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Intergeschlechtlichkeit, Varianten der Geschlechtsentwicklung

Zusammenfassung

  • Definition:Varianten der biologischen Geschlechtsdeterminierung oder -differenzierung.
  • Häufigkeit:In Deutschland  sind ca. 8.000–10.000 Personen betroffen.
  • Symptome:Die Morphologie der Genitalien lässt keine eindeutige Zuordnung zu männlichem oder weiblichem Geschlecht zu.
  • Befunde:Je nach zugrunde liegender biologischer Konstellation und deren Ausprägung unterschiedliche Untersuchungsbefunde, z. B. unvollständige Entwicklung der Gonaden, verzögerte Pubertät, Ausbildung sekundärer Geschlechtsmerkmale, die im Kontrast zur genitalen Morphologie stehen, Elektrolytverschiebung bei adrenogenitalem Syndrom.
  • Diagnostik:Ausführliche Anamnese einschließlich Informationen zur Schwangerschaft der Mutter und Familienanamnese. Sorgfältige klinische Untersuchung des Genitals einschließlich Sonografie oder MRT. Differenzierte hormonelle Diagnostik in einem qualifizierten Speziallabor; ggf. Gendiagnostik nach richtlinienkonformer genetischer Beratung. Invasive Diagnostik wie Urethrozystoskopie/Vaginoskopie oder Laparoskopie nur in Einzelfällen.
  • Therapie:Nicht alle von Intergeschlechtlichkeit Betroffenen wünschen eine Anpassung ihres Geschlechts durch hormonelle oder chirurgische Maßnahmen. Bei nicht einwilligungsfähigen Personen sind solche Maßnahmen nur bei dringender medizinischer Indikation vertretbar, z. B. bei Harnverhalt oder wiederholten Harnwegsinfekten aufgrund von Harnabflussstörungen. Die psychosoziale Begleitung von Menschen mit Intergeschlechtlichkeit sollten in jedem Fall von qualifizierten Fachkräften durchgeführt oder koordiniert werden.

Allgemeine Informationen

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der gesamte Artikel auf diesen Referenzen.1-5

Definition

  • Intergeschlechtlichkeit/Intersexualität umfasst eine Vielzahl von Varianten der biologischen Geschlechtsdeterminierung oder -differenzierung, durch die das biologische Geschlecht nicht eindeutig als männlich oder weiblich klassifizierbar ist.
    • Dem können Abweichungen unterschiedlicher biologischer Prozesse und anatomischer Strukturen zugrunde liegen:
      • genetisch/chromosomal
      • hormonell
      • genital/gonadal.
  • Synonyme
    • unbestimmtes Geschlecht und Pseudohermaphroditismus (ICD-10 Q56.-)6
    • Varianten der Geschlechtsentwicklung (Disorders of Sex Development, DSD)
      • Betroffene bevorzugen in aller Regel den weniger stigmatisierenden Begriff „Variante“ statt „Störung“, da Störung eine Pathologie impliziert, viele Betroffene aber gar keine Behandlung wünschen.
  • Im weiteren Sinne dazugehörig: (Pseudo-)Hermaphroditismus
    • adrenogenitale Störungen (ICD-10 E25.-)6, einschließlich:
      • adrenaler Pseudohermaphroditismus femininus
      • adrenogenitale Syndrome mit Virilisierung oder Feminisierung, erworben oder durch Nebennierenrindenhyperplasie mit Hormonsynthesestörung infolge angeborenen Enzymmangels
      • heterosexuelle Pseudopubertas praecox feminina
      • isosexuelle Pseudopubertas praecox masculina
      • Macrogenitosomia praecox beim männlichen Geschlecht
      • sexuelle Frühreife bei Nebennierenrindenhyperplasie beim männlichen Geschlecht
      • Virilisierung (bei der Frau).
    • Androgenresistenz-Syndrom (ICD-10 E34.5-)6, einschließlich:
      • Androgen-Insensitivität
      • periphere Hormonrezeptorstörung
      • Pseudohermaphroditismus masculinus mit Androgenresistenz
    • mit näher bezeichneter Chromosomenanomalie (ICD-10 Q96-Q99)6
      • Turner-Syndrom (ICD-10 Q96.-)
      • sonstige Anomalien der Gonosomen bei weiblichem Phänotyp, anderenorts nicht klassifiziert (ICD-10 Q97.-)
      • sonstige Anomalien der Gonosomen bei männlichem Phänotyp, anderenorts nicht klassifiziert (ICD-10 Q98.-) (u. a. Klinefelter-Syndrom)
      • sonstige Chromosomenanomalien, anderenorts nicht klassifiziert (ICD-10 Q99.-) (u. a.  Hermaphroditismus verus mit Karyotyp 46,XX)
  • Abzugrenzen von:6
    • Störungen der Geschlechtsidentität (ICD-10 F64.-)
      • Transsexualismus (ICD-10 F64.0)
      • Transvestitismus unter Beibehaltung beider Geschlechtsrollen (ICD-10 F64.1)
      • Störung der Geschlechtsidentität des Kindesalters (ICD-10 F64.2)
    • psychische Störungen und Verhaltensstörungen in Verbindung mit der sexuellen Entwicklung und Orientierung (ICD-10 F66.-)
      • sexuelle Reifungskrise (ICD-10 F66.0)
      • ichdystone Sexualorientierung (ICD-10 F66.1).

