Harninkontinenz bei Männern

Zusammenfassung

  • Definition:Unwillkürlicher Harnverlust. Aus klinisch-urologischer Sicht unterscheidet man Belastungs-/Stress-, Drang-, Misch-, Überlauf- und Reflexinkontinenz, bei den neurogenen Inkontinenzformen Detrusorhyperaktivität (Reflexinkontinenz) supraspinal und spinal, Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie, hypokontraktilen Detrusor und hypoaktiven Sphinkter.
  • Häufigkeit:Selten bei jungen Männern; die Prävalenz steigt mit dem Alter. 2 % der 45- bis 64-Jährigen haben eine schwere Inkontinenz, bei den über 65-Jährigen verdoppelt sich der Anteil.
  • Symptome:Wiederholtes unwillkürliches Einnässen, evtl. Miktionsstörungen und sexuelle Dysfunktion. Beeinträchtigung der Lebensqualität, Vermeidung sozialer Kontakte, Beeinträchtigung des Sexuallebens.
  • Befunde:Je nach Inkontinenztyp unterschiedlich. Restharn? Harnträufeln? Erschwerte Miktion? Harnabgang beim Husten?
  • Diagnostik:Miktions-, Stuhl- und Sexualanamnese, Allgemeinzustand, Inspektion des Genitales, digital-rektale Untersuchung, neurologische Untersuchung, Miktionskalender, Urin- und Blutuntersuchungen, sonografische Restharnmessung; ggf. Zystoskopie und urodynamische Untersuchungen in der urologischen Praxis.
  • Therapie:Zentral für die Behandlung ist die Erhaltung der Lebensqualität. Eigenbehandlung, evtl. in Kombination mit der Einnahme von Anticholinergika. Bei einigen Patienten kann eine chirurgische Intervention indiziert sein.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Miktionsbeschwerden bei Männern wurden früher als „Prostatismus” bezeichnet.
    • Diese Bezeichnung ist international nicht mehr üblich. Aufgrund verbesserter Kenntnisse über die Physiologie und die Pathophysiologie der unteren Harnwege wird heute der Sammelbegriff „Lower Urinary Tract Symptoms” (LUTS) verwendet.1
  • Es gibt zwei Formen der LUTS:
    1. pathologische Transportfunktion, Retention
    2. pathologische Lagerungsfunktion, Inkontinenz.
  • Bei einer Inkontinenz kommt es zu einem unwillkürlichen Harnverlust, wenn der Druck in der Harnblase den maximalen Druck in der Harnröhre (Urethra) übersteigt.

Klassifizierung2-7

  • Urologisch-symptomorientierte Einteilung
    • Dranginkontinenz
    • Belastungs-/Stressinkontinenz, 3 Schweregrade nach Ingelmann-Sundberg:8-9
      • Grad 1: Urinverlust beim Husten, Niesen, Pressen und Lachen
      • Grad 2: Urinverlust beim Heben, Laufen und Treppensteigen
      • Grad 3: Urinverlust beim Stehen ohne körperliche Betätigung.
    • Misch(harn)inkontinenz (kombinierte Belastungs- und Dranginkontinenz)
    • Reflexinkontinenz (Detrusorhyperaktivität)
    • Überlaufinkontinenz
      • Die Blase kann nicht oder nicht vollständig entleert werden.
      • Nachträufeln nach dem Wasserlassen
      • bei Männern häufig durch Obstruktion des Harnabflusses, v. a. Prostatahyperplasie
  • Neurogene Blasenfunktionsstörungen, Einteilung nach neuromuskulärem Pathomechanismus6
    • Detrusorhyperaktivität (Reflexinkontinenz) supraspinal und spinal
    • Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie (Detrusor-Sphinkter-Hyperaktvität)
    • hypokontraktiler Detrusor
    • hypoaktiver Sphinkter
  • Sonderformen
    • Inkontinenz durch Reservoirbildung, z. B. Divertikel oder Abszesshöhle
    • Lachinkontinenz10
      • Unwillkürliche und nicht aufhaltbare komplette Blasenentleerung, ausgelöst durch Lachen. Damit unterscheidet sich diese Form der Inkontinenz von der Stressinkontinenz, die zwar auch durch Lachen ausgelöst werden kann, aber nur mit begrenzten Mengen abgehenden Urins einhergeht.
    • Rezidivinkontinenz (nach einer Harninkontinenzoperation wiederkehrende Inkontinenz, ICD-10 N39.47!)5
    • extraurethrale Inkontinenz (Harnverlust durch eine Öffnung außerhalb der Urethra, z. B. eine Fistel; bei Männern selten)

