Übergewicht und Adipositas sind definiert als eine über das Normalmaß hinausgehende Vermehrung des Körperfetts.
Berechnungsgrundlage für die Gewichtsklassifikation ist der Körpermasseindex, der sog. Body-Mass-Index (BMI). Der BMI ist der Quotient aus Gewicht und Körpergröße zum Quadrat (kg/m2).
Übergewicht ist definiert als BMI 25–29,9 kg/m2, Adipositas als BMI ≥ 30 kg/m2.
Häufigkeit
Prävalenz
in Deutschland Prävalenz von Übergewicht inkl. Adipositas (BMI > 25 kg/m2) 54 %3
47 % der Frauen und 63 % der Männer sind übergewichtig oder adipös.3
Alter
mit zunehmendem Alter Anstieg der Prävalenz sowohl bei Frauen als auch bei Männern3
Medizinische Bedeutung von Übergewicht
Ist Übergewicht eine Krankheit?
Die Frage, ob Übergewicht bereits eine Krankheit darstellt, ist Gegenstand kontroverser Diskussionen.
Die DEGAM ordnet Übergewicht (und Adipositas) nicht automatisch als Krankheit ein.1
Eine Beurteilung als pathologischer Zustand ergibt sich gemäß DEGAM erst im Kontext mit Begleiterkrankungen, Alter und weiteren Faktoren.1
Bei der Gesamtbewertung sind nicht zuletzt auch psychosoziale Faktoren (individuelle Besorgnis/Beeinträchtigung, Schuldzuweisungen/Stigmatisierung) zu berücksichtigen.1
Andere Institutionen (z. B. AWMF, WHO, Bundessozialgericht, EU-Parlament) ordnen zumindest der Adipositas einen Krankheitswert zu.2
Zugespitzt findet sich diese Position in der These, dass man nicht gleichzeitig übergewichtig und gesund sein könne.5-6
Übergewicht als Risikofaktor
In unzähligen Studien konnte die Bedeutung von Übergewicht für die Entstehung vieler Erkrankungen gezeigt werden.7-12
Die Assoziation ist unterschiedlich stark ausgeprägt und hängt auch vom Ausmaß des Übergewichts ab, allgemein anerkannte Komorbiditäten sind:1-2
Übergewicht kann zu einem ungünstigeren Krankheitsverlauf beitragen, z.B. bei Tumorpatient*innen.13-14
Zudem scheint Übergewicht teilweise auch die Wirkung von medikamentösen Therapien zu beeinträchtigen.15-16
Dennoch ist der Einfluss von Übergewicht auf die Mortalität insgesamt nicht so eindeutig wie auf die Morbidität.17
Das sog. „Obesity-Paradox“ beschreibt eine scheinbare bessere Prognose übergewichtiger, kardial erkrankter Patient*innen, wobei aber möglicherweise statistische Verzerrungen eine Rolle spielen.18
Hausärztliche Rolle
Die Zahl der Beratungsanlässe in der hausärztlichen Praxis nimmt zu.1
Allgemeinärzt*innen haben eine zentrale Rolle bei der kontinuierlichen Begleitung.2
Befragte Patient*innen bevorzugen Hausärzt*innen für Fragen der Prävention, Risikoberatung und Behandlung.19
Hausärzt*innen sollten in der Betreuung auch ihre eigene Einstellung gegenüber Übergewichtigen reflektieren, da neben überwiegend starkem Engagement auch skeptische bis ablehnende Haltungen festgestellt wurden.20
Diagnostik
Diagnostische Überlegungen
Formal wird Übergewicht (und Adipositas) durch Bestimmung des BMI festgestellt.
Abgesehen von der formalen Klassifizierung ist die Feststellung von Übergewicht nicht eindeutig.1
Die Bewertung ist auch vor dem Hintergrund aktueller Schönheitsideale und möglicher Stigmatisierung/Diskriminierung zu sehen.
Eine Abweichung von Normwerten ist für eine Therapieempfehlung nicht ausreichend.