Häufigkeit

  • In Deutschland sind ca. 8.000–10.000 Personen betroffen.
  • Jährlich etwa 150 Neugeborene
  • Ca. 25 % mit weiteren somatischen Entwicklungsvarianten, Fehlbildungen oder Erkrankungen
  • Definierte Chromosomananomalien (ICD-10 Q96-Q99)
    • Klinefelter-Syndrom mit männlichem Phänotyp (z. B. Karyotyp 47,XXY) (ICD-10 Q98.0-4): ca. 1–2 pro 1.000 männlichen Neugeborenen
    • Turner-Syndrom (z. B. Karyotyp 45,X) (ICD-10 Q96.-): ca. 1 pro 2.000–2.700 weiblichen Neugeborenen
  • Viel seltener sind andere Formen von Intergeschlechtlichkeit.

Klinische Leitsymptome

  • Intergeschlechtlichkeit sollte unter folgenden Umständen in Betracht gezogen werden:1
    1. Das äußere Genitale erlaubt keine Zuordnung männlich/weiblich.
    2. Klitorislänge > 0,9 cm bei weiblichem Phänotyp mit posteriorer Fusion der großen Schamlippen oder inguinaler/labialer Resistenz
    3. beidseitiger Hodenhochstand bei männlichen Phänotyp, gestreckte Penislänge < 2,5 cm (Mikropenis), isolierte perinealer Hypospadie oder leichte Hypospadie mit Hodenhochstand
    4. Intergeschlechtlichkeit bei Verwandten (z. B. komplette Androgenresistenz)
    5. Genitalbefund stimmt nicht mit dem pränatalen Karyotyp überein.
    6. kloakale Fehlbildung.

Ätiologie und Pathogenese

  • Intergeschlechtlichkeit verursachende Abweichungen können unterschiedliche Stufen der biologischen Geschlechtsentwicklung zwischen Befruchtung und Abschluss der Embryonalentwicklung betreffen.2
    • Determinierung des chromosomalen Geschlechts bei der Befruchtung
    • normale männliche Geschlechtsentwicklung bei Karyotyp 46,XY
      • Aus den Gonadenanlagen bilden sich Testes mit Sertoli- und Leydig-Zellen.
      • Die Sertoli-Zellen bilden das Anti-Müller-Hormon (AMH), das die Rückbildung der Müller-Gänge induziert.
      • Das von den Leydig-Zellen gebildete Testosteron stößt die Differenzierung der Wolff-Gänge zu Samensträngen, Samenblasen, Nebenhoden und einem Teil der Prostata an.
      • Unter dem Einfluss des Testosteronmetaboliten Dihydrotestosteron bildet sich das äußere männliche Genitale heraus.
    • normale weibliche Geschlechtsentwicklung bei Karyotyp 46,XX
      • Aus den Gonadenanlagen bilden sich Ovarien.
      • Bei Abwesenheit von AMH bilden sich aus den Müller-Gängen Eileiter, Gebärmutter und der obere Teil der Scheide.
      • Unter der ausbleibenden Androgenproduktion bilden sich die Wolff-Gänge zurück.

Klassifikation

Intergeschlechtlichkeit durch Chromosomenaberrationen

  • Klinefelter-Syndrom
  • Turner-Syndrom
  • Andere numerische oder strukturelle Chromosomenaberrationen, z. B.:
    • 45,X/46,XY-Mosaik oder ein 46,XX/46,XY-Chimärismus, die mit einem nicht eindeutig männlichen oder weiblichen Phänotyp einhergehen können.