Häufigkeit

  • Es gibt große Schwankungen bei der geschätzten Prävalenz von Harninkontinenz.11-13
  • Ist selten bei jungen Männern.
  • Die Prävalenz steigt ab dem Alter von 60–65 Jahren. Im hohen Alter ist die Prävalenz bei Männern in etwa so hoch wie bei Frauen.
  • Die Inkontinenzrate bei Patient*innen in Pflegeeinrichtungen liegt bei über 50 %.14
  • Die Dranginkontinenz kommt bei Männern am häufigsten vor.
  • Siehe Tabelle Harninkontinenz bei Männern, Prävalenz bei Männern im Verhältnis zu ihrem Alter auf der Grundlage von kombinierten Studienergebnissen.
  • Amerikanische Studien zeigen, dass 10,8 % der Männer über 40 Jahre im vergangenen Jahr über Urinflecken in der Unterwäsche berichteten.11
    • 4,8 % der Männer im Alter von 41–60 Jahren und 8,9 % der Männer über 60 Jahre gaben eine tägliche Harninkontinenz an.
    • 2 % der Männer in der Altersgruppe von 45–64 Jahren und 4 % der Männer über 65 Jahre berichteten von Inkontinenzereignissen, die das Wechseln der Unterwäsche erforderlich machten.
  • Viele von Inkontinenz betroffene Männern leiden an einer überaktiven Blase mit Dranginkontinenz, unabhängig davon, ob eine infravesikale Obstruktion vorliegt oder nicht.15
  • Stressinkontinenz ist bei neurologisch gesunden Männern sehr selten.
    • Die Prävalenz nach einer radikalen Prostatektomie variiert abhängig von der Definition, der Evaluationsmethode und der Harnsammelmethode.16
    • Sie liegt bei 1–40 %.

Disponierende Faktoren

ICPC-2

  • U04 Harninkontinenz

ICD-10

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.5
  • N39.- Sonstige Krankheiten des Harnsystems
  • N39.3 Belastungsinkontinenz (Stressinkontinenz)
  • N39.4- Sonstige näher bezeichnete Harninkontinenz
  • N39.40 Reflexinkontinenz
  • N39.41 Überlaufinkontinenz
  • N39.42 Dranginkontinenz
  • N39.43 Extraurethrale Harninkontinenz
  • N39.47! Rezidivinkontinenz
  • N39.48 Sonstige näher bezeichnete Harninkontinenz
  • R32 Nicht näher bezeichnete Harninkontinenz

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Die Diagnose wird im Wesentlichen auf Grundlage der Anamnese gestellt.

Anamnese

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.22
  • Den Inkontinenztyp, den Schweregrad, den Grad der Beschwerden und weitere LUTS-Beschwerden ermitteln.
  • Miktionsanamnese
    • Miktionsfrequenz am Tag/in der Nacht
    • Miktionsmenge: Werden Vorlagen oder Windeln benutzt? Wie viele täglich? Welche Größe?
    • Inkontinenzmenge und -häufigkeit
    • Körperhaltung während der Miktion
    • Startschwierigkeiten
    • Harnstrahlqualität
    • kontinuierlicher/intermittierender Miktionsverlauf
    • Einsatz der Bauchpresse
    • Dysurie/Algurie
    • Hämaturie
  • Wann, in welcher Situation und wie häufig kommt der Verlust vor?
    • klassische Stressinkontinenz mit Harnverlust bei Husten, Heben, Laufen oder Niesen
    • Dranginkontinenz mit Harnverlust nach starkem und unwiderstehlichem Harndrang ohne Unterbrechungsmöglichkeit
    • Tröpfeln oder kontinuierliches Nässen deuten auf eine komplizierte Harninkontinenz hin (z. B. Überlaufblase oder Harnfistel).
  • Diuresestimulierende Faktoren?
    • Flüssigkeitsaufnahme und Wasserlassen
      • Trinkmenge und Zeit – auch unter Berücksichtigung der Schlafzeit
    • Medikamentenanamnese: Diuretika, andere Medikamente mit diuretischer Nebenwirkung?
    • besonderes Augenmerk auf Kaffee, Alkohol und andere diuretische Genussmittel
  • Stuhlanamnese
    • Stuhlfrequenz
    • Stuhlinkontinenz
    • Stuhlschmieren
    • Obstipation
    • Tritt Stuhldrang früh genug auf, um rechtzeitig zur Toilette zu kommen?
    • Stuhlkonsistenz
    • Teerstuhl
    • Schmerzen beim Stuhlgang?
  • Weitere Informationen
    • Operationen
    • urologische Erkrankungen
    • Vor- oder Begleiterkrankungen
    • Schenkel- oder Leistenhernie?
    • Beinödeme?
    • Sexualanamnese
    • Wie wurde die Inkontinenz bisher behandelt?
    • Lebensqualität, Leidensdruck
    • besonders bei älteren Männern – funktionelle Fähigkeiten und Defizite, z. B.:
      • Mobilität, Fähigkeit zur Durchführung des Toilettengangs
      • Kognition/Demenz-Screening.
  • Fragebögen

