Definition:Schmerzsyndrom nach Trauma einer Extremität, mit inadäquat starken Schmerzen und Störungen der Sensorik, Motorik, des vegetativen Nervensystems und der Gewebetrophik.
Häufigkeit:Bei 2–5 % aller Extremitätenverletzungen (klassischerweise nach Radiusfraktur). Frauen deutlich häufiger betroffen.
Symptome:Leitsymptom ist starker Schmerz 2–3 Monate nach Extremitätenverletzung, der nicht mehr durch das Trauma erklärbar ist.
Befunde:Vielzahl an Befunden möglich, u. a. Verfärbung der Haut, asymmetrische Hauttemperatur, Hyperhidrose, verändertes Nagel- und Haarwachstum, Ödeme.
Diagnostik:Klinische Diagnose durch Anamnese und körperliche Untersuchung.
Therapie:Kombinationstherapie aus nichtmedikamentösen (insbesondere Physiotherapie mit verhaltenstherapeutischen Elementen) und medikamentösen Maßnahmen. Nur in Ausnahmefällen interventionelle Verfahren.
Allgemeine Informationen
Definition
Abkürzung: CRPS (Complex Regional Pain Syndrome)
Schmerzsyndrom nach Trauma einer Extremität, bei dem die Schmerzen im Vergleich zum erwarteten Heilungsverlauf unangemessen stark sind und bei dem sich Störungen der Sensorik, Motorik, des vegetativen Nervensystems und der Gewebetrophik finden.1
Wichtig: Symptome sind nicht auf direkte Traumafolgen zurückzuführen.
Symptome müssen deshalb außerhalb (in der Regel distal) der Traumastelle auftreten und dürfen sich nicht auf das Innervationsgebiet eines peripheren Nervens oder einer Nervenwurzel (cave: Plexusläsion!) beschränken.
Verstärkte lokale Gewebereaktion auf eine Verletzung
Neurogene Entzündung durch lokal ausgeschüttete Zytokine führt zu Sensibilisierung der ortsständigen Schmerzrezeptoren.
Schmerzrezeptoren reagieren mit lokaler Sekretion von inflammatorischen Neuropeptiden.
Hierdurch lassen sich die meisten Zeichen der akuten Entzündung wie Rötung, Überwärmung, Schwellung und Schmerz, aber auch vermehrtes Haarwachstum erklären.
Im weiteren Verlauf Sensibilisierung auf spinalem Niveau
Es kommt zu funktionalen und strukturellen Veränderungen des Gehirns im Sinne der neuronalen Plastizität.
Zerebrale somatosensorische Repräsentanz der betroffenen Extremität ist beim CRPS verkleinert. Unter der Therapie normalisiert sich die Größe der Areale wieder.
Zentrale Veränderungen führen zu:
Allodynie
Hyperalgesie
Dystonie.
Lokale Hochregulierung und Sensibilisierung adrenerger Rezeptoren
Hierdurch sind Symptome wie vermehrtes Schwitzen und Fehlregulation der Durchblutung zu erklären.
Insbesondere starker Schmerz (visuelle Analogskala > 5) unmittelbar in der Frühphase nach distaler Radiusfraktur ist ein Risikofaktor für die Entwicklung von CRPS.7
Operationen an den Extremitäten (insbesondere Handgelenk und Sprunggelenk)5
In die ambulante Behandlung soll aber eine in der Therapie des CRPS erfahrene Institution eingebunden sein.
z. B. mit der Krankheit erfahrene Kolleg*innen oder Spezial-(Schmerz-)Ambulanzen
Sollte sich im ambulanten Behandlungsprozess eine Stagnation oder gar Akzentuierung der Symptome abzeichnen, so sollte schnellstmöglich eine stationäre multimodale Schmerztherapie eingeleitet werden.
Ein weiterer Grund für die stationäre Behandlung ist Immobilität.
Therapie
Therapieziele
Schmerzkontrolle und weitgehende Wiedererlangung der Funktion1
Allerdings bleibt häufig eine Restsymptomatik oder verminderte Belastbarkeit.
