Definition:Heterogene Gruppe genetisch bedingter Erkrankungen mit Störung der normalen Hämoglobinbildung durch defekte Synthese einer oder mehrerer Hämoglobinketten. Bezeichnung als Alpha-Thalassämie oder Beta-Thalassämie in Abhängigkeit von den vermindert gebildeten Globinketten.
Häufigkeit:Am häufigsten bei Menschen aus dem Mittelmeerraum, dem Nahen Osten sowie Teilen Afrikas und Asiens (aktuelle und frühere Malariagebiete durch Selektionsvorteil).
Symptome:Abhängig von der Anzahl der betroffenen Gene gibt es eine große Bandbreite zwischen asymptomatischen Genträgernger*innen und Symptomen einer schweren Anämie mit komplexem Krankheitsbild.
Befunde:Abhängig von Art und Schweregrad der ErkrankungBlässe, Ikterus, Hepatosplenomegalie, Zeichen einer endokrinen Störung, Zeichen der Herzinsuffizienz, Wachstumsretardierung, Knochendeformitäten.
Diagnostik:Blutbild, Eisenstatus, Hämoglobinelektrophorese; im EinzefallEinzelfall molekularbiologische Diagnostik.
Therapie:Bei leichten Formen ist keine Therapie notwendig. Transfusionstherapie bei schweren Formen mit Prävention/Behandlung einer Eisenüberladung. Kurative Therapie durch Stammzelltransplantation.
Allgemeine Informationen
Definition
Heterogene Gruppe genetisch bedingter Erkrankungen mit Störung der normalen Hämoglobinbildung durch defekte Synthese einer oder mehrerer Hämoglobinketten.1
Bezeichnung als Alpha-Thalassämie oder Beta-Thalassämie in Abhängigkeit von den einbezogenen Globingenen1
Häufigkeit
Hämoglobinopathien sind die häufigsten monogenen Erbkrankheiten mit ca. 7 % Genträgernger*innen weltweit.2
Davon leben weltweit ca. 200 Mio. Betroffene mit einem Thalassämie-Syndrom.3
Thalassämie ist am häufigsten bei Menschen aus dem Mittelmeerraum, dem Nahen Osten sowie Teilen Afrikas und Asiens.4-5
Das primäre Verbreitungsgebiet ist in Übereinstimmung mit aktuellen und früheren Malariagebieten, da ein Selektionsvorteil aufgrund geringerer Anfälligkeit für Malaria besteht.6
Wachsende Bedeutung für die Hausarztmedizin durch Migration
Ausgehend vom Mittelmeerraum und weiten Teilen Asiens und Afrikas Ausbreitung durch Migration2
In Deutschland über 10 Mio. Menschen mit Bezug zu diesen Regionen7
In weiten Teilen Europas gilt mittlerweile die Einstufung als endemische Erkrankungen.2
In Deutschland gibt es mehr als 600 PatientenPatient*innen mit Beta-Thalassämie major und etwa 150.000 TräTräger*innen der Erkrankung mit milden Symptomen.8
In der deutschen Bevölkerung mitteleuropäischer Abstammung beträgt die Prävalenz der heterozygoten Beta-Thalassämie lediglich 0,01 %.9
Beta-ThalassäThalassämien in Europa mit der größten klinischen Bedeutung10
Ätiologie und Pathogenese
Normale Struktur des Hämoglobins
Ein normes HämoglobinmoleküHämoglobinmolekül besteht aus 4 Globinketten (Heterotetramer), wobei sich die Zusammensetzung im Laufe der Entwicklung ändert.
Etwa 8 Wochen nach Konzeption vor allem Bildung von fetalem HbF (α2γ2)10
Zum Zeitpunkt der Geburt wird die Gamma-Globin-Synthese durch die Beta-Globin-Synthese abgelöst mit Entstehung von adultem Hämoglobin HbA (α2β2)10
Nach der Säuglingszeit ganz überwiegend Produktion von HbA (α2β2) mit ca. 97 %, Anteil von HbA2 (α2δ2) ca. 2,5 %, HbF nur noch minimal.10
Veränderungen bei Thalassämien
Hämoglobinopathien werden grundsätzlich in 2 Gruppen eingeteilt:6,11
Erkrankungen durch qualitative strukturelle Veränderungen des Hämoglobins (veränderte Aminosäurensequenz)
Erkrankungen mit einer quantitativen Beeinträchtigung der Globinkettensynthese (Thalassämien).