Klinische Untersuchung

  • Allgemeinzustand
    • Prüfung von Mobilität und Kognition der (älteren) Patienten
    • Adipositas?
  • Orientierende neurologische Untersuchung
    • Störungen der Sensibilität in den Dermatomen S2-S5 („Reithosengebiet“)?
  • Ggf. Inspektion des äußeren Genitales 
    • Atrophiezeichen
    • Hautirritation,-infektion
    • Fistelöffnungen
  • Abdomen
    • Blasengröße (Blasendistension?)
    • Resistenzen (Tumor?)
    • Narben?
  • Digitale Rektaluntersuchung, siehe auch TrainAMed Digital-rektale Untersuchung (Uni Freiburg).
    • Tonus, Kontraktions- und Relaxationsfähigkeit des Sphinkters
    • verminderter Sphinktertonus als Hinweis auf eine Nervenläsion im Versorgungsgebiet S2–4
    • Palpation der Rektumampulle

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

  • Miktionstagebuch
    • Idealerweise sollte an 2–3 Tagen über 24 Stunden protokolliert werden:
      • Miktionsfrequenz
      • Miktionsvolumen
      • Häufigkeit des Harnverlustes
      • Harndranggefühl
      • Vorlagenverbrauch
      • Trinkmenge
      • Schlaf-Wach-Rhythmus.
  • Sonografie
    • Restharnbestimmung als Screeningmethode zur Erkennung von Blasenfunktionsstörungen empfohlen6
    • ggf. Klärung gezielter Fragestellungen, z. B.:
  • Laborbefunde
  • Optionale Tests
    • Stresstest
      • Urinabgang beim Husten, Niesen oder körperlicher Bewegung (z. B. Kniebeugen) als Hinweis auf eine Belastungsinkontinenz
    • PAD-Test
      • Wiegen der nassen Windel oder Vorlage eines Tages oder einer Nacht, Trockengewicht abziehen.

Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Wenn keine klare Ursache für eine Harninkontinenz vorliegt oder die Primärbehandlung keine Wirkung erzielt, kann eine weitere Diagnostik indiziert sein.
  • Urodynamische Untersuchungen können indiziert sein und sollten insbesondere vor einer operativen Inkontinenzoperation und obligat vor einen Re-Inkontinenzoperation durchgeführt werden.
  • Ggf. Zystoskopie

Indikationen zur Überweisung

  • Mangelnde Wirkung von nichtinvasiven Maßnahmen bei motivierten Patienten
  • Verdacht auf oder manifeste spezifische Erkrankung, z. B. urologische oder neurologische Erkrankung mit Behandlungsindikation
  • Anhaltende Schmerzen beim Wasserlassen
  • Makrohämaturie, die nicht mit einem HWI assoziiert ist.
  • Inkontinenz in Zusammenhang mit Operationen oder Bestrahlungen im Bereich des kleinen Beckens
  • Bei Überlaufinkontinenz mit hoher Restharnmenge oder wenn die Symptome nicht mit einem Anticholinergikum gebessert werden können, sollten die Patienten zur Urologie überwiesen werden.23

Differenzialdiagnosen

Dranginkontinenz7

  • Ursachen
    • idiopathisch: überaktive Blase
      • Viele Männer haben eine primär idiopathisch überaktive Blase.
      • Selbst wenn eine gleichzeitig vorliegende infravesikale Obstruktion behoben wird, können nur 35 % von Drangsymptomen befreit werden.
      • Bei älteren Männern kommen oft degenerative Veränderungen der Blasenmuskulatur dazu.
      • Psychische Faktoren scheinen in vielen Fällen eine entscheidende Rolle zu spielen.
    • symptomatisch bei urologischer Erkrankung, z. B.:
  • Pathomechanismus: Detrusorhyperaktivität, häufig mit Kombination von Drang- und Belastungsinkontinenz
    1. sensorische Dranginkontinenz: Übererregbarkeit der Muskulatur aufgrund lokaler Irritation (z. B. Entzündung)
    2. neurologische (motorische) Dranginkontinenz: in den meisten Fällen Verlust der Inhibition der Muskulatur (z. B. Rückenmarksverletzungen)

