Adäquate medikamentöse Therapie in Pflegeeinrichtungen

Allgemeine Informationen

  • Typisch für Menschen in Pflegeeinrichtungen ist u. a.:
    • hohes Alter > 65 Jahre
    • Multimorbidität
    • körperliche und/oder kognitive Einschränkungen 
    • kurze Lebenserwartung
    • Risiko für Polypharmazie (≥ 5 Wirkstoffe).1
  • Eine leitliniengerechte Therapie führt potenziell zu Polypharmazie.1
  • Durch Alter und Multimorbidität steigt das Risiko für Medikamentennebenwirkungen.2-3
  • Folgen einer inadäquaten Pharmakotherapie können sein:
    • schwere unerwünschte Arzneimittelereignisse
    • erhöhte Morbidität
    • Krankenhauseinweisungen
    • Tod.2
  • Eine adäquate medikamentöse Therapie kann den Gesundheitszustand und die Lebensqualität verbessern.
  • Die wissenschaftliche Evidenz zu Pharmakotherapie bei älteren Menschen ist begrenzt.
    • Ältere Menschen mit Multimorbidität und Polypharmazie werden in klinische Studien meist nicht eingeschlossen.4
  • Es sind wenige konkrete und praktikable Konzepte zur Erhöhung der Patient*innensicherheit vorhanden.5
  • Für die verfügbaren Listen, Instrumente und Leitlinien fehlt bislang eine nachweisliche Evidenz der Effektivität.1

Physiologische Veränderungen im Alter 

  • Zunahme chronischer Erkrankungen und Multimorbidität führt zu:
  • Veränderungen der Pharmakokinetik und -dynamik (siehe Artikel Polypharmazie im Alter
    • veränderte Verteilung, Verstoffwechselung und Ausscheidung von Medikamenten
    • Veränderte Wirksamkeit von Medikamenten kann ein erhöhtes Risiko für unerwünschte Arzneimittelwirkung darstellen.1
  • Veränderung der physiologischen Verteilungsräume6
    • Prozentual mehr Fett und weniger Muskelmasse und Wasser kann zu einem erhöhtem Verteilungsvolumen und verlängerter Wirkdauer bei fettlöslichen Medikamenten führen, z. B. bei: 
      • Opioiden
      • Psychopharmaka
      • Amoxicillin
      • Furosemid.
    • Reduktion des Gesamtkörperwassers und der extrazellulären Flüssigkeit kann über ein niedriges Verteilungsvolumen u. U. zur Kumulation von wasserlöslichen Arzneimitteln führen, insbesondere bei gleichzeitiger Reduktion der Nierenfunktion, z. B. bei: 
      • ACE-Hemmern
      • Digoxin
      • Metronidazol
      • Lorazepam
      • L-Thyroxin.
  • Niereninsuffizienz2,8
    • Ca. 50 % der Bewohner*innen der Pflegeeinrichtung haben eine mittelgradige Niereninsuffizienz (eCCr 59–30 ml/min) und ca. 15 % eine
      hochgradigen Niereninsuffizienz (eCCr < 30 ml/min).
    • Ca. 50 % der Dauermedikamente muss bei Niereninsuffizienz dosisangepasst werden oder ist kontraindiziert.
    • Eine Dosisanpassung an die aktuelle Nierenfunktion kann leicht übersehen werden.
    • Kreatininwerte sollten regelmäßig bestimmt werden.
  • Medikamente können im Alter potenziell inadäquat sein.
    • Das Risiko für arzneimittelbezogene Probleme (ABP) sollte gegenüber dem zu erwartenden therapeutischen Nutzen abgewogen werden.3,9

