Akute kardiale Brustschmerzen

Allgemeine Informationen

Definition

Allgemeine Definition des Brustschmerzes gemäß DEGAM

  • Brustschmerz bezeichnet eine Schmerzempfindung im weiteren Sinne (auch Brennen, Druckgefühl, Ziehen, Stechen, Missempfindung) im Bereich des vorderen und seitlichen Thorax.1

Typische kardiale Brustschmerzen2-3

  • Retrosternales Schmerz-, Druck- oder Schweregefühl („Angina“)
  • Ausstrahlung in den linken Arm (seltener in beide Arme oder in den rechten Arm), den Hals oder den Kiefer
  • Intermittierend (in der Regel mehrere Minuten anhaltend) oder persistierend

Ätiologie

Häufigkeit auf der hausärztlichen Versorgungsebene

Diagnostisches Vorgehen durch Hausärzt*innen

Dreistufiges Vorgehen bei der Abklärung eines Brustschmerzes gemäß DEGAM-Leitlinie

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1
  1. Ersteinschätzung: Liegt eine vitale Bedrohung vor?
  2. Beurteilung der Wahrscheinlichkeit eines ACS/einer KHK
  3. Abklärung nicht-kardialer Ursachen

Ersteinschätzung: Vitale Bedrohung?

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1,5
  • Ersteinschätzung der Situation beruht auf:
    • den Umständen der Konsultation
      • dringlicher Hausbesuch
      • ängstliche Angehörige
    • dem ersten Eindruck von der Patientin/dem Patienten
      • Bewusstseinszustand
      • Atemnot
      • Hautkolorit
      • Angst
    • der fokussierten Anamnese/Untersuchung
      • (unmittelbar vorangegangene) Synkope oder Kollaps
      • Kaltschweißigkeit
      • hämodynamische Zeichen des Kreislaufversagens (Schockindex = Puls/syst. Blutdruck > 1).
  • Ggf. sind Maßnahmen der Erstversorgung bzw. lebensrettende Maßnahmen zu ergreifen.

Evaluation akutes Koronarsyndrom/KHK

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1,5
  • Bei nicht unmittelbar pathologischen Vitalparametern erfolgt die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit von ACS/KHK als häufigster Ursache für einen abwendbar bedrohlichen Verlauf.
  • Die Anamnese erfolgt primär hinsichtlich:
    • der Beurteilung der Wahrscheinlichkeit einer KHK
    • ggf. der Beurteilung der Wahrscheinlichkeit eines ACS
    • der psychosozialen Einschätzung.

Beurteilung der Wahrscheinlichkeit einer stenosierenden KHK (Marburger Herz-Score)

  • Die DEGAM empfiehlt für die Bestimmung der Wahrscheinlichkeit einer stenosierenden KHK den Marburger Herz-Score, der für den allgemeinärztlichen Bereich entwickelt wurde.1
  • Erfasst werden 5 Kriterien (jeweils 1 Punkt bei positivem Kriterium):
    1. Alter/Geschlecht (Männer ≥ 55 J. und Frauen ≥ 65 J.)
    2. bekannte vaskuläre Erkrankung
    3. Beschwerden belastungsabhängig
    4. Schmerzen durch Palpation nicht reproduzierbar
    5. Patient*in vermutet Herzkrankheit als Ursache.
  • Wahrscheinlichkeit für stenosierende KHK:4
    • 0–2 Punkte: < 2,5 %
    • 3 Punkte: ca. 17 %
    • 4–5 Punkte: ca. 50 %.
  • Bei der Interpretation des Marburger Herz-Scores sollte immer auch das klinische Gesamtbild berücksichtigt werden4

Beurteilung der Wahrscheinlichkeit eines akuten Koronarsyndroms (ACS)

  • Bei Patient*innen mit mittlerer bis hoher Wahrscheinlichkeit für eine KHK (Marburger Herz-Score > 2 Punkte) sollte die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen eines ACS beurteilt werden.
  • Kriterien, die für ein ACS sprechen:
    • neu aufgetretene Beschwerden in Ruhe
    • Beschwerdedauer in Ruhe > 20 min
    • Crescendo-Angina
    • Patient*in ist anders als sonst.
    • Patient*in „gefällt“ Ihnen nicht.
    • Sie/er ist kaltschweißig.
    • Sie/er ist blass.
  • Kriterien, die gegen ein ACS sprechen:
    • Der Thoraxschmerz ist nicht der eigentliche Beratungsanlass.