Belastungs-/Stressinkontinenz7

  • Aus anatomischen Gründen bei Männern viel seltener als bei Frauen
  • Stressinkontinenz kann auch nach einer transurethralen Resektion der Prostata (TURP) auftreten (bei weniger als 1 %).
  • Die Post-Prostatektomie-Inkontinenz wird meist durch einen direkten Schaden am externen urethralen Sphinkter verursacht, kann aber auch durch eine neurogene Blasendysfunktion begründet sein.16
  • Sphinkterschwäche kann evtl. operativ behandelt werden.

Mischharninkontinenz

Überlaufinkontinenz6,24

  • Wird in der Regel durch chronische Urinretention verursacht.
  • Unkontrollierter Urinverlust bei voller Blase
    • evtl. stetiger tröpfelnder Urinverlust
    • Eine normale, willentliche Blasenentleerung ist erschwert oder nicht möglich.
  • Restharngefühl, rezidivierende Harnwegsinfektionen
  • Mögliche Ursachen7
  • Die Diagnose wird durch Messung des Restharns mit Ultraschall bestätigt.

Reflexinkontinenz6

  • Form der Inkontinenz, die Folge einer neurogenen Detrusorhyperaktivität oder Detrusor-Sphinkter-Hyperaktivität/Dyssynergie ist. Es kommt dabei zum teilweisen oder kompletten Verlust der willentlichen Steuerung der Blasenentleerung.
  • Unterformen
    1. spinale Reflexinkontinenz (Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie)
      • Typisch sind häufig unterbrochener Harnstrahl und Startschwierigkeiten.
      • Die verursachende Läsion der Nervenbahnen liegt auf Höhe des Rückenmarks, sodass die Verbindung zwischen Harnblase und Gehirn gestört oder unterbrochen ist. Der Muskeltonus sowohl in Detrusor als auch im Sphinkter ist reflektorisch erhöht.
      • Die häufigste Ursache für eine spinale Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie ist eine komplette Querschnittlähmung.
      • weitere Erkrankungen mit häufiger Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie: Multisystematrophie, multiple Sklerose, konnatale Fehlbildungen, z. B. Myelomeningozele
    2. supraspinale Reflexinkontinenz (Detrusorhyperaktivität)

Extraurethrale Inkontinenz7

  • Ständiges Harnträufeln aus einer Öffnung außerhalb der Urethra
  • Fast immer Folge von Ureter- oder Blasenfisteln
  • Mögliche Ursachen:
    • Operationen
    • Strahlenbehandlungen
    • Entzündungen
    • Neoplasien.
  • Fistelnachweis klinisch oder in der Bildgebung einschließlich Endoskopie
  • Erfordert in der Regel eine operative Korrektur.
  • Bei Männern selten

Therapie

Therapieziele

  • Korrektur des Harnverlustes
    • Eine Harninkontinenz ist belastend.
    • Die Behandlung kann erheblich zur Verbesserung der Lebensqualität der Betroffenen beitragen.25

Allgemeines zur Therapie

  • Eigenbehandlung, evtl. in Kombination mit der Einnahme von Anticholinergika
  • Behandlung einer Obstipation
  • Wegen des erhöhten Risikos für Harnwegsinfektionen: intermittierende oder dauerhafte Katheterisierung nur in gut begründeten Fällen, z. B. bei therapieresistenter Detrusorinsuffizienz mit Harnretention und Überlaufinkontinenz7

Empfehlungen für Patienten

  • Allgemeine Ratschläge über Hilfsmittel (Vorlagen, Windeln, Schutzhosen, Einlagen)
  • Blasentraining
  • Beckenbodentraining (ggf. Heilmittelverordnung)
  • Flüssigkeitsreduktion, falls indiziert
  • Verminderung von Alkohol- und Koffeinkonsum

Medikamentöse Therapie

  • Diuretische Therapie ggf. absetzen – oder auf eine morgendliche Einnahme begrenzen.
  • Dranginkontinenz kann mit Anticholinergika (z. B. Oxybutynin) behandelt werden.

Therapie spezifischer Inkontinenzformen

Dranginkontinenz bei überaktiver Blase

  • Siehe dort.