Bei Karyotyp 46,XY

  • Häufigste Ursachen für Intergeschlechtlichkeit beim männlichen Karyotyp
    • Störungen der Hodenentwicklung
      • komplette und partielle Gonadendysgenesie
      • ovotestikuläre Intersexualität
      • gonadale Regression
    • Störungen der Androgensynthese oder der Androgenwirkung
      • Störungen der Androgenbiosynthese
      • Androgenresistenz (komplett, partiell, minimal)
      • LH/hCG-Rezeptordefekte
  • Beispiele für seltenere Ursachen

Bei Karyotyp 46,XX

  • Häufigste Ursache für Intergeschlechtlichkeit beim weiblichen Karyotyp sind Störungen der Steroidhormonsynthese mit konsekutivem Androgenüberschuss.
    • meist adrenogenitales Syndrom (AGS) aufgrund 21-Hydroxylase-Mangel
  • Beispiele für seltenere Ursachen
    • Störungen der gonadalen Entwicklung
      • Entwicklung von Hoden trotz weiblichem Karyotyp
      • Gonadendysgenesie
      • ovotestikuläre Intersexualität
    • fetaler Androgenexzess
      • evtl. mit begleitender Störung der Hormonproduktion in der Nebennierenrinde
      • evtl. mit begleitender Glukokortikoidresistenz
    • maternaler Androgenexzess, z. B.:
      • Tumoren, die virilisierende Hormone produzieren.
      • Einnahme von Androgenrezeptoragonisten.
    • Störungen der Müller-Gänge
    • Blasenekstrophie

Grundsätze zur Geschlechtszuordnung/-wahl

  • Die Findung der eigenen sexuellen Identität braucht bei Menschen mit Intergeschlechtlichkeit oft besonders viel Zeit und einen sehr sensiblen Umgang seitens des damit befassten medizinischen Personals.
    • Betroffenen fällt die eigene Zuordnung zu einem Geschlecht oft schwer.
    • Laut Personenstandgesetz kann die Geschlechtszuordnung auf Wunsch der betroffenen Person freigelassen werden.
  • Medizinisch nicht notwendige Behandlungen mit dem Ziel einer Geschlechtsanpassung sollten erst zu einem Zeitpunkt durchgeführt werden, zu dem die betroffene Person in die Entscheidung mit einbezogen werden kann.
    • Die Annahme, dass man durch die chirurgische und hormonelle Angleichung eines Kindes an ein Geschlecht eine eindeutige Geschlechtsidentität in die Wege leiten könne, gilt heute als überholt.
      • Viele Betroffene erleben sich trotz Geschlechtsangleichung als intersexuell.
      • Viele Betroffene, bei denen eine operative Anpassung an ein Geschlecht bereits zu einem frühen Zeitpunkt, etwa im Neugeborenenalter, vorgenommen wurde, erleben das nachträglich als schwerwiegende Verletzung ihrer sexuellen Selbstbestimmung und körperlichen Unversehrtheit, besonders dann, wenn sie gerne eine andere Wahl bezüglich ihrer Geschlechtszuordnung getroffen hätten.
  • Auch die Erziehung sollte flexibel sein und das Kind nicht in ein bestimmtes Geschlechtsrollenverhalten zwängen.
  • Kinder sollten altersgemäß sensibel und verständnisvoll aufgeklärt werden. Auch die Eltern der betroffenen Kinder bedürfen der Beratung und Anleitung durch Ärzt*innen oder Psycholog*innen, die in den Belangen der Intergeschlechtlichkeit geschult sind.