ThalassäThalassämien sind genetische Erkrankungen, die durch Mutationen des Alpha- bzw. Beta-Globingens verursacht werden.3
Gene der Alpha- und Beta-Ketten sind chromosomal getrennt lokalisiert, die Gene der Alpha-Globinkette auf Chromosom 11, die Gene der Beta-Globinkette auf Chromosom 16.6
heterozygote GendefektträGendefektträger*innen mit keiner oder leichter Symptomatik2
homozygote Major-Formen mit schweren AnäAnämien und komplexen Krankheiten2
Die Genmutationen der Thalassämien führen zu einer quantitativ verminderten Synthese von strukturell normalen Alpha- bzw. Beta-Globinketten.6
Durch den Mangel entweder an Alpha- oder Beta-Globinketten kommt es zu einer verminderten Produktion von – strukturell normalen – α2β2-HämoglobinmoleküHämoglobinmolekülen und dadurch zur mikrozytären, hypochromen Anämie.6
Zusätzlich Schädigung des Knochenmarks und der Erythropoese durch die überschüssigen Globingegenketten6
Die Schwere des klinischen Bildes ist somit abhängig vom Ausmaß des Ungleichgewichts zwischen Alpha- und Beta-Globinketten.6
Beta-Thalassämien – Einteilung und klinische Präsentation
Beta-Thalassämien werden durch eine oder mehrere Punktmutationen im Beta-Globin-Gen verursacht, über 200 solche Mutationen sind bekannt.12
Die klinische Ausprägung der Beta-Thalassämien hängt von der genetischen Konstellation ab:
jeJe nach Mutation im Beta-Globingen weist dieses eine unterschiedlich ausgeprägte Aktivität auf (β0: keine Aktivität, β+: Restaktivität vorhanden).
Zudem wird die Ausprägung dadurch beeinflusst, ob nur ein oder beide Chromosomen einen thalassämischen Defekt aufweisen.
Es ergibt sich somit eine Vielzahl von möglichen Genotypen; klinisch erfolgt die Einteilung üblicherweise in 3 mögliche Phänotypen: Thalassaemia minor, Thalassaemia intermedia, Thalassaemia major.
evtl. auch nur Mikrozytose und Hypochromie ohne Anämie
symptomfrei oder milde klinische Symptome durch die leichte Anämie
kein Transfusionsbedarf
Milz und Leber sind selten vergrößert.
Thalassaemia intermedia
mittelschwere Verlaufsform ohne primäprimäre, chronische TransfusionsbedüTransfusionsbedürftigkeit
lange Zeit kein Transfusionsbedarf bei Hb ca. 8 g/dl (5 mmol/l)
häufig allerdings Verschlechterung im Verlauf
bei ausgeprägten Formen erste Symptome wie die Hepatosplenomegalie zwischen 2. und 6. Lebensjahr, bei leichteren Formen erst in der Adoleszenz oder als Erwachsene
Die Notwendigkeit einer regelmäßigen Infusionstherapie muss rechtzeitig erkannt werden.
Verdrängungssyndrome durch extramedulläre Erythropoese.
Unbehandelt führt die Erkrankung bereits im Kleinkindalter zum Tod.
Regelmäßige Transfusionstherapie führt zur Eisenüberladung.
Alpha-Thalassämien – Einteilung und klinische Präsentation
Ursache für eine Alpha-Thalassämie ist eine Deletion (partiell oder total) eines oder mehrerer der 4 Gene, die die Alpha-Kettenproduktion regulieren.1,7
Klinisch erfolgt die Einteilung in 4 verschiedene Formen, wobei der Schweregrad mit der Anzahl der vom Aktivitätsverlust betroffenen Gene korreliert.1,7
evtl. ergänzend molekularbiologische Untersuchungen (v. a. bei Alpha-Thalassämien)
Beta-Thalassämien meistens mit typischen Veränderungen bereits in der Hämoglobinelektrophorese, sodass eine molekularbiologische Analyse des Gendefekts nicht notwendig ist.3
Bei Alpha-Thalassämien ist eine molekularbiologische Diagnostik zur genauen Charakterisierung notwendig.3
PatientenPatient*innen mit schweren Formen der Thalassämie sind bereits frühkindlich schwer symptomatisch/behandlungspflichtig und damit für die hausärztliche Abklärung weniger relevant.
