Myxödemkoma (hypothyreotes Koma)

Zusammenfassung

  • Definition:Lebensbedrohliche Komplikation einer Hypothyreose.
  • Häufigkeit:Sehr selten, etwa 1 Fall auf 1.000.000 Patient*innen pro Jahr.
  • Symptome:Bewusstseinsstörung, Hypothermie, Hypoventilation.
  • Befunde:Hypotonus, Bradykardie, Myxödem (teigige Hautschwellung), Vigilanzminderung.
  • Diagnostik:FT4, TSH und Kortisol.
  • Therapie:Intensivmedizinische Überwachung, Substitution der Schilddrüsenhormone.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Das Myxödemkoma (hypothyreotisches Koma) ist eine seltene, lebensbedrohliche Komplikation der Hypothyreose, die eine notfallmedizinische Behandlung erfordert.1

Häufigkeit

  • Ausgesprochen seltenes Krankheitsbild
    • Inzidenz 0,22–1,1 Fälle auf 1 Mio./Jahr2-3
  • Meist sind ältere Patient*innen, insbesondere Frauen, betroffen.
    • Durchschnittsalter 77 Jahre
    • Verhältnis Frauen zu Männern 2:13
  • Gehäuft im Winter4

Ätiologie und Pathogenese

  • Das Myxödemkoma entwickelt sich aus einer unbehandelten Hypothyreose.
  • Bei einer schweren Hypothyreose sind die Funktionen sämtlicher Organsysteme des Körpers und die Aktivität vieler Stoffwechselprozesse herabgesetzt.
  • Dadurch kommt es zur Hypothermie, Hypoventilation und Bewusstseinseintrübung bis hin zum Multiorganversagen und Tod.
  • Häufigste Ursache in Mitteleuropa ist das Absetzen einer Schilddrüsenhormonsubstitution ohne Indikation.5
    • Überdosierungen von Thyreostatika oder sekundäre Formen sind Ausnahmen.
  • Trigger, die eine Dekompensation der Hypothyreose auslösen können:
    • Infektion, Herzinfarkt, Kälteexposition, Trauma, Operation oder die Verabreichung von Medikamenten (Sedativa, Narkosemittel, Antidepressiva, Opiate)6-7

ICPC-2

  • T86 Hypothyreose / Myxödem

ICD-10

  • E03.5 Myxödemkoma

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Im Vorfeld häufig unspezifische Symptomatik wie bei einer Hypothyreose
  • Im dekompensierten Stadium der Hypothyreose Bewusstseinstrübung (manchmal mit Krämpfen), Hypothermie und Hypoventilation
  • Laborchemische Bestimmung der TSH- und FT4-Werte
  • Differenzialdiagnostisch sollte immer eine Addison-Krise ausgeschlossen werden.5
  • Score nach Chiong et al. zur Erleichterung der Diagnosestellung8
    • Sensitivität und Spezifität von etwa 80 %

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Häufig ist eine Anamnese aufgrund der Vigilanzminderung nicht mehr möglich.
  • Die Symptome bei einer Hypothyreose sind unspezifisch und können sich in diverser und auch gering ausgeprägter Form äußern, z. B.:9
    • Gewichtsveränderungen
    • Müdigkeit
    • Haut-/Haarveränderungen
    • Konzentrationsstörungen
    • Kälteintoleranz
    • Menstruationsstörungen
    • Obstipation
  • Wichtige Fragen zur Vorgeschichte:5
    • Stattgehabte Thyreoidektomie?
    • Radiojodtherapie?
    • Frühere Schilddrüsenhormonsubstitution?
  • Auslösende Faktoren eruierbar?
    • Infektionen
    • Operationen/Narkosen
    • Medikamente
    • Traumata
    • Magen- und Darmblutungen
    • Schlaganfall
    • Herzinfarkt
    • Kälteexposition

Klinische Untersuchung

  • Typischerweise neurologische oder psychiatrische Auffälligkeiten plus Hypothermie5
    • leichtere Störungen der Vigilanz bis Koma und weitere neurokognitive Störungen (Desorientiertheit, Depression, Lethargie, Pseudo-Demenz und Kleinhirnsymptome)
    • Es sind auch aktivere Zustände bis hin zu Psychosen („Myxedema Madness“) beschrieben.
  • Vielfältiges klinisches Bild, klassische Befunde umfassen u. a.:5
    • aufgedunsenes Gesicht und Hände (hervorgerufen durch ein nicht-eindrückbares Ödem durch interstitielle Mukopolysaccharid-Einlagerungen = Myxödeme)
    • Bradykardie
    • Hypoventilation
    • Hypotonie