Diagnostik

Leitlinie: Diagnostik1

  • Nach Erkennung einer Intergeschlechtlichkeit soll die weiterführende Diagnostik in einem Kompetenzzentrum mit einem multidisziplinären Team erfolgen.
  • Anamnese
    1. Anwendung von Substanzen mit androgenen/östrogenen Wirkungen während der Schwangerschaft
      • Anabolika
      • Androgene
      • Östrogene
      • Gestagene
      • weitere Medikamente
    2. Virilisierung der Mutter während der Schwangerschaft
      • Schwangerschaftsluteom
      • plazentarer Aromatasemangel
      • hereditärer Aromatasemangel
    3. Familienstammbaum, z. B.:
      • Blutsverwandtschaft der Eltern
      • Intergeschlechtlichkeit in der Familie
      • ggf. unfreiwillige Kinderlosigkeit
      • Art der Zeugung (z. B. IVF).
  • Klinische Untersuchung
    • Die ausführliche Untersuchung soll eine strukturierte Darstellung der phänotypischen Parameter des äußeren Genitale und assoziierter Fehlbildungen beinhalten.
    • Alle Befunde sollen mindestens 30 Jahre aufbewahrt werden.
  • Bildgebung
    • Im Rahmen der Bildgebung sollen die anatomisch-morphologischen Gegebenheiten sorgfältig dargestellt werden. Nichtinvasive Verfahren wie Sonografie und MRT sollen bevorzugt werden.
  • Hormonelle Diagnostik
    • Besteht bereits bei Geburt ein nicht eindeutig männlich oder weiblich geprägtes Genitale, soll unmittelbar eine differenzierte hormonelle Diagnostik erfolgen.
    • Wenn möglich, sollen Serum und Urin für weiterführende Hormonanalysen asserviert werden.
    • Zur weiteren Differenzierung der Intergeschlechtlichkeit sollen folgende Basalwerte bestimmt werden:
      • Kortisol
      • Östradiol
      • Androstendion
      • Testosteron
      • Dihydrotestosteron.
    • Die Analyse von Steroidhormonen soll in einem qualifizierten Speziallabor durchgeführt werden.
  • Gendiagnostik
    • Bei genetischen Untersuchungen zur Abklärung einer Intergeschlechtlichkeit sollen die Bestimmungen des Gendiagnostikgesetzes berücksichtigt werden.
    • Es soll eine schriftliche Einwilligungserklärung nach Beratung und Aufklärung unter Berücksichtigung der Situation bei nichteinwilligungsfähigen Betroffenen vorliegen.
    • zytogenetische Untersuchungen
      • Bei Verdacht auf Intergeschlechtlichkeit soll eine Chromosomenanalyse als Basisdiagnostik durchgeführt werden.
      • Bei bestimmten Fragestellungen sollen molekularzytogenetische Untersuchungen oder eine molekulare Karyotypisierung durchgeführt werden.
    • Bei der genetischen Beratung sollen die Möglichkeiten, Grenzen und evtl. Probleme dieser Untersuchungsmethoden erläutert werden.
    • Bei Intergeschlechtlichkeit soll den Betroffenen (bei Einsichtsfähigkeit), den Eltern und bei Einwilligung der Betroffenen oder ihrer Stellvertreter*innen weiteren Verwandten eine genetische Beratung angeboten werden.
  • Invasive Diagnostik
    • Urethrozystoskopie/Vaginoskopie in Narkose mit Bilddokumentation
      • Kann erfolgen, um zu einer eindeutigen Klärung der anatomischen Gegebenheiten des Genitales zu kommen, wenn alle anderen nichtinvasiven Methoden vorher ausgeschöpft wurden und zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis geführt haben.
    • Laparoskopie
      • Kann zur Klärung der Situation der Gonaden und der inneren Geschlechtsorgane durchgeführt werden, wenn Nutzen und Risiko in einem angemessenen Verhältnis stehen.
      • Therapeutische Maßnahmen, die in gleicher Sitzung erfolgen können (z. B. Verlagerung von Bauchhoden in die Inguinalregion) sollen den Eltern oder den einwilligungsfähigen Betroffenen im Vorfeld genau erläutert werden und bedürfen der Einwilligung.
  • Frühzeitiger Ausschluss dringend behandlungsbedürftiger Erkrankungen, z. B. Elektrolytentgleisung bei AGS 
  • Klinische Untersuchung mit detaillierter Dokumentation von Morphologie des Genitales und ggf. assoziierten Fehlbildungen2
    • diskretes und respektvolles Vorgehen beim Fotografieren des Genitales3
      • Menschen mit Intergeschlechtlichkeit − besonders ab der Pubertät, aber auch oft schon im Kindesalter − haben häufig ein ausgeprägtes Schamgefühl in Bezug auf ihre Genitalien.
      • Das vorherige Fragen um Einverständnis und das Erklären, wofür die Fotos verwendet werden, sollten selbstverständlich sein.
  • Bildgebende Diagnostik2
    • Sonografie
    • ggf. MRT
  • Hormonelle Diagnostik im Speziallabor2
  • Nach richtlinienkonformer genetischer Beratung: ggf. Karyotypisierung und weitere Gendiagnostik2
  • Nur in ausgewählten Fällen (invasive Diagnostik nach Möglichkeit vermeiden):2
    • Laparoskopie
    • Urethrozystoskopie.