Allgemeines zur Therapie
Die Therapie sollte immer eine Kombinationstherapie aus nichtmedikamentösen und medikamentösen Maßnahmen sein.1
Nur in Ausnahmefällen sollten interventionelle Therapieformen zur Anwendung kommen.1
Leitlinie: Diagnostik und Therapie komplexer regionaler Schmerzsyndrome (CRPS)1
Folgender Therapiealgorithmus wird von Leitlinie empfohlen.
Nach eingehender Anamnese, Untersuchung inklusive psychischer Exploration und ausführliche Erklärung der Erkrankung:
Physio-/Ergotherapie und orale Pharmakotherapie chronischer Schmerzen als Basismaßnahme
bei akuter Symptomatik mit Ödem und Temperatursteigerung: Steroide oder Bisphosphonate
bei nicht ausreichender Wirksamkeit von 1. und 2.: intensive Evaluierung psychischer Komorbiditäten und deren Therapie
Im Einzelfall einmalige stationäre Dauerinfusion von Ketamin nach individueller Titrierung, evtl. in Verbindung mit Punkt 3. Hier gilt eine strenge Indikationsstellung, die lückenlose Überwachung der Patient*innen muss gewährleistet sein.
Jegliche invasive Therapie nur bei Indikationsstellung durch spezialisierte Einrichtungen. Dies gilt auch für eine Serie mit limitierter Anzahl (etwa 10–15) von Sympathikusblockaden, wenn durch die einzelnen Blockaden eine deutliche Schmerzreduktion erzielt wird.
Bei Kindern immer Behandlung durch ein erfahrenes Zentrum mit pädiatrischer Expertise ohne invasive oder potenziell schädigende (z. B. Ketamininfusionen) Therapie.
Medikamentöse Therapie
Sämtliche Angaben beziehen sich auf die Leitlinie als Referenz.1
Schmerzmedikamente
Nur Gabapentin und Ketamin wurden als Medikamente gegen Schmerzen bei CRPS in randomisierten kontrollierten Studien untersucht.
Gabapentin
Effekt
geringe positive Auswirkungen auf Schmerzen
Dosierung
Startdosis 300 mg
Steigerung tgl. um 300 mg bis auf 1.200–2.400 mg in 3 Einzeldosen
max. Tagesdosis: 3.600 mg
Nebenwirkungen
anfänglich Müdigkeit und Schwindel, bei längerer Anwendung Gewichtszunahme
Ketamin
Anwendung nur in erfahrenen Zentren als i. v. Infusion
Dosierung
individuell nach Wirksamkeit titrierte Dauerinfusion über 4 Tage oder
fix 0,35 mg/kg/h (max. 100 mg) über 4 Stunden für 10 Tage hintereinander
In allen bisher verfügbaren randomisierten, klinischen Studien signifikanter Effekt auf Schmerz und Funktion
Verschiedene Präparate verfügbar: Alendronat, Clodronat, Pamidronat, Neridronat
Dosierung
z. B. Alendronat: 40 mg/d über 8 Wochen oder
i. v. 7,5 mg an 3 aufeinanderfolgenden Tagen
Nebenwirkungen
Reizung der Schleimhäute (Übelkeit, Aufstoßen, Sodbrennen, Magenschmerzen oder Krämpfe)
Orale Bisphosphonate sollten daher morgens nüchtern im Stehen mit einem großen Glas Leitungswasser eingenommen werden.
Osteonekrosen am Kiefer
vor Therapieeinleitung zahnärztliche Vorstellung
Glukokortikoide
Einsatz bei frühen entzündlichen (Rötung, Überwärmung, Ödem) CRPS-Fällen empfohlen
Bei chronischem CRPS (> 6 Monate Dauer) sind Steroide in Einzelfällen wirksam, aber in der Mehrzahl der Fälle nicht.
Dosierung
Gemäß Studienlage Prednisolonäquivalent von > 30–40 mg/d über 4 Wochen bei akutem CRPS (bis 6 Monate Dauer). Diese Dosierung ist nur ein Anhaltspunkt.