Differenzialdiagnosen
Hormonelle oder medikamentöse Ursachen für eine Adipositas sind selten (< 1 %).
degenerative Erkrankungen des Halte- und Bewegungsapparates
rheumatologische Erkrankungen
gastrointestinale Erkrankungen
psychische Störungen
Schwangerschafts-/Wochenbettkomplikationen
Klinische Untersuchung
Gewicht und Körpergröße zur Ermittlung des BMI
Evtl. Taillenumfang
Eine generelle Messung des Taillenumfangs in der Primärversorgung wird von der DEGAM nicht befürwortet, Bestimmung nur unter Berücksichtigung der individuellen Ausgangssituation1
Blutdruck (siehe auch Artikel Blutdruckmessung)
Pulsstatus
Auskultation des Herzens (siehe auch Artikel Herzgeräusche bei Erwachsenen)
Halte- und Bewegungsapparat
Im Einzelfall klinische Zeichen von Cushing-Syndrom oder Hypothyreose
Ergänzende Diagnostik in der hausärztlichen Praxis
Die DEGAM spricht sich gegen umfangreiche Diagnostik ohne vorherige Differenzierung nach Komorbidität und Risikoprofil ab, u. a. wegen:1
fehlender Evidenz eines Nutzens für viele der Untersuchungen
fehlendem Effekt auf den weiteren Gewichtsverlauf.
Die DEGAM empfiehlt:
Diagnostik abhängig von Beschwerden, Symptomen und bekannten Begleiterkrankungen1
die individuelle Bestimmung endokrinologischer Stoffwechselparameter (TSH, Glukose, HbA1c)1
die Kalkulation des kardiovaskulären Risikos, bevorzugt mit dem ARRIBA-Programm.21
Maßnahmen und Empfehlungen
Allgemeines
Die Versorgung von formal Übergewichtigen kann sich an folgenden Prinzipien orientieren:1,22
individuelle, gemeinsame Abwägung von potenziellem Nutzen und Schaden von Diagnostik bzw. Therapie
Vermeidung von überflüssigen/schädlichen medizinischen Maßnahmen.
Auf die Rolle des Übergewichts angesprochen werden sollten daher vor allem Patient*innen, die im Zusammenhang mit Erkrankungen wie z. B. Diabetes mellitus, Schlafapnoe-Syndrom, Hypertonie, Gonarthrose die hausärztliche Praxis aufsuchen.1
Ausgangspunkt des Gesprächs mit den Patient*innen sollten nicht in erster Linie Grenzwerte sein, sondern die gesamte Lebens-, Gesundheits- und Behandlungssituation.1
Maßnahmen und Ziele sollten schließlich im Sinne der partizipativen Entscheidungsfindung festgelegt werden.1
Grundlage der Gewichtsbehandlung sind als Einzelkomponenten oder in Kombination:1-2
Ernährungstherapie
Ziel der Ernährungstherapie ist die Erreichung eines Energiedefizits von ca. 500 kcal/d (das Führen eines Ernährungstagebuchs kann hilfreich sein).
Mögliche Ernährungsstrategien hierfür sind: Reduktion des Fettverzehrs, Reduktion des Kohlenhydratverzehrs, Reduktion des Fett- und Kohlenhydratverzehrs.
Bewegungstherapie
Körperliches Training unterstützt die Gewichtsreduktion, wirkt sich darüber hinaus aber unabhängig vom BMI günstig auf u. a. das kardiovaskuläre Risiko aus.6
Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM). Praxisempfehlung Nr. 2: Hausärztliche Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Adipositas/Übergewicht, Stand 2016. www.degam.de
Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM). Leitlinie: Hausärztliche Risikoberatung zur kardiovaskulären Prävention. S3, Stand 2017. www.degam.de
Literatur
Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM). Praxisempfehlung Nr. 2: Hausärztliche Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Adipositas/Übergewicht, Stand 2016. www.degam.de
Deutsche Adipositas-Gesellschaft. Adipositas – Prävention und Therapie. AWMF-Leitlinie Nr. 050–001, Stand 2014. www.awmf.org
Schienkiewitz A, Mensink G, Kuhnert R, et al. Übergewicht und Adipositas bei Erwachsenen in Deutschland. Journal of Health Monitoring 2017; 2: 21-28. doi:10.17886/RKI-GBE-2017-025 DOI
Ebbers B. Zahl Übergewichtiger steigt - Beratung gefragt. Heilberufe 2019; 11: 37-39. doi:10.1007/s00058-019-0161-6 DOI
Schmidt J. „Man kann nicht übergewichtig und gesund sein“. kardiolgie.org. Zugriff 18.02.22 www.kardiologie.org