Inkontinenz bei Auslassobstruktion22

  • Überlauf- und/oder Dranginkontinenz
  • Ggf. ist zunächst eine intermittierende oder kontinuierliche Katheterisierung zur Entlastung der Harnblase notwendig.
  • Ist eine vergrößerte Prostata die Ursache, dann steht die operative Sanierung im Vordergrund.
    • Näheres zur Wirksamkeit und Sicherheit der operativen und medikamentösen Behandlung von LUTS bei Prostatahyperplasie siehe auch Artikel Benigne Prostatahyperplasie.
  • Die medikamentöse Senkung des Auslasswiderstands reicht dann in der Regel nicht aus. Die Behandlung mit einem prostataselektiven Alpha-1-Rezeptoren-Blocker kommt jedoch in folgenden Situationen infrage:
    • Wenn die obstruktive Inkontinenz neben einer benignen Prostatahyperplasie durch Begleitfaktoren mit verursacht ist, die die Detrusorkontraktilität stören (IV/C) , z. B.:
    • zur Unterstützung der Spontanmiktion im Rahmen eines Katheterauslassversuches nach einem mit Katheter versorgten Harnverhalt (Ia/A)

Iatrogene Belastungsinkontinenz26

  • Ursachen
    • Radikale Prostatektomie und radikale Strahlenbehandlung sind die Hauptursachen.
    • Die tatsächliche Prävalenz nach einer radikalen Prostatektomie ist unbekannt; sie wird mit 2–43 % angegeben.27-28
      • Abweichungen bestehen aufgrund unterschiedlicher Definitionen, Harnsammelmethoden und Follow-up-Routinen.
    • Nach einer Prostatektomie tritt bei den meisten Patienten eine vorübergehende Belastungsinkontinenz auf.29
      • Die Prognose ist in der Regel günstig, sofern keine Schädigung des Sphinkters vorliegt.
    • Die Prävalenz von Post-Prostatektomie-Inkontinenz ist beim offenen, konventionellen laparoskopischen Verfahren die gleiche wie beim roboterassistierten laparoskopischen Verfahren.3
  • Prävention
    • präoperative Maßnahmen
      • Instruktionen zum Beckenbodentraining werden gewöhnlich von Physiotherapeut*innen oder Urotherapeut*innen erteilt. Mit dem Ziel, die Inkontinenzperiode zu verkürzen, wird der Patient darauf vorbereitet, nach der Operation allein zu trainieren.
      • Präoperatives Biofeedback-assistiertes Training kann die Inkontinenzperiode verkürzen.
  • Nichtoperative Therapie
    • postoperative Elektrostimulation oder Biofeedback
      • keine Verbesserung der Ergebnisse im Vergleich zum Beckenbodentraining
      • Es fehlt an verlässlichen Wirksamkeitsnachweisen sowohl für das Beckenbodentraining mit und ohne Biofeedback als auch für die Elektrostimulation.30
    • Der Einsatz einer externen Penisklemme kann vorübergehend eine Alternative sein.30
  • Chirurgie
    • Indikation
      • Eine chirurgische Intervention ist bei 6–9 % der Patienten indiziert.31
      • Ein chirurgischer Eingriff ist nicht vor Ablauf von 12 Monaten postoperativ indiziert.
      • Das angewendete chirurgische Verfahren hängt vom Schweregrad der Inkontinenz und von der urologischen Expertise und Erfahrung ab. Die Verfahren bestehen aus diversen Schlingenoperationen32 und der Implantation einer künstlichen Sphinkterprothese.33
      • Die Erfolgsquote für Schlingenoperationen liegt bei 62–91 % und für eine künstliche Sphinkterprothese bei 59–90 %.33
    • Komplikationen
      • Häufige Komplikationen bei Schlingenoperationen sind vorübergehende akute Harnretention (0–15 %), perineale/skrotale Schmerzen, die gewöhnlich innerhalb von 3 Monaten zurückgehen (16–72 %), urethrale Erosion (0–2 %), Infektion der Schlinge oder des Perineums (2–12 %) und eine neu entstandene Detrusor-Überaktivität (0–14 %).32-33
    • künstliche Sphinkterprothese
      • Ist bei schwerer Inkontinenz nach einer radikalen Strahlentherapie der Goldstandard.33
      • Bei 50–75 % der Patienten wird innerhalb von 5 Jahren keine Revision benötigt, und 87–90 % geben an, sehr zufrieden zu sein.
      • Langfristig muss die künstliche Sphinkterprothese bei 8–45 % revidiert werden, und bei 7–17 % wird eine Explantation vorgenommen.