Therapie

Leitlinie: Beratung und ggf. Therapie1

  • Ziel: Betroffene darin unterstützen, eine möglichst gute Lebensqualität und Akzeptanz ihres Körpers zu erreichen.
  • Setting: In einem Kompetenzzentrum interdisziplinär mit Vertreter*innen aller beteiligten medizinischen und psychosozialen Fachbereiche
    • Auf qualifizierte Peer-Beratung und Selbsthilfegruppen hinweisen, ggf. Kontakte vermitteln.
  • Rechte und Pflichten der Eltern beachten, im Interesse ihres Kindes zu handeln, und das Recht des nicht selbstbestimmungsfähigen Kindes auf Partizipation an der Entscheidung sowie des selbstbestimmungsfähigen Kindes auf Selbstbestimmung.
    • Die Eltern sollen im Gesamtprozess in die Lage versetzt werden, ihr Kind als einzigartiges Individuum zu akzeptieren und in diesem Bewusstsein in seinem Interesse zu handeln und zu entscheiden.
  • Alle erhobenen Befunde und die daraus möglichen, ggf. auch verschiedenen Empfehlungen sollen den Eltern und dem einsichtsfähigen Kind in verständlicher Weise vermittelt werden.
    • Dies soll mehrfach erfolgen und entsprechend dokumentiert werden.
    • Entsprechend der gültigen Patientenrechte ist den Eltern oder der betroffenen Person eine Kopie der Gesprächsdokumentation auszuhändigen.
  • Mit zunehmender Einsichtsfähigkeit soll das Kind altersgemäß, retro- und prospektiv über seine individuelle somatische Situation durch die behandelnden Ärzt*innen aufgeklärt werden und in die Entscheidungsfindung einbezogen werden.
  • Die rechtliche Situation der Geschlechtszuweisung weiblich/ männlich/offen soll den Eltern dargelegt werden.
  • Medikamente
    • Eine Behandlung mit Sexualhormonen kann notwendig werden, wenn die eigenen Gonaden keine oder ungenügend Hormone produzieren oder die Gonaden aus medizinisch besonders schwerwiegenden Gründen entfernt wurden.
    • Bei der Wahl der Hormon(ersatz)therapie soll maßgeblich der Wunsch der Betroffenen nach deren weiterer Entwicklung im Vordergrund stehen.
      • Die Therapie soll individuell erfolgen.
    • Der Zeitpunkt des Beginns und die Art der Hormon(ersatz)therapie sollen individuell gewählt werden.
    • Kommt es zu Beginn der Pubertätsentwicklung durch die körpereigene Produktion von Sexualhormonen zu einer diskordanten Entwicklung von Phänotyp und der bisherigen Geschlechtsrolle, kann dieser Vorgang durch die Gabe eines GnRh-Analogons unterbrochen werden, sodass die Betroffenen Zeit gewinnen, um in Ruhe über die weitere Geschlechtsidentität nachzudenken.
  • Operationen
    • Die Indikation zu operativen Eingriffen beim nichteinwilligungsfähigen Kind soll immer restriktiv gestellt werden.
      • Die Sorgeberechtigten können nur für solche Eingriffe beim nichteinwilligungsfähigen Kind einwilligen, die einer medizinischen Indikation unterliegen und nachfolgenden Schaden vom Kind abwenden.
      • Außer in Notfallsituationen ist die medizinische Indikation in einem Kompetenzzentrum nach adäquater Diagnostik zu stellen.
    • Wenn operative Maßnahmen erfolgen, sollen diese nur durch qualifizierte Operateur*innen durchgeführt werden, die mit einem Kompetenzzentrum zusammenarbeiten.
    • Betroffenen, die sich einer operativen Maßnahme unterzogen haben, soll eine langfristige Nachbetreuung angeboten werden, die die Möglichkeit einer Transition einschließen kann.
      • Es soll die Möglichkeit bestehen, sich in regelmäßigen Abständen oder beim Auftreten von Problemen wiederholt bei den Operateur*innen oder anderen gewünschten Spezialist*innen vorzustellen.