Valenzuela P, Santos-Lozano A, Barran A, et al. Joint association of physical activity and body mass index with cardiovascular risk: a nationwide population-based cross-sectional study. Eur J Prev Cardiol 2021; 14: 1620-1621. doi:10.1093/eurjpc/zwaa151 DOI
French S, Lutsey P, Rosamond W, et al. Weight change over 9 years and subsequent risk of venous thromboembolism in the ARIC cohort. Int J Obes 2020; 44: 2465–2471. doi:10.1038/s41366-020-00674-5 DOI
Robertson, MD, Schaufelberger M, Lindgren M, et al. Higher Body Mass Index in Adolescence Predicts Cardiomyopathy Risk in Midlife. Circulation 2019; 140: 117-125. doi:10.1161/CIRCULATIONAHA.118.039132 DOI
Hamer M, Batty G. Association of body mass index and waist-to-hip ratio with brain structure: UK Biobank study. Neurology 2019; 92: e594-e600. doi:10.1212/WNL.0000000000006879 DOI
Schnurr T, JaKupovic H, Carrasquilla G, et al. Obesity, unfavourable lifestyle and genetic risk of type 2 diabetes:a case-cohort study. Diabetologia 2020; 63: 1324-1332. doi:10.1007/s00125-020-05140-5 DOI
Jäger-Becker D. Asthma, COPD, Schlafapnoe: Übergewicht erhöht Risiko für Atemwegserkrankungen. PneumoNews 2016; 8: 67. doi:10.1007/s15033-016-0504-9 DOI
Emons G. Metabolismus und gynäkologische Krebserkrankungen. Gynäkologe 2021; 54: 725–731. doi:10.1007/s00129-021-04828-y DOI
Seifart U. Lebensführung von Krebspatienten. Im Fokus Onkologie 2016; 19: 40-43. doi:10.1007/s15015-016-2411-7 DOI
Kühn T, Steindorf K. Kompendium Internistische Onkologie: Ernährung, Übergewicht und körperliche Aktivität. eMedpedia, Zugriff 18.02.22. www.springermedizin.de
Schäfer M, Meißner I, Kekow J, et al. Obesity reduces the real-world effectiveness of cytokine-targeted but not cell-targeted disease-modifying agents in rheumatoid arthritis. Rheumatology 2020; 59: 1916–1926. doi:10.1007/s12688-020-00336-4 DOI
Wilhelm M. Übergewicht und Fettleibigkeit sind Risikofaktoren für die Entwicklung einer Kardiotoxizität durch Anthrazykline oder die sequenzielle Gabe von Anthrazyklinen und Trastuzumab. Strahlenther Onkol 2017; 193: 234–235. doi:10.1007/s00066-017-1098-9 DOI
Berrigan D, Troiano R, Graubard B: BMI and mortality: the limits of epidemiological evidence. The Lancet 2016;388:734-736. www.thelancet.com
Döhner W. Das Adipositas-Paradox/Paradigma bei kardiovaskulären Erkrankungen: Fakten und Kommentare. Adipositas: Ursachen, Folgeerkrankungen, Therapie. 2021; 15: 13-20. doi:10.1055/a-1341-7675 DOI
Wangler J, Jansky M. Betreuungsbedürfnisse von Patienten mit Übergewicht und Adipositas in der Hausarztpraxis – Ergebnisse einer Interviewstudie. Präv Gesundheitsf 2021; 16: 273–281. doi:10.1007/s11553-020-00812-x DOI
Wangler J, Jansky M. Einstellungen von Hausärzten zum Adipositasmanagement. ZFA 2020; 96: 159-165. www.researchgate.net
Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM). Hausärztliche Risikoberatung zur kardiovaskulären Prävention. S3. Stand 2017. www.degam.de
Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM). DEGAM-Zukunftspositionen. Stand 2012. www.degam.de
Autor*innen
Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
E669; R63; R635; R638
T82; T83
Übergewicht; Adipositas; Fettleibigkeit; body mass index; BMI; Taillenumfang; Ernährung; kardiovaskuläre Prävention; Ernährungstherapie; Bewegungstherapie; Verhaltenstherapie; Kardiovaskuläre Prävention
Übergewicht
U-NH 25.07.17
BBB MK 21.02.2022 revidiert und umgeschrieben, an Artikel Übergewicht/Adipositas angeglichen.
MK 26.07.17
DEGAM Zimmermann 15.11.17
Der Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1-2 Übergewicht und Adipositas sind definiert als eine über das Normalmaß hinausgehende Vermehrung des Körperfetts. Berechnungsgrundlage für die Gewichtsklassifikation ist der Körpermasseindex, der sog. Body-Mass-Index (BMI). Der BMI ist der Quotient aus Gewicht und Körpergröße zum Quadrat (kg/m2).