Die Mehrzahl der Genträger*innen weist klinisch eine Minorvariante auf und ist asymptomatisch oder wenig symptomatisch.
Bei den mittelschweren Verlaufsformen gibt es ein breites Spektrum an möglichen Symptomen.
Die klinischen Befunde sind abhängig vom Schweregrad der Thalassämie und den damit verbundenen Störungen, insbesondere einer sekundären Hämochromatose:
Schwere Alpha- und Beta-Thalassämien mit auffälligen Veränderungen im Blutausstrich (HbH-Zellen, starke Anisozytose, Poikilozytose, Targetzellen und basophil punktierte Erythrozyten)3
Hämoglobinanalyse
Erfassung der verschiedenen Hämoglobinfraktionen durch Hämoglobinelektrophorese und -chromatografie
Bei Beta-Thalassämie erhöhte Fraktionen von HbF und HbA2
Bei der HbH-Krankheit Nachweis von HbH
Molekulargenetische Untersuchungen
Entscheidend vor allem bei der Abklärung einer Alpha-Thalassämie
Minima- und Minorformen der Alpha-Thalassämie sind nur mit DNA-Analyse sicher zu diagnostizieren.1
Bei der Abklärung der Beta-Thalassämien gehören molekulargenetische Untersuchungen nicht zur Standarddiagnostik, sie sollten nur bei folgenden Indikationen veranlasst werden:13
Diagnostik der „stummen“ Beta-Thalassämie minor
Abgrenzung der Thalassaemia intermedia von Thalassaemia major
im Rahmen von genetischer Beratung und PräPränataldiagnostik.
Indikationen zur Überweisung
Vor allem in folgenden Situationen ist die differenzierte Abklärung einer Thalassämie indiziert:3
ausgeprägte klinische Symptomatik mit V. a. zugrunde liegende Thalassämie
hypochrome, mikrozytäre Anämie nach Ausschluss eines Eisenmangels
vor geplanter Schwangerschaft (bzw. bald nach Konzeption) bei V. a. Thalassämieanlage
Genetische Beratung
Bei Thalassämien sollte eine Familien- bzw. Partnerdiagnostik und eine genetische Beratung angeboten werden.1
Durch die frühzeitige Feststellung einer Trägerschaft kann auch eine überflüssige Eisensubstitution vermieden werden.8
Therapie
Therapieziele
Bei schwerer Thalassämie kurativer Ansatz mit Stammzelltransplantation1
Ein neuer Ansatz besteht aus einer Gentherapie in Kombination mit Stammzelltransplantation.14
Ansonsten symptomatische Therapie mit Bluttransfusionen zur Korrektur einer Anämie und Suppression einer gesteigerten Erythropoese10
Vermeidung oder Behandlung einer Eisenüberladung, die durch Bluttransfusionen oder gesteigerte intestinale Eisenresorption verursacht wird.
Allgemeines zur Therapie
Planung und Durchführung einer Therapie in Zusammenarbeit mit Hämatologenmatolog*innen/hämatologischem Zentrum1
im Verlauf Transfusionsregime analog zu Beta-Thalassämie major
evtl. kurative Therapie durch Stammzelltransplantation
Therapieformen
Stammzelltransplantation
Eine Stammzelltransplantation mit hähämatopoetischen Stammzellen einesvon HLA-identischen FamilienspendersFamilienspender*innen ist derzeit die Therapie der Wahl.13
Bei nichtverwandten SpendernSpender*innen ist eine weitestgehende HLA-Übereinstimmung erforderlich.13,15
Es sind keine vergleichenden Daten für die verschiedenen Formen der allogenen Stammzelltransplantation verfügbar.16
Für die Therapieentscheidung ist die transplantationsassoziierte Morbidität/Mortalität gegen die Folgen einer sekundären Hämochromatose bei symptomatischer Behandlung abzuwägen.13
Transplantation meistens bereits im Kindesalter, bei Erwachsenen erhöhte Komplikationsraten13
Gentherapie
Ein neuer therapeutischer Ansatz besteht in der Durchführung einer Gentherapie.