Demenz

  • Deutschlandweit sind ca. 1,8 Mio. Menschen von Demenz betroffen (2022).10
  • In Deutschland sind ca. 68,6 % der Bewohner*innen einer Pflegeeinrichtung an Demenz erkrankt, davon 56,6 % an einer schweren Demenz.11
  • Die Einschränkung der kognitiven Fähigkeiten kann zu einer erschwerten Kommunikation zwischen Patient*innen und Pflegepersonal führen. Folgen sind:
    • verminderte Adhärenz
      • z. B. erschwerte orale Gabe von Medikamenten
    • Symptome können nicht adäquat verbalisiert werden.
      • Verzögerung einer notwendigen Diagnostik
      • erschwertes Medikamentenmonitoring durch Ärzt*in.12
  • Eine potenziell inadäquate Medikation (PIM) ist für Patient*innen mit Demenz ein erhöhter Risikofaktor für arzneimittelbezogene Probleme (ABP)7 (siehe Abschnitt Arzneimittelbezogene Probleme).
  • Eine individualisierte Therapie mit kontinuierlicher Adaptation wird im Verlauf der Demenzerkrankung empfohlen.13
  • Acetylcholinesterase-Hemmer (Donepezil, Galantamin, Rivastigmin) für leichte bis mittelschwere Alzheimer-Demenz13
    • Höchste verträgliche Dosis soll angestrebt werden (Ia/A).13
    • Die Auswahl des Acetylcholinesterase-Hemmers sollte sich primär am Neben- und Wechselwirkungsprofil orientieren.13
    • erhöhtes Risiko für Bradykardien und Synkopen13
  • Daten zur 2017 publizierten Untersuchung der Prävalenz von potenziell inadäquater Medikation (PIM) bei Patient*innen, die positiv gescreent wurden auf Demenz:7
    • am häufigsten eingesetzte PIM
      • trizyklische Antidepressiva (22,5 %)
      • Benzodiazepine (20,7 %)
      • nichtsteroidale Antiphlogistika und Antirheumatika (15,3 %)
    • Amitryptilin (anticholinerg wirkendes Antidepressivum) wurde am häufigsten verordnet, aber in keinem der dokumentierten Fälle indikationsgerecht (neuropathischer Schmerz).
    • Anticholinergika und Sedativa sind in vergleichbaren Studien die am häufigsten verordneteten PIM.14
  • Die Therapie mit lipidsenkenden Arzneimitteln sollte bei terminal an Demenz  Erkrankten überdacht werden.15
  • Prävalenz von potenziell inadäquater Medikation (PIM) ist in Pflegeeinrichtungen höher als bei dementen Patient*innen in häuslicher Pflege.16

Polypharmazie

  • Siehe Artikel Polypharmazie im Alter.
  • Bewohner*innen einer Pflegeeinrichtung erhalten oft bis zu 10 Medikamente gleichzeitig.12
    • exzessive Polypharmazie (≥ 10) und damit direkt assoziierte Symptome:
      • gastrointestinale Beschwerden
      • Schmerzen
      • Dyspnoe.
    • exzessive Polypharmazie und damit direkt assoziierte Erkrankungen, u. a.:
    • Exzessive Polypharmazie war direkt assoziiert mit einer Krankenhauseinweisung.12
  • Multimorbidität führt in der Regel zum Einsatz mehrerer Medikamente, da das therapeutische Ziel meist nicht mit einer Monotherapie erreicht werden kann.3
  • Polypharmazie wird u. a. definiert als:
    • die gleichzeitige Einnahme von 5 oder mehr rezeptpflichtigen oder nicht-rezeptpflichtigen Arzneimitteln.6
  • Polypharmazie führt zu einer Vielzahl von Konsequenzen, u. a.:
    • höhere Kosten
    • höhere Prävalenz an arzneimittelbezogenen Problemen (ABP)
    • verminderte Patient*innenadhärenz
    • verminderte Lebensqualität
    • höheres Risiko einer Krankenhauseinweisung
    • höheres Risiko zu sterben.17