Psychosoziale Beurteilung

  • Parallel zur somatischen Beurteilung sollte die Anamnese auch Grundlage für eine psychosoziale Einschätzung sein.
    • Vermutungen der Patient*innen über die Ursache der Beschwerden?
    • Beeinträchtigung im Alltag?
    • Psychosoziale Einflussfaktoren?

Körperliche Untersuchung

  • Untersuchung von Herz, Lunge und Brustwand
    • Puls (Frequenz, Rhythmus)
    • Blutdruck
    • Herzgeräusch
    • Extratöne
    • Atemfrequenz
    • Lungenstauung
    • Reproduzierbarkeit des Schmerzes durch Palpation/tiefe Inspiration
  • Weitergehende körperliche Untersuchung nur bei entsprechenden Hinweisen

EKG

Labor

  • Evtl. Troponin-Schnelltest
    • hohe Spezifität
    • niedrige Sensitivität (Anstieg erst nach Stunden)

Evaluation nicht-kardialer Ursachen

Maßnahmen in der Hausarztpraxis

  • Der gesamte Abschnitt basiert, sofern nicht anders gekennzeichnet, auf dieser Referenz.1

Bei V. a. ACS

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1,5,7
  • Lagerung mit 30 Grad angehobenem Oberkörper
  • Zugang i. v.
  • Nach Eintreffen des Rettungswagens: Monitoring des Herzrhythmus und Sauerstoff (2–4 l/min), falls Atemnot oder andere Zeichen der Herzinsuffizienz
  • ASS 500 mg i. v. oder oral, falls nicht bereits Dauermedikation
  • Nitroglyzerin (Spray oder Kapsel s. l.), sofern RR syst. > 100 mmHg
  • Bei starken Schmerzen Morphin 5 mg i. v.; ggf. wiederholt bis Schmerzfreiheit
  • Bei (opiatbedingter) Übelkeit 10 mg Metoclopramid i. v. oder 62 mg Dimenhydrinat i. v.
  • Heparin 5.000 IE i. v. oder Enoxaparin-Na, 1 mg/kg KG mg s. c. bei Vorliegen ischämiebedingter EKG-Veränderungen oder erhöhter Enzymmarker
  • Bei Bradykardie < 45/min 1 Amp. Atropin 0,5 mg i. v.
  • Einweisung in kardiologische Abteilung mit Katheterbereitschaft

Bei V. a. KHK

  • Koordination durch die Hausärzt*innen abhängig von den regionalen Gegebenheiten
    • Überweisung zur weiteren Abklärung an die Kardiologie – oder –
    • Koordination der weiteren ambulanten Diagnostik bzw.
    • eigene Durchführung von Teilen der ambulanten Diagnostik (Belastungs-EKG).
  • Beratende Funktion der Hausärzt*innen: Aufklärung über verschiedene Möglichkeiten zur Abklärung
  • Steuernde Funktion der Hausärzt*innen: Wahl eines bestimmten Verfahrens zur weiteren Abklärung und ggf. Überweisung an entsprechende Spezialist*innen

Indikationen zur Krankenhauseinweisung

  • Bei Verdacht auf ACS
  • Bei V. a. andere Grunderkrankung mit abwendbar gefährlichem Verlauf