Ergänzende Untersuchungen

Labor

  • Freies T4, TSH und morgendlicher basaler Kortisolspiegel
    • Durch den Nachweis erhöhter TSH- und erniedrigter FT4-Werte kann die Diagnose primäre Hypothyreose bestätigt werden.9
    • Liegen ein normaler TSH- und ein erniedrigter FT4-Spiegel vor, kann dies auf eine metabolische Anpassung infolge einer anderen schweren Erkrankung wie einer hypothalamischen oder hypophysären Dysfunktion zurückzuführen sein (zentrale Hypothyreose).
    • Bestimmung des Kortisols im Serum zum Ausschluss einer Addison-Krise
  • Natrium, Glukose, BGA (pO2, pCO2)
    • Oft Hyponatriämie, kann zu geistiger Verwirrtheit beitragen.
      • Insbesondere bei Hyponatriämie sollte durch Bestimmung von Kortisol vor der Gabe von Schilddrüsenhormonen eine Nebenniereninsuffizienz ausgeschlossen werden.6
    • meist Hypoglykämie
    • typischerweise Hypoxie und Hyperkapnie durch Hypoventilation

EKG

  • In der Regel Bradykardie, manchmal mit AV-Block5

Score nach Chiong et al.

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.8

Kriterien

  • Glasgow Coma Scale (GCS)
    • 3–10: 4 Punkte
    • 11–13: 3 Punkte
    • 14: 2 Punkte
    • 15: 0 Punkte
  • TSH
    • > 30 mU/ml: 2 Punkte
    • 15–30 mU/ml: 1 Punkt
    • < 15 mU/ml: 0 Punkte
  • FT4
    • erniedrigt: 1 Punkt
  • Hypothermie unter 35 °C
    • ja: 1 Punkt
  • Bradykardie unter 60/min
    • ja: 1 Punkt
  • Auslösendes Ereignis, z. B. Infektion, Sepsis, GI-Blutung, Trauma usw.
    • ja: 1 Punkt

Auswertung

  • Punktwert 8–10: Myxödemkoma hochwahrscheinlich; Therapieeinleitung empfohlen
  • Punktwert 5–7: Myxödemkoma wahrscheinlich; Therapieeinleitung empfohlen, wenn es keine andere plausible Ursache für die Störung gibt.
  • Punktwert < 5: Myxödemkoma unwahrscheinlich

Indikationen zur Klinikeinweisung

  • Bei Verdacht auf Myxödemkoma umgehend Krankenhauseinweisung!

Therapie

Allgemeines zur Therapie

  • Die Behandlung soll so schnell wie möglich eingeleitet werden.
  • Das Myxödemkoma wird mit Substitution der Schilddrüsenhormone, mit intensivmedizinischer Sicherung der Vitalfunktionen und mit weiterer supportiver Therapie behandelt.5

Allgemeine Maßnahmen

  • Die Angaben basieren auf nachfolgender Referenz.5
  • Hypotonie: Volumengabe (Cave: Hyponatriämie!) und ggf. Katecholamine 
  • Hypothermie: langsame passive externe Erwärmung
  • Hypoventilation: frühzeitige invasive Beatmung
  • Hypoglykämie: Ausgleich Blutzuckerspiegel
  • Auslösende oder parallel bestehende aggravierende Erkrankungen wie Infektionen behandeln.
  • Sedativa vermeiden.

Medikamentöse Therapie

  • Die Substitution von Schilddrüsenhormonen als Therapie des Myxödemkomas ist unstrittig und muss rasch erfolgen. Ob sie nur mit T4 oder mit einer Kombination aus T4 und T3 durchgeführt werden soll, wird kontrovers diskutiert.5

Schilddrüsenhormone

  • Mögliche Therapieschemata5
  • Schema 1
    • Nur L-Thyroxin (T4) substituieren.
    • Dosis: initial 200–500 μg i. v. oder 500 μg p. o., gefolgt von 1,5 μg/kg KG/d
    • keine Gabe von T3
      • erhöhtes Risiko von Herzrhythmusstörungen und myokardialen Ischämien
  • Schema 2
    • zusätzlich Substitution von T3
      • Vorteile: schnellere Wirkung v. a. bei einer gestörten Konversion von FT4 zu FT3
      • Nachteile: o. g. kardiovaskuläre Komplikationen
    • initial 5–20 μg, dann 2,5–10 μg alle 8 h

Hydrokortison5

  • Einige Autor*innen empfehlen die initiale Verabreichung von Hydrokortison wegen relativer Nebennierenrindeninsuffizienz bei schwerer Erkrankung oder koinzidenter primärer Nebennierenrindeninsuffizienz.
  • Andere Autor*innen lehnen dies wegen der Konversionshemmung von FT4 zu FT3 ab, um den Mangel an biologisch aktiven Schilddrüsenhormonen nicht zu aggravieren.
  • Eine rasche Abklärung bezüglich eines evtl. bestehenden Kortisolmangels ist daher sinnvoll.