Arzneimittelbezogene Probleme

  • Arzneimittelbezogene Probleme (ABP), Drug-related Problems (DRP)
  • Definition der Pharmaceutical Care Network Europe Foundation (PCNE) – The PCNE Classification V 9.1:
    • Arzneimittelbezogene Probleme (ABP) sind Ereignisse oder Umstände im Rahmen einer Arzneimittelanwendung, die den gewünschten Therapieerfolg tatsächlich oder potenziell beeinflussen.18
  • Definition der potentiell inadäquaten Medikation (PIM): 
    • Eine Medikation ist potentiell inadäquat, wenn das Risiko schädlicher Effekte den erwarteten Benefit für Patient*innen überwiegt oder wenn eine sicherere, besser tolerierte und effektivere Alternative zur Verfügung steht.19 
    • Eine Auflistung häufig verordneter PIM findet sich im Artikel Polypharmazie im Alter
  • Das Risiko für ABP bei älteren Menschen steigt bei:
    • Komorbidität
    • Gebrechlichkeit mit verminderten physiologischen Reserven
    • Polypharmazie20
  • Bei pflegebedürftigen Menschen besteht ein hohes Risiko für Anwendungsfehler und unerwünschte Arzneimittelereignisse (UAE).6
  • Die Inzidenz von ABP in Pflegeeinrichtungen liegt bei ca. 1–8 % pro 100 Bewohner*innentage.21
  • 43 % aller Bewohner*innen in Pflegeeinrichtungen erhalten mindestens ein potentiell inadäquates Arzneimittel19
  • ABP bei älteren Menschen sind in der Regel:
    • potenziell vermeidbar
    • assoziiert mit häufig verschriebenen Medikamenten.20
  • Nichtadäquate medikamentöse Therapie führt zu einem erhöhten Risiko von:
    • arzneimittelbezogenen Problemen (ABP)
    • Zunahme der Morbidität 
    • Krankenhauseinweisungen 
    • Tod.22-23
  • Ca. 50 % der ABP-assoziierten Krankenhauseinweisungen sind vermeidbar.20,24
  • Arzneimittel, die am häufigsten zu vermeidbaren Krankenhauseinweisungen führen:
    • Antihypertensiva
    • Antikoagulanzien
    • Diuretika
    • NSAID
    • Neuroleptika
    • Antidepressiva
    • Benzodiazepine.20,25
  • Risiko sogenannter Verordnungskaskaden durch unerwünschte Arzneimittelwirkung.
    • Ein verordnetes Arzneimittel (das Auslöser-Arzneimittel) ruft eine UAW hervor, zu deren Behandlung ein Folge-Arzneimittel verordnet wird.
    • Das Folge-Arzneimittel kann zu weiteren UAW führen.
      • Beispiel: Diuretika zur Behandlung peripherer Ödeme, die durch Dihydropyridin-Ca-Antagonisten (wie etwa Amlodipin) ausgelöst wurden. Das Diuretikum löst eine Hypokaliämie aus, die dann mit einem kaliumsparenden Diuretikum therapiert wird.26

Nebenwirkungen 

  • Nebenwirkungen (NW) (Adverse Drug Reaction; ADR), sind Wirkungen, die neben der beabsichtigten Hauptwirkung eines Arzneimittels auftreten. Die unerwünschte Arzneimittelwirkung (UAW) wird synonym verwendet.27
    • Nebenwirkungen: schädliche und unbeabsichtigte Reaktionen auf das Arzneimittel.
    • Schwerwiegende Nebenwirkungen:
      • tödliche Folge oder lebensbedrohend 
      • stationäre Behandlung oder Verlängerung einer stationären Behandlung erforderlich
      • Folge bleibender oder schwerwiegender Behinderung, Invalidität .28
  • Die Studiendaten zur Prävalenz von Nebenwirkungen bei älteren Menschen divergieren stark je nach Studiendesign (ca. 5–24 %).20
  • Häufige Nebenwirkungen sind z. B.:
  • Nebenwirkungen sind oft schwer von altersbedingten Beschwerden bzw. Erkrankungen abzugrenzen.20
  • Häufige Ursachen von Nebenwirkungen sind z. B.:
    • fehlerhafte Anwendung (z. B. Dosierung) von Medikamenten
    • Interaktion zwischen verschiedenen Medikamenten.
  • Häufige unerwünschte Folgen von Medikamentennebenwirkungen sind z. B.:
  • Die Sturzgefahr ist häufig assoziiert mit der Einnahme von z. B.:
    • Benzodiazepinen
    • Neuroleptika
    • Antidepressiva
    • Antihypertensiva.20,29,32
  • Ca. 7 % aller Ursachen für Krankenhauseinweisungen auf internistische Stationen sind schwere Arzneimittelwirkungen.33 
  • Zu Medikamenten, die häufig Nebenwirkungen verursachen, siehe Polypharmazie im Alter