Autor*innen der Leitlinie selbst haben bessere Erfahrungen mit initial deutlich höheren Dosen Prednisolonäquivalent (≥ 100 mg oral), das dann über 2,5 Wochen ausgeschlichen wird.
Individuelle Anpassung ist oft nötig, eine Wiederholung der Behandlung bei Wiederauftreten der Symptome kann notwendig werden.
Ziele: Pathologische Bewegungsmuster kompensieren, adäquate Funktion wiederherstellen, Ödembehandlung durch Lymphdrainage.1
Insbesondere Einsatz von Physiotherapie mit verhaltenstherapeutischen Elementen (u. a. Spiegeltherapie, „Graded Motor Imagery Program“) wird frühzeitig empfohlen.1,9-10
sonst therapierefraktären Patient*innen mit CRPS an der unteren Extremität ohne mechanische Allodynie und ohne gravierende psychische Erkrankung (fachspezifische Untersuchung), bei denen die Probestimulation effektiv war.
Für eine breitere Anwendung fehlen die Daten.
Sympathikusblockade
Genereller Einsatz von Sympathikusblockaden zur Therapie des CRPS kann aufgrund fehlender Evidenz nicht empfohlen werden.
Möglicherweise sind Sympathikusblockaden aber bei positivem Ausfall von Testinjektionen als eine auf maximal einige Wochen begrenzte Behandlungsserie ansonsten therapieresistenter, sympathisch unterhaltener Ruheschmerzen hilfreich.
Ihr Einsatz sollte entgegen der derzeitigen Praxis spezialisierten Zentren vorbehalten bleiben.
Intrathekale Applikation von Baclofen
Indiziert wenn
schmerzhafte und therapielimitierende dystone Störungen konservativ (Physiotherapie, Botulinumtoxin) nicht beherrschbar sind.
Nur in einem Zentrum, das mit dieser Therapieform Erfahrung hat.
Es muss vor einer Dauertherapie eine Probeinjektion erfolgen.
Prävention
Ausführliche Aufklärung der Patient*innen und Anregung zum frühzeitigen aktiven Einsatz der Extremität2
Vitamin C
Supplementierung mit Vitamin C 500 mg tgl. für 45–50 Tage direkt im Anschluss an Trauma/Operation kann für Risikopatient*innen das Risiko für die Entwicklung eines CRPS reduzieren.11
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
Der Verlauf der Erkrankung ist durch 2 Erscheinungsformen geprägt:2
In Frühphase bis 6 Monate nach Erkrankungsbeginn findet sich eher ein roter, warmer Typus, der Charakteristika einer Entzündung zeigt.
Im chronischen Stadium bestehen im Wesentlichen ähnliche Schmerzsymptome, allerdings ist die betroffene Extremität nun kühl und livide verfärbt mit einem atrophen Aspekt.
Komplikationen
Bei interventionellen Therapieverfahren sind lebensbedrohliche Komplikationen möglich.
Einsatz nur von speziell ausgebildeten Ärzt*innen in Zentren1
Prognose
Nach 12 Monaten haben zwar 70 % der Patient*innen eine Verbesserung der Symptome, allerdings sind lediglich etwa 5 % symptomfrei.12
M. Sudeck (mit freundlicher Genehmigung von Bernadett Hilbert)
M. Sudeck (mit freundlicher Genehmigung von Bernadett Hilbert)
Quellen
Leitlinien
Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN). Diagnostik und Therapie komplexer regionaler Schmerzsyndrome (CRPS). AWMF-Leitlinie Nr. 030-116. S1, Stand 2018. www.awmf.org
Literatur
Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN). Diagnostik und Therapie komplexer regionaler Schmerzsyndrome (CRPS). AWMF-Leitlinie Nr. 030-116, Stand 2018. www.awmf.org
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Autor*innen
Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Frankfurt a. M.
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
Definition:Schmerzsyndrom nach Trauma einer Extremität, mit inadäquat starken Schmerzen und Störungen der Sensorik, Motorik, des vegetativen Nervensystems und der Gewebetrophik.