Überlaufinkontinenz bei Detrusorschwäche22

  • Mögliche Ursachen
  • Wenn eine Behebung der Ursache nicht möglich ist, kann versucht werden, die Restaktivität des Detrusors medikamentös zu stimulieren, evtl. in Kombination mit einer medikamentösen oder operativen Senkung des Auslasswiderstands.
    • zur Detrusorstimulation kommen infrage:
      • Cholinester Bethanechol (tgl. 4–8 x 25 mg)
      • Cholinesterasehemmer Distigminbromid (tgl. 5 mg)
    • häufige Nebenwirkungen dieser Substanzklasse:

Neurogene Blasenfunktionsstörungen6

  • Detrusorhyperaktivität
    • Blasentraining
    • Antimuskarinika (Oxybutynin, Propiverin, Tolterodin, Fesoterodin, Trospiumchlorid, Darifenacin, Solifenacin)
      • Therapieversuch über mindestens 4–6 Wochen und mit mindestens 2 unterschiedlichen Präparaten
      • Unter der Behandlung regelmäßige Restharnbestimmung, sonografisch oder durch Katheterisierung, um die Entwicklung einer Detrusorhypoaktivität zu erkennen.
      • Bei zerebralen Funktionsstörungen bevorzugt Trospiumchlorid oder M3-selektive Antimuskarinergika (Darifenacin, Solifenacin) einsetzen.
    • ggf. invasive Verfahren
      • Dauerstimulation von S3
      • Botulinumtoxin-Injektionen in den Detrusor
      • OP: Blasenaugmentation oder Ileum-Conduit
  • Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie (Detrusor-Sphinkter-Hyperaktvität)
    • wiederholte Einmalkatheterisierung, durch den Patienten oder Pflegeperson
      • dabei fortlaufende Restharnbestimmung und ggf. Anpassung der Katheteriserungsfrequenz
    • Antimuskarinika (siehe Detrusorhyperaktivität)
    • ggf. invasive Verfahren
      • Botulinumtoxin-Injektionen in den Detrusor
      • Sakrale Vorderwurzelstimulation (SARS) mit simultaner sakraler Hinterwurzeldeafferenzierung (SARD): Bei kompletter Querschnittlähmung, die seit mindestens 1, aber möglichst nicht länger als 5 Jahre besteht.
      • komplette Sphinkterotomie
      • OP: Blasenaugmentation oder Ileum-Conduit
  • Hypokontraktiler Detrusor (Überlaufinkontinenz bei neurogener Detrusorschwäche)
    • suprapubische Harndauerableitung
    • unterstützende medikamentöse Therapie siehe Abschnitt Überlaufinkontinenz bei Detrusorschwäche
    • ggf. Dauerstimulation von S3
    • intravesikale Elektrotherapie
    • ggf. wiederholte Einmalkatheterisierung, durch den Patienten oder Pflegeperson
  • Hypoaktiver Sphinkter
    • Beckenbodentraining
    • Biofeedback
    • Duloxetin zur Steigerung des Sphinktertonus?
      • Wirksamkeitsnachweis bislang nur bei Frauen mit leichter bis mittelschwerer Inkontinenz
    • ggf. invasive Verfahren
      • artifizielles Sphinktersystem
      • Bulking Agents wie Silikon, Teflon, Fett oder Kollagen werden transurethral unter den Sphinkter gespritzt.

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Patientenorganisationen

Weitere Informationen

  • Deutsche Kontinenz Gesellschaft: Miktionstagebuch (Toiletten- und Trinkprotokolle)

Video

Illustrationen

Niere − Nebenniere − Harnblase − Harnwege
Niere − Nebenniere − Harnblase − Harnwege
Männliche Geschlechtsorgane
Männliche Geschlechtsorgane
Vergrößerte Prostata
Vergrößerte Prostata

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Geriatrie. S2e-Leitlinie Harninkontinenz bei geriatrischen Patienten, Diagnostik und Therapie. AWMF-Leitlinie Nr. 084-001. S2e, Stand 2019. www.awmf.org
  • Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Diagnostik und Therapie von neurogenen Blasenstörungen. AWMF-Leitlinie Nr. 030-121. S1, Stand 2020. www.awmf.org

Literatur

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Autor*innen

  • Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
  • Matthias Löber, Dr. med., Facharzt für Innere Medizin in der hausärztlichen Versorgung, Göttingen (Review)
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikel basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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