Interaktionen

  • Die Wahrscheinlichkeit von Wechselwirkungen steigt mit der Zahl eingenommener Medikamente.3,33
  • Elektronische Verordnungssysteme sollten bei der Arzneimittelverschreibung zur besseren Vorhersage möglicher pharmakodynamischer Wechselwirkungen genutzt werden.33
  • Siehe auch arznei-telegramm.de

Strategien für eine adäquate medikamentöse Behandlung

Allgemeines

  • Der gesamte Abschnitt basiert, soweit nicht anders gekennzeichnet, auf dieser Referenz.6
  • Leitfragen des MAI (Medication Appropriateness Index) als Hilfestellung zur Medikationsbewertung heranziehen.
  • Keine Therapie ohne Medikamentenanamnese durchführen (nach früheren Unverträglichkeiten, Selbst- und Mitbehandler*innenmedikation fragen, Medikationsplan prüfen).
  • Patient*innen in die Entscheidung einer Verordnung mit einbeziehen (nicht primär von einem Verordnungswunsch ausgehen, jedoch auch nicht jeden Verordnungswunsch erfüllen).
  • Klären, ob eine Pharmakotherapie überhaupt erforderlich und erfolgversprechend ist.
  • Bei der Verordnungsentscheidung den Langzeitnutzen der Therapie berücksichtigen.
  • Absetzen der Pharmakotherapie, wenn sie nicht mehr nötig ist, keine gewohnheitsmäßigen Dauertherapien durchführen.
  • Bei neuen Patient*innen, nach Krankenhausaufenthalt oder bei zusätzlichen ärztlichen Vorstellungen immer Medikamentenplan neu prüfen und besprechen.
  • Auf unerwünschte Wirkungen achten (Patient*innen Verhaltenshinweise für das Auftreten möglicher Nebenwirkungen geben, überprüfen, ob neue Symptome evtl. UAW darstellen).
  • Verhinderung vermeidbarer Verordnungskaskaden.26

 

Leitlinie: Medication Appropriateness Index (MAI): Medikation – Angemessenheit – Intervention6

  • Fragen zur Medikationsbewertung
    • Indikation
      • Gibt es eine Indikation für das Medikament?
    • Evidenz
      • Ist das Medikament wirksam für Indikation und Patientengruppe?
    • Dosierung
      • Stimmt die Dosierung?
      • Besteht eine relevante Einschränkung der Nieren- oder Leberfunktion?
    • Anwendungssicherheit
      • Sind die Einnahmevorschriften korrekt? (Applikationsmodus, Einnahmefrequenz, Einnahmezeit, Relation zu den Mahlzeiten?)
    • Anwendbarkeit
      • Sind die Handhabung und Anwendungsvorschriften praktikabel?
    • Interaktion
      • Gibt es klinisch relevante Interaktionen mit anderen Medikamenten, mit anderen Krankheiten oder Zuständen?
      • Bestehen kardiale Vorerkrankungen oder eine QT- oder AV-Verlängerung?
      • Gibt es Altersbeschränkungen?
    • Doppelverordnung
      • Wurden unnötige Doppelverschreibungen vermieden?
    • Therapiedauer
      • Ist die Dauer der medikamentösen Therapie (seit wann verordnet?) adäquat?
    • Wirtschaftlichkeit
      • Wurde die kostengünstigste Alternative vergleichbarer Präparate ausgewählt?
  • Zusätzlich zu prüfen:
    • Unterversorgung: Wird jede behandlungsbedürftige Erkrankung therapiert?
    • Einnahmeplan: Liegt ein aktueller und schriftlicher Einnahmeplan vor?
    • Vermeidung von UAW: Ist die Nierenfunktion bekannt? 
    • Adhärenz: Ist die Adhärenz zur Therapie gegeben?