Aktuelle Therapiegrundsätze

  • Die Therapie sollte in einem spezialisierten interdisziplinären Zentrum durchgeführt werden.
  • Aufgrund fehlender umfassender Wirksamkeitsbelege finden derzeit in der Behandlung individuelle Lösungen Anwendung.

Medikamentöse Therapie

  • Es gibt keine auf Wirksamkeitsbelege gestützte Empfehlung für die Hormontherapie bei Intergeschlechtlichkeit, sodass jeweils eine individuelle Therapieentscheidung erforderlich ist.
  • Bei Neugeborenen nur bei begleitender Nebennierenrindeninsuffizienz angezeigt
  • Bei Gonadeninsuffizienz oder Verlust der Keimdrüsenanlagen
    • Sexualhormonsubstitution ab der Pubertät
      • bei entsprechendem Wunsch der betroffenen Person zur Induktion einer altersgemäßen Entwicklung von Geschlechtsmerkmalen
      • längerfristig zur Prophylaxe somatischer Folgeerkrankungen wie Osteoporose

Chirurgische Therapie

  • Bei nichteinwilligungsfähigen Kindern nur bei dringender medizinischer Indikation zulässig, z. B.:
  • Rechtslage seit 22. Mai 2021 (Inkrafttreten des Gesetzes zum Schutz von Kindern vor geschlechtsverändernden operativen Eingriffen)7
    • Behandlungen von einwilligungsunfähigen Kindern sind verboten, wenn dies allein in der Absicht erfolgen sollen, das körperliche Erscheinungsbild des Kindes an das des männlichen oder weiblichen Geschlechts anzugleichen.
    • Operative Eingriffe mit einer solchen Folge sind nur möglich, wenn sie nicht bis zu einer selbstbestimmten Entscheidung des Kindes aufgeschoben werden können.
    • In der Regel ist eine familiengerichtliche Genehmigung dieser operativen Eingriffe erforderlich, dabei wird das Kindeswohl geprüft.
    • Dabei kann in einem vereinfachten Verfahren entschieden werden, wenn eine interdisziplinäre Kommission den Eingriff befürwortet hat.
  • Wünscht die betroffene Person eine operative Anpassung ihres Geschlechts, dann kommen folgende Eingriffe infrage:
    • Maskulinisierungsoperation
      • Aufrichtung des Phallus
      • Harnröhrenrekonstruktion
    • Feminisierungsoperation
      • Klitorisreduktionsplastik
      • Labienplastik
      • ggf. Vaginalplastik.
  • Bei erhöhtem Tumorrisiko (s. u.) ist ggf. eine Entfernung der Gonaden zu erwägen.

Tumorrisiko

Leitlinie: Tumorrisiko und Behandlungsempfehlungen1

  • Die Indikation zur Keimdrüsenentfernung bei nichteinwilligungsfähigen Patient*innen darf nur gestellt werden, wenn
    • evaluierte hohe Risiken aufgrund der gestellten Diagnose für die Patient*innen im entsprechenden Alter zum Zeitpunkt der OP bestehen.
    • die Keimdrüsenfunktionen schwer gestört sind – und –
    • regelmäßige Kontrolluntersuchungen des Gewebes technisch nicht möglich sind.
  • Wünscht eine volljährige und nachhaltig aufgeklärte Person aufgrund einer diskordanten Hormonsekretion (verstärkte Virilisierung ab dem Zeitpunkt der Pubertät bei 5-alpha-Reduktasemangel und 17-beta-HSD) die Gonadektomie, kann auch dies eine Indikation sein.
  • Besteht der Wunsch bereits vor der Volljährigkeit, ist ein Antrag bei der zuständigen Ärztekammer zu stellen.
  • Es soll sichergestellt werden, dass ein kontinuierliches Screening der Gonaden (Palpation, sonografische Kontrollen) erfolgt.
  • Bei der Empfehlung zur Gonadektomie soll über die Möglichkeit der Kryokonservierung aufgeklärt werden.
    • Aufklärung und Entscheidung sollen separat dokumentiert werden.
  • Die Studienlage bezüglich des Tumorrisikos ist unzureichend.
  • Das Risiko für eine maligne Entartung in den Gonaden ist je nach biologischer Ursache der Intergeschlechtlichkeit unterschiedlich hoch.
    • XY-Gonadendysgenesie mit intraabdominalen Gonaden: ca. 15–35 %
    • gemischte Gonadendysgenesie (z. B. Karyotyp 45,X/46,XY): ca. 12 %
    • Ovotestis: ca. 3 %
    • komplette Androgeninsensitivität
      • vermutlich relativ niedriges Risiko
      • Bei intraabdominalen Hoden scheint das Risiko mit zunehmendem Alter der betroffenen Person anzusteigen.
      • Eine Tumorentwicklung vor der Pubertät scheint sehr selten zu sein. Die spontane Pubertät kann daher abgewartet werden. Dann können die Betroffenen selbst über eine Operation entscheiden.
    • partielle Androgeninsensitivität
      • mit nichtskrotalen Gonaden: vermutlich ca. 50 %
      • mit skrotalen Gonaden: unbekannt
  • Bei erhöhtem Risiko regelmäßige Verlaufskontrolle via Bildgebung
  • Prophylaktische Gonadektomien in der Regel nur nach individueller Risikoabschätzung

