxe notwendig.
Hämophilie A: 25–40 internationale Einheiten (IE)/kg KG 3 × pro Woche5
Für Patient*innen > 12 Jahre sind pegylierte Faktorpräparate mit einer größeren Halbwertszeit zugelassen, mit denen eine effektive Prophylaxe durch einmalige Gabe alle 1–2 Wochen möglich ist.5
Die prophylaktische Faktorsubstitution ist der bedarfsweisen Substitution dabei deutlich bezüglich der Anzahl der Blutungen sowie Gelenkkomplikationen überlegen.8
Antikörper-Therapie
Seit 2018 ist der bispezifische, humanisierte monoklonale Antikörper Emicizumab in Deutschland für Patient*innen mit Hämophilie A zugelassen.5
Übernimmt die Funktion von Faktor VIII, indem ein Arm an Faktor IX und der andere Arm des Antikörpers an Faktor X bindet und Letzteren aktiviert.
Nach Loading-Dose mit Gabe 1 x/Woche über 4 Wochen ist anschließend eine Gabe alle 1–4 Wochen nötig.
Cave: Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) sieht keinen Zusatznutzen!9
Gentherapie
Kurativer Therapieansatz, der intensiv erforscht wird.
Einmalige, 60-minütige Infusion eines rekombinanten Vektors auf Basis des Adeno-assoziierten-Virus mit dem Gen für den jeweils fehlenden Gerinnungsfaktor.5
Eine dauerhafte Genexpression ist in einer ersten Studie über mehrere Jahre erfolgreich nachgewiesen.10
Desmopressin
Die Gabe von Desmopressin (als Infusion oder Nasenspray) führt zur Freisetzung des Willebrand-Faktors, dem Trägerprotein für Faktor VIII, aus dem Endothel und damit auch zur kurzzeitigen Erhöhung der Faktor-VIII-Konzentration im Blut.
Nur bei Patient*innen indiziert, die an milder Hämophilie A leiden und bereits als Responder (Anstieg der Faktor-VIII-Konzentration um mindestens das Zwei- bis Dreifache nach probatorischer Gabe) bekannt sind.11
Einsatz z. B. vor kleinen operativen Eingriffen oder bei hämorrhagischen Traumata
Bei einer langfristigen Behandlung nimmt die Wirkung schnell ab, da sich die Depots im Endothel entleeren.
Empfehlungen für Patient*innen
Verzicht auf ASS
Schadensbegrenzung bei Blutungen
Kompression der Blutungsstelle
Hochlagerung des blutenden Körperteils
Immobilisierung und Kühlung des blutenden Gelenks
Kompression mit elastischer Binde
schnelle Mobilisation nach Blutungsstopp
Gefäßkontrahierende Mittel per Wattebausch bei Schleimhautblutungen
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
Kinder mit schwerer Hämophilie A ohne Blutungsprophylaxe haben im Durchschnitt 17 Blutungen pro Jahr.8
Bei 14,8 % der Patient*innen mit schwerer Hämophilie tritt eine Bewegungseinschränkung der Gelenke und bei 5,8 % eine dauerhafte Behinderung ein.12
Komplikationen
Bildung von Antikörpern gegenüber Faktor VIII oder IX
Häufigste Behandlungskomplikation der schweren Hämophilie bei ca. 30 % der Patient*innen5
insbesondere während der ersten Behandlungszeit im frühen Kindesalter und häufiger bei Hämophilie A als bei Hämophilie B5
Hämarthropathie durch rezidivierende Gelenkblutungen mit Synovitis7
Die Blutabbauprodukte, insbesondere Eisen bzw. Hämosiderin, führen zu einer Entzündungsreaktion mit Proliferation der Synovialzellen.
Die Entzündungsreaktion erhöht die Blutungsneigung und wird unterhalten durch rezidivierende Blutungen.
Typischerweise betroffen sind Knie-, Ellenbogen- und Sprunggelenk.
Die Lebenserwartung bei adäquater Behandlung ist nahezu normal.
Verlaufskontrolle
Die Verlaufskontrollen sollten in Absprache mit dem behandelnden Kompetenzzentrum erfolgen und können ggf. in der hausärztlichen Praxis durchgeführt werden.
Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung e. V. Synovitis bei Hämophilie. AWMF-Leitlinie Nr. 086-005. S2k, Stand 2018. www.awmf.org
Treatment Guidelines Working Group on Behalf of The World Federation Of Hemophilia. Guidelines for the management of hemophilia. Stand 2013. www.pubmed.gov
Orphanet. Goudemand PJ. Faktor XI Mangel, kongenital. Stand 2009. www.orpha.net
Srivastava A, Brewer AK, Mauser-Bunschoten EP, et al. Guidelines for the management of hemophilia. Haemophilia 2013; 19(1): 1-47. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
Miesbach W, Schwäble J, Müller MM, et al. Therapiemöglichkeiten der Hämophilie. Dtsch Arztebl Int 2019; 116: 791-8. www.aerzteblatt.de
Bolton-Maggs PHB, Pasi KJ. Haemophilias A and B. Lancet 2003; 361: 1801-9. PubMed
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Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). [A19-26] Emicizumab (Hämophilie A) - Nutzenbewertung gemäß § 35a SGB V. www.iqwig.de
Nathwani AC, Reiss UM, Tuddenham EGD, et al. Long-term safety and efficacy of factor IX gene therapy in hemophilia B. N Engl J Med 2014; 371(21): 1994-2004. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
Mazepa MA, Monahan PE, Baker JR, et al. Hemophilia Treatment Center Network: Men with severe hemophilia in the United States: birth cohort analysis of a large national database.. Blood 2016; 127(24): 3073-81. ashpublications.org
Autor*innen
Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung, Innere Medizin, Frankfurt
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
blødersykdomD66; HemofiliD67; von willebrandD681 Hereditärer; HämophilieM362
blødersykdom; Hemofili; von willebrand; Hämophilie
blødersykdom; Hemofili; von willebrand; HämophilieB83
Definition:Mangel an spezifischen Gerinnungsfaktoren als Folge eines X-chromosomal rezessiven Erbgangs. Häufigkeit:Im Jahr 2017 waren in Deutschland ca. 4.550 Patient*innen mit Hämophilie in Behandlung. Davon 80–85 % mit Hämophilie A.