Polypharmazie

  • Siehe auch Artikel Polypharmazie im Alter.
  • Strukturiertes Medikamentenmanagement unter Einbeziehen der Patient*innen zur Erhöhung der allgemeinen Arzneimitteltherapiesicherheit, einschließlich Polypharmazie34
  • Planung der Verlaufskontrolle (klinische Untersuchung und Laboranalyse) mit regelmäßiger
    • Kontrolle des therapeutischen Ziels
    • Priorisierung von Medikamenten auf Basis des Gesamtgesundheitszustandes der Patient*innen
    • Überprüfung der Indikation für die Fortführung der Therapie, Wirksamkeit und des Nutzen-Risikos.
    • regelmäßiger Medikamentencheck
    • Die richtige Arzneimittelanwendung überprüfen.
      • mindestens einmal jährlich bei Personen über 75 Jahre
      • Mindestens alle 6 Monate bei Personen, die 4 oder mehr verschiedene Medikamente einnehmen.
      • nach jedem Krankenhausaufenthalt
    • Unnötige oder inadäquate Therapie beenden und ggf. gegen geeignetere Arzneimittel austauschen.
    • Dosierung anpassen, insbesondere bei Patient*innen > 65 und/oder eingeschränkter Nierenfunktion ggf. langsame Reduktion oder Absetzen erwägen.
    • Arzneimittelnebenwirkungen und Interaktionen erfassen.

Medikamenteninteraktionen

Verschreibungsempfehlungen

  • Bewohner*innen einer Pflegeeinrichtung sind eine besonders vulnerable Bevölkerungsgruppe mit einem hohen Risiko für Medikamentennebenwirkungen und -interaktionen.3
  • Besonders zu Beginn einer medikamentösen Therapie sollten die Arzneimittel sorgfältig bewertet und ausgewählt werden.
  • Es existieren verschieden nationale und internationale Klassifikationen, die das Ziel haben, potenziell inadäquate Arzneimittel zu identifizieren und deren Einsatz zu vermeiden, z. B.:
    • STOPP-/START-Kriterien für ungeeignete (STOPP) und geeignete (START) Arzneimittel36-37
    • PRISCUS-Liste (deutsche PIM-Liste)38
    • Beers List39
    • Medication Appropriateness Index (MAI)
    • FORTA-Liste (deutsche Liste) zur Überwachung und Optimierung einer Arzneimitteltherapie.40-41
  • Checklisten und andere Werkzeuge sind als Verschreibungshilfen nützlich, können und sollen jedoch nicht die ganzheitliche klinische Beurteilung ersetzen.

Strategie zum Absetzen von Medikamenten

  • Immer nur jeweils ein Medikament absetzen.
  • Sich genug Zeit nehmen.
  • Vor allem während und kurz nach dem Absetzen für ausreichend engmaschige Kontrolluntersuchungen sorgen.
  • Unterstützung bietet das kanadische Absetztool MedStopper sowie das ARRIBA-Modul MediQuit.