Psychosoziale Aspekte

Leitlinie: Psychosoziale Begleitung1

  • Schon nach der Geburt eines Kindes mit vermuteter Intergeschlechtlichkeit soll eine kompetente und mit der Thematik vertraute psychologische Begleitung der Familie angestrebt werden.
  • Bei nachgewiesener Intergeschlechtlichkeit soll eine Peer-Beratung hinzukommen.
  • Bestätigt sich eine Form von Intergeschlechtlichkeit, soll eine psychologische Begleitung auch während der weiteren Entwicklung, ggf. bis ins Erwachsenenalter angeboten werden.
  • Mitteilung der Diagnose
    • Die Diagnose soll die ärztlich betreuende Person mitteilen.
    • Es soll spätestens bei dem Aufklärungsgespräch über die Befunde und ggf. Behandlungsoptionen eine psychologische Fachkraft beteiligt sein und im Weiteren als Ansprechpartner*in zur Verfügung stehen.
    • Die Aufklärung über die Diagnose braucht Zeit.
      • Mehrere Gespräche, bis die Eltern bzw. die Betroffenen die Gesamtsituation erfasst haben.
      • Vorher keine therapeutischen Entscheidungen treffen.

Erwachsenenalter

  • Personen mit Intergeschlechtlichkeit benötigen ggf. Unterstützung.2
    • bei erfolgter Traumatisierung, z. B.:
      • iatrogen durch traumatisierende Untersuchungen oder Eingriffe im Genitalbereich, Missachtung des Schamgefühls bei der fotografischen Dokumentation
      • durch gesellschaftliche Stigmatisierung.
    • bei der Kommunikation mit Familienangehörigen, Freund*innen oder anderen Bezugspersonen
  • Erste Ansprechpartner*innen für Betroffene
    • Hausärzt*innen
    • Endokrinolog*innen
    • Gynäkolog*innen/Androlog*innen
    • Urolog*innen
  • Psychosoziale Unterstützung
    • Beratung durch Psychotherapeut*in mit Erfahrung in der Unterstützung von Menschen mit Intergeschlechtlichkeit3
      • Falls von der betroffenen Person gewünscht, ist die Einbeziehung der Angehörigen/Partner*in sinnvoll.
    • ggf. Vermittlung über Selbsthilfeorganisationen

Kinder und Jugendliche

  • Geschlechtsanpassende Behandlungen sollten nur mit äußerster Zurückhaltung und nur nach ausführlicher Evaluation der vom betroffenen Kind oder Jugendlichen empfundenen Geschlechtszugehörigkeit erfolgen.
    • wiederholte und entwicklungsangemessene Aufklärung der Betroffenen als Voraussetzung
      • Beginn im Kleinkindes- und Vorschulalter
      • in den folgenden Jahren altersentsprechende Aufklärung über die biologischen Zusammenhänge
      • Bereits ab 10–12 Jahren kann das Kind an Entscheidungen beteiligt werden.
      • Ausreichend aufgeklärte Jugendliche können autonome Entscheidungen treffen, die in jedem Fall zu respektieren sind.
  • Ob die betroffene Person ihre Intergeschlechtlichkeit nach außen zeigen, oder diese lieber für sich behalten will, ist unbedingt zu respektieren. Es ist Ausdruck unterschiedlicher Verarbeitungsstrategien, die beide zu einer guten Anpassung der Person an ihre spezielle Situation führen können.
  • Psychosoziale Unterstützung
    • Beratung durch Psychotherapeut*in mit Erfahrung in der Unterstützung von Menschen mit Intergeschlechtlichkeit3
      • bei Kindern: entsprechende Beratung der Eltern
      • Frühzeitiges Screening, ob die Eltern selbst psychosoziale Unterstützung benötigen.8
      • Bei Jugendlichen: Falls von der betroffenen Person gewünscht, ist es sinnvoll, Angehörige und/oder Partner*in einzubeziehen.
    • ggf. Vermittlung über Selbsthilfe- und Angehörigenorganisationen