Weitere Abklärung im Krankenhaus

Chest Pain Units

  • Eine weitere Verbesserung der Versorgung von Patient*innen mit akutem Brustschmerz soll durch die flächendeckende Einrichtung von sog. „Chest Pain Units“ erzielt werden.
  • Ziel ist die rasche und zielgerichtete Abklärung eines akuten oder neu aufgetretenen unklaren Thoraxschmerzes.8
    • Nutzen in Bezug auf:8
      • Prognose
      • Liegedauer
      • Kosten.
  • Seit 2008 Zertifizierung von mehr als 250 Einrichtungen als „Chest Pain Unit“9
  • Räumliche, apparative und personelle Voraussetzungen8
    • Integration in eine Notaufnahmeeinheit mit ständiger Verfügbarkeit von definierten Kapazitäten
    • Leitung durch Kardiolog*innen
    • mindestens 4 Überwachungsplätze
    • Verfügbarkeit 365 Tage/24 h
    • Herzkatheterlabor mit Verfügbarkeit 365 Tage/24 h
    • enge Verzahnung mit Reanimations- und Notfallkonzept des Hauses

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Brustschmerz. AWMF-Leitlinie Nr. 053-023. S3, Stand 2011. www.awmf.org
  • Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Neue Thrombozyten-Aggregationshemmer, Einsatz in der Hausarztpraxis. DEGAM-Leitlinie Nr. 16. AWMF-Leitlinie Nr. 053-041. S2e, Stand 2019. www.awmf.org
  • Bundesärztekammer, Kassenärztliche Bundesvereinigung, Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften. Nationale VersorgungsLeitlinie Chronische KHK. 5. Auflage, Stand 2019. www.awmf.org
  • Deutsche Gesellschaft für Kardiologie. Pocket-Leitlinie: Akutes Koronarsyndrom ohne ST-Hebung (NSTE-ACS). Stand 2020. www.dgk.org
  • European Society of Cardiology. Guidelines for the management of acute coronary syndromes in patients presenting without persistent ST-segment elevation. Stand 2020. www.escardio.org

Literatur

  1. Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Brustschmerz. AWMF-Leitlinie 053-023. S3, Stand 2011. www.degam.de
  2. Deutsche Gesellschaft für Kardiologie. Pocket-Leitlinie: Akutes Koronarsyndrom ohne ST-Hebung (NSTE-ACS). Stand 2020. leitlinien.dgk.org
  3. European Society of Cardiology. Guidelines for the management of acute coronary syndromes in patients presenting without persistent ST-segment elevation, Stand 2020. www.escardio.org
  4. Bundesärztekammer, Kassenärztliche Bundesvereinigung, Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften. Nationale VersorgungsLeitlinie Chronische KHK. 5. Auflage. AWMF-Nr nvL-004. Stand 2019. www.leitlinien.de
  5. Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Brustschmerz. Kurzfassung der AWMF-Leitlinie 053-023, Stand 2011. www.degam.de
  6. Speake D, Terry P. Towards evidence based emergency medicine: best BETs from the Manchester Royal Infirmary. First ECG in chest pain. Emerg Med J 2001; 18: 61-62. doi:10.1136/emj.18.1.61-a DOI
  7. Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Neue Thrombozyten-Aggregationshemmer, Einsatz in der Hausarztpraxis. DEGAM-Leitlinie Nr. 16. AWMF-Nr 053-041. Stand 2019. www.awmf.org
  8. Post F, Giannitsis E, Darius H. Kriterien der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung für „Chest Pain Units“. Kardiologe 2015; 9: 171-181. doi:10.1007/s12181-014-0646-0 DOI
  9. Deutsche Gesellschaft für Kardiologie. CPU - Zertifizierung von Chest Pain Units. cpu.dgk.org

Autor*innen

  • Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.
  • Stefan Bösner, Prof. Dr. med., MPH, DTM&H, Arzt für Allgemeinmedizin, Abteilung für Allgemeinmedizin, Präventive und Rehabilitative Medizin, Marburg (Review)
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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