Die letzte Lebensphase

  • Bei Menschen in der letzten Lebensphase sollte der Medikationsprozess die Lebenserwartung, das therapeutischen Ziel und die potenziellen therapeutischen Vorteile berücksichtigen.42
  • Die optimale medikamentöse Therapie während der letzten Lebensphase beinhaltet eine allmähliche Verlagerung des Schwerpunkts von einer kurativen zu einer palliativen Therapie (siehe Artikel Palliativversorgung in Pflegeeinrichtungen).
  • Die erwartete therapeutische Wirkung und der Zeitraum, in dem die Wirkung eintreten wird, sollten gegen das übergeordnete Behandlungsziel und die verbleibende Lebenserwartung abgewogen werden.42
    • Medikamente wie z. B. Lipidsenker und Bisphosphonate können in der Regel abgesetzt werden.
  • Medikamente gegen z. B. Schmerzen, Atemnot, Angst, Übelkeit und Unruhe können sterbenden Patient*innen auch subkutan verabreicht werden (siehe auch Artikel Palliativversorgung in Pflegeeinrichtungen).

Interdisziplinäre Zusammenarbeit

  • Die Pflegenden sollten, soweit möglich, in den Medikationsprozess eingebunden werden, dabei sind z. B. auch Einnahmeprobleme, mangelnde Adhärenz und Nebenwirkungen zu erfragen und zu besprechen.6
  • Pflegende sollten über die Therapie informiert werden und dadurch wichtige Parameter beobachten und Komplikationen erkennen können.6
  • Ressourcenknappheit erschwert die kontinuierliche Beobachtung von Patient*innen in Pflegeeinrichtungen insbesondere von Demenzkranken.
  • Standardisierte Verfahren wie z. B. die Cornell-Skala für Depression bei Demenz (CSDD) ermöglichen ein Routinescreening insbesondere in Pflegeinrichtungen.43
    • Die Skala dient der Dokumentation von Indikation und therapeutischer Effektivität.
  • Eine gute Zusammenarbeit zwischen Ärzt*innen und Pflegepersonal ist von entscheidender Bedeutung für die adäquate Verschreibung von Psychopharmaka.44

Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS)

  • Umfasst den gesamten Prozess von der Verordnung bis hin zur Applikation.44
  • Optimierung und Verbesserung der AMTS z. B. durch:
    • das Zusammenwirken verschiedener Personen und Professionen
    • interprofessionelle Kommunikation und Kooperation
    • Unterstützung durch Pharmazeut*innen/Apotheker*innen
    • einen schriftlichen Medikationsplan für Patient*innen.44
  • Seit 01.10.2016 hat jeder gesetzlich Versicherte mit ≥ 3 Medikamenten Anspruch auf einen Medikationsplan, seit 2018 in elektronischer Form.44

Schlussfolgerungen

  • Die allgemeine Tendenz für Polypharmazie bei Menschen > 65 Jahre ist steigend.1
  • Einer der größten Risikofaktoren für arzneimittelbezogene Probleme (ABP) in dieser Altersgruppe und insbesondere in Pflegeeinrichtungen ist die Polypharmazie und damit verbunden eine erhöhte Verschreibung inadäquater Medikation.3,19
  • Effektive Maßnahmen zur Verbesserung der Verschreibungsqualität umfassen z. B.:
    • die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Ärzt*innen, Pflegepersonal und ggf. Pharmazeut*innen
    • die regelmäßige und systematische Arzneimittelprüfung
    • die gezielte Ausbildung des gesamten Behandlungsteams.

Patient*inneninformationen

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Quellen

Leitlinien

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  • Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Medikamentenmonitoring. AWMF-Leitlinie Nr. 053-037. S1, Stand 2013. www.awmf.de
  • Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN). Demenzen. AWMF-Leitlinie Nr. 038-013. S3, Stand 2016 (abgelaufen). www.awmf.de

Literatur

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Autor*innen

  • Franziska Jorda, Dr. med., Fachärztin für Viszeralchirurgie, Ärztin in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Kaufbeuren
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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