Patienteninformationen

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie (DGKED), Deutsche Gesellschaft für Urologie (DGU), Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH). S2k-Leitlinie Varianten der Geschlechtsentwicklung. AWMF-Leitlinie Nr. 174-001, Stand 2016 (abgelaufen). www.aem-online.de
  • Bundesärztekammer, Wissenschaftlicher Beirat. Stellungnahme der Bundesärztekammer „Versorgung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Varianten/Störungen der Geschlechtsentwicklung (Disorders of Sex Development, DSD). Berlin, BÄK 2015. Deutsches Ärzteblatt 2015; 112 (13): A-598/B-510/C-498. www.bundesaerztekammer.de

Literatur

  1. Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie (DGKED), Deutsche Gesellschaft für Urologie (DGU), Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH). S2k-Leitlinie Varianten der Geschlechtsentwicklung. AWMF-Leitlinie Nr. 174-001, Stand 2016 (abgelaufen). www.aem-online.de
  2. Bundesärztekammer, Wissenschaftlicher Beirat. Versorgung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Varianten/Störungen der Geschlechtsentwicklung (Disorders of Sex Development, DSD). Dtsch Arztebl 2015; 112 (13): A-598 ff. www.bundesaerztekammer.de
  3. Richter-Appelt HR: Zur Situation von Menschen mit Intersexualität in Deutschland. Berlin 2011 (26.03.2018). docplayer.org
  4. Manski D. Ursachen von Störungen der Geschlechtsentwicklung (Intersexualität). Urologielehrbuch.de. Letzter Zugriff 10.12.2021 www.urologielehrbuch.de
  5. Davies JH, Watts G. Ambiguous genitalia in neonates. BMJ Best Practice. Last reviewed 10 Nov 2021; last updated 27 Aug 2019 bestpractice.bmj.com
  6. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI): ICD-10-GM Version 2021. Stand 18.09.2020; letzter Zugriff 09.12.2021. www.dimdi.de
  7. Bundesministerium der Justiz. Gesetzgebungsverfahren 21. Mai 2021. Gesetz zum Schutz von Kindern vor geschlechtsverändernden operativen Eingriffen. 21.05.2021 www.bmjv.de
  8. Suorsa KI, Mullins AJ, Scott Reyes KJ, et al. Characterizing Early Psychosocial Functioning of Parents of Children with Moderate to Severe Genital Ambiguity due to Disorders of Sex Development. J Urol 2015. pmid:26196734 PubMed

Autor

  • Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
Intersexualität; inter*; Disorders of Sex Development; Störungen der Geschlechtsentwicklung; Geschlechtsentwicklungsstörungen; Uneindeutiges Genital; Unbestimmtes Geschlecht; Pseudohermaphroditismus; Klinefelter-Syndrom; Turner-Syndrom; Vergrößerte Klitoris; Mikropenis; Ulrich-Turner-Syndrom; Optimal Gender Policy; Erziehungsgeschlecht; Gender Allocation; Sex Assignment; Gonadendysgenesie; Komplette Androgeninsensivität; CAIS; Partielle Androgeninsensivität; PAIS
Intergeschlechtlichkeit, Varianten der Geschlechtsentwicklung
CCC MK 13.12.2021 revidiert und aktualisiert, Sprache angepasst. Revision at 03.09.2015 12:30:03: German Version BBB MK 04.04.2018, komplett überarbeitet, LL berücksichtigt
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Definition:Varianten der biologischen Geschlechtsdeterminierung oder -differenzierung. Häufigkeit:In Deutschland  sind ca. 8.000–10.000 Personen betroffen.
Endokrinologie/Stoffwechsel
Intergeschlechtlichkeit
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