Prävention

  • Elektive operative Eingriffe sollten bei mittlerer bis schwerer Schilddrüsenunterfunktion verschoben werden.10
  • Bei dringenden Operationen sollten Patient*innen mit einer schweren Hypothyreose perioperativ mit Thyroxin oder T3 und Glukokortikoiden i. v. behandelt und Anxiolytika und Sedativa möglichst wenig eingesetzt werden.7

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Unbehandelt kann das Myxödemkoma durch zunehmende Bewusstseinstrübung mit respiratorischem Versagen schnell zum Tod führen.

Komplikationen

Prognose

  • Bei älteren Patient*innen liegt die Mortalität bei 30–50 %.12
  • Patient*innen mit neu aufgetretener Hypothyreose haben ein besseres Outcome als Personen, die bereits mit L-Thyroxin vorbehandelt sind.13
  • Das Risiko steigt bei Patient*innen mit kardiovaskulären Komplikationen, Bewusstseinsstörungen, anhaltender Hypothermie und Sepsis.13
  • Die Höhe des TSH-Wertes korreliert nicht mit der Mortalität.13
  • Als Prädiktor dient der SOFA-Score zur Beurteilung des Schweregrades der Organdysfunktion.13
  • SOFA = Sequential (Sepsis-related) Organ Failure Assessment mit 6 Kriterien:14
    1. Respiration
    2. Gerinnung
    3. Leberfunktion
    4. Herz-Kreislauf-Funktion
    5. ZNS-Funktion (Glasgow Coma Scale)
    6. Nierenfunktion

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). S2k-Leitlinie Erhöhter TSH-Wert in der Hausarztpraxis. AWMF-Leitlinie Nr. 053-046, Stand 2023. www.awmf.org

Literatur

  1. Klubo-Gwiezdzinska J, Wartofsky L. Thyroid emergencies. Med Clin North Am 2012 Mar; 96(2): 385-403. pmid:22443982 PubMed
  2. Zhu Y, Qiu W, Deng M, Zhu X. Myxedema coma: A case report of pediatric emergency care. Medicine (Baltimore). 2017 www.ncbi.nlm.nih.gov
  3. Ono Y, Ono S, Yasunaga H, et al. Clinical characteristics and outcomes of myxedema coma: Analysis of a national inpatient database in Japan. Journal of epidemiology 2017; 27: 117-22. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  4. Sanctis V, Soliman A, Daar S, et al. Myxedema coma in children and adolescents: A rare endocrine emergency - Personal experience and review of literature. Acta Biomed 2021. www.ncbi.nlm.nih.gov
  5. Milkau M, Sayk F. Thyreotoxische Krise und Myxödemkoma. Dtsch Med Wochenschr 2018; 143(6): 397-405. www.thieme-connect.com
  6. Brabant G. Erkrankungen der Schilddrüse. Harrisons Innere Medizin. 19. Auflage 2016 Thieme-Verlag S. 2817
  7. Schneider, H J. Schaaf, L. Kellermann, W. Perioperatives Management bei endokrinologischen Erkrankungen und Diabetes mellitus. Dtsch Arztebl 2007 www.aerzteblatt.de
  8. Chiong YV , Bammerlin E, Mariash CN. Development of an objective tool for the diagnosis of myxedema coma. Transl Res 2015; 166: 233-43. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  9. Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Erhöhter TSH-Wert in der Hausarztpraxis. AWMF-Leitlinie Nr. 053-046. S2k, Stand 2023. register.awmf.org
  10. Schiff RA, Welsh GA: Perioperative evaluation and mangement of the patient with endocrine dysfunction. Med Clin N Am 2003 www.ncbi.nlm.nih.gov
  11. Eledrisi MS, Myxedema Coma or Crisis Clinical Presentation. Medscape, last updated Jun 15, 2023. emedicine.medscape.com
  12. Ono Y, Ono S, Yasunaga H, et al. Clinical characteristics and outcomes of myxedema coma: Analysis of a national inpatient database in Japan. J Epidemiol 2017 Mar; 27(3): 117-122. pmid:28142035 PubMed
  13. Dutta P, Bhansali A, Masoodi SR, Bhadada S, Sharma N, Rajput R Predictors of outcome in myxoedema coma: a study from a tertiary care centre. Crit Care 2008 www.ncbi.nlm.nih.gov
  14. Vincent J, Moreno R, Willats S, et al. The SOFA (Sepsis-related Organ Failure Assessment) score to describe organ dysfunction/failure. On behalf of the Working Group on Sepsis-Related Problems of the European Society of Intensive Care Medicine. Intensive Care Med 1996; 22: 707-710. www.ncbi.nlm.nih.gov

Autor*innen

  • Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Münster
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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