Es handelt sich um eine autologe Stammzelltransplantation, wobei über Lentiviren eine Transduktion des korrekten Gens auf die Stammzellen durchgeführt wurde.14
Im Juni 2019 wurde die Gentherapie für PatientenPatient*innen > 12 Jahre mit transfusionsabhängiger Beta-Thalassämie durch die EMA zugelassen.17
Transfusionstherapie
Unter Berücksichtigung der klinischen Symptomatik gilt im Allgemeinen ein Hb < 8 g/dl (< 5 mmol/l) als Indikation füfür eine Transfusionstherapie.1
Der Basis-Ziel-Hb beträgt 9–10,5 g/dl (5,6–6,5 mmol/l) für eine Suppression der Erythropoese, der Ziel-Hb nach Transfusion 13–13,5 g/dl (8–8,4 mmol/l).
Patient*innen mit Thalassämia intermedia erhalten oft keine oder nur sporadisch Bluttransfusionen, dennoch kommt es aufgrund gesteigerter Eisenresorption typischerweise zu Lebersiderose (nicht zur Myokardsiderose)18
Ferritin-Werte sind häufig nur leicht erhöht und reflektieren nicht das Ausmaß der Eisenüberladung der Leber.
Lebereisenbestimmung (MRT) sollte erfolgen ab Pubertät alle 2 Jahre sowie bei Serumferritin > 3,3300 mgng/g)ml.
Für die Chelattherapie zur Eisenelimination stehenwerden verschiedene Substanzen zur Verfügungempfohlen:1,1318
Primärtherapie: Deferoxamin (s. c.) oder Deferasirox (oral)19
Multifaktoriell bedingte Osteoporose bei mehr als 50 % der PatientenPatient*innen mit transfusionsbedürftiger Beta-Thalassämie, Beginn ab 3. Lebensjahrzehnt13
Evtl. Biphosphonattherapie, bislang allerdings keine klaren Empfehlungen für Dosierung und Dauer13
Behandlung einer extramedullären Hämatopoese
Außerhalb von Leber und Milz ist ein paraspinales Auftreten mit Myelonkompression möglich.
Notfallmäßige Behandlung mit Laminektomie, mittelfristig mit Radiatio1
Behandlung thrombembolischer Komplikationen
Erhöhtes RiskoRisiko für thrombembolische Ereignisse22
klinisch heterogene Gruppe mit dementsprechend unterschiedlicher Prognose25
Verlauf und Prognose werden wesentlich bestimmt vom Ausmaß der chronischen AnäAnämie und der Hyperplasie der Erythropoese.3
Für die Einschätzung der Prognose sollte die gesamte Krankheitslast (Endokrinopathie, Knochenerkrankung, Thromboembolien, pulmonale Hypertonie, Leberzirrhose/-karzinom) berücksichtigt werden.26
Thalassaemia major
Unbehandelte Kinder versterben frühzeitig bis zum 10 Lebensjahr.2
Früher verstarben über 50 % der PatientenPatient*innen bis zum 35. Lebensjahr.27
in den vergangenen Jahren Rückgang der Mortalität:28-29
bei jüngeren PatientenPatient*innen vor allem durch die Stammzelltransplantation
bei älteren PatientenPatient*innen vor allem durch die bessere Behandlung der Eisenüberladung.28
erste Transplantationen vor über 30 Jahren mit 5-Jahresüberlebensraten13
PatientenPatient*innen können gut an die leichte bis mittelschwere Anämie adaptiert sein, manche aber auch mit deutlich beeinträchtigtem Allgemeinbefinden.1
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AutorenAutor*innen
Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.
Definition:Heterogene Gruppe genetisch bedingter Erkrankungen mit Störung der normalen Hämoglobinbildung durch defekte Synthese einer oder mehrerer Hämoglobinketten. Bezeichnung als Alpha-Thalassämie oder Beta-Thalassämie in Abhängigkeit von den vermindert gebildeten Globinketten.
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