Allgemeine Informationen
Definition
- Eine Sprach- oder Sprechstörung beschreibt eine Einschränkung der normalen Kommunikationsfähigkeit durch Sprache nach dem Abschluss der Sprachentwicklung in der Kindheit.
- Man unterscheidet zwei wesentliche Formen:
- Dysarthrien (Sprechstörungen)1-2
- Störung der Steuerung, Regulierung und Ausführung motorischer Aktivitäten für die Artikulation, Atmung und Stimmerzeugung
- Folge ist eine oft deutlich reduzierte Verständlichkeit sprachlicher Äußerungen.
- Aphasien (Sprachstörungen)3-4
- Sprachstörungen infolge von Erkrankungen des zentralen Nervensystems
- Störungen können sowohl das Sprechen und Schreiben als auch das Verstehen und Lesen betreffen.
- Dysarthrien (Sprechstörungen)1-2
- Eine primäre Störung oder Verzögerung der Sprache in der Kindheit wird als Sprachentwicklungsstörung bezeichnet.
- Siehe Artikel Sprech- und Sprachstörungen bei Kindern.
- Für die zwischenmenschliche Kommunikation spielt die Sprache eine zentrale Rolle.2
- Diagnostik und Therapie erfolgen in der Regel interdisziplinär.
- Die Behandlung zielt darauf ab, Beeinträchtigungen im Alltag so weit wie möglich zu reduzieren.1
Häufigkeit
- Häufigkeit von Sprechstörungen (Dysarthrie)1
- Dysarthrien sind die häufigsten neurologischen Kommunikationsstörungen.
- Häufigkeit von Sprachstörungen (Aphasie)3
- Inzidenz von 43 pro 100.000 Einw.
- Etwa 30 % aller Patient*innen mit Schlaganfall sind initial aphasisch.
- Von diesen haben 44 % der nach 6 Monaten noch Überlebenden keine Aphasie mehr.
Diagnostische Überlegungen
Dysarthrie (Sprechstörung)
- Dysarthrie bzw. Dysarthrophonie bezeichnet eine Sprech- bzw. Stimmstörung.1
- Anarthrie/Aphonie: schwerste Ausprägung der Sprech- und Stimmstörungen
- z. B. komplette Lähmung der an Artikulation bzw. Phonation beteiligten Muskelgruppen
- Auftretenshäufigkeit von Dysarthrie bei neurologischen Erkrankungen1
- infantile Zerebralparese (80–90 %)
- Schädel-Hirn-Traumata (SHT) (30–50 %, schwere Formen)
- zerebrovaskuläre Syndrome (15–30 %, meist transient)
- neurodegenerative Erkrankungen
- Morbus Parkinson (75–90 %)
- Morbus Huntington (80–90 %)
- progressive supranukleäre Blickparese (PSP)/Steele-Richardson-Olszewski-Syndrom (75–100 %)
- Multisystematrophie (MSA) (bis 100 %)
- Friedreich-Ataxie (bis 100 %)
- primär-progrediente Aphasie (nichtflüssige Form) (40 %)
- Multiple Sklerose (40–50 %)
- amyotrophe Lateralsklerose (ALS) (bis 100 %)
- Myasthenia gravis (< 10 %)
- Klassifikation der wichtigsten Dysarthrie-Syndrome1-2,5
- peripher-paretische („schlaffe“) Dysarthrie
- Ursache: Läsion des 2. Motoneurons oder des neuromuskulären Übergangs, Frühphase zerebrovaskulärer Erkrankungen
- verminderte Lautstärke, verlangsamte und monotone Sprechweise, herabgesetzte Stimmlage, Vorverlagerung der Zunge
- zentral-paretische („spastische“) Dysarthrie
- Ursache: Läsion des 1. Motoneurons
- verminderte Lautstärke, verlangsamte und monotone Sprechweise, gepresste/raue Stimmqualität, reduzierte Artikulationsschärfe bei Rückverlagerung der Zunge
- rigid-hypokinetische Dysarthrie
- Ursache: v. a. das Parkinson-Syndrom.
- verminderte Lautstärke, erhöhte Stimmlage, normales oder beschleunigtes Sprechtempo, monotone Sprechweise
- ataktische Dysarthrie
- Ursache: Funktionsstörungen des Kleinhirns, einschließlich afferenter und efferenter zerebellärer Bahnsysteme
- inadäquate Atmungsmuster, Fluktuationen von Tonhöhe und Lautstärke, gelegentlich „Stimmzittern", verlangsamte, evtl. „skandierende“ Sprechweise („silbisches Sprechen“)
- peripher-paretische („schlaffe“) Dysarthrie
Aphasie (Sprachstörung)
- Störungen im Gebrauch der Sprache, die nach abgeschlossener Sprachentwicklung und durch Hirnschädigung auftreten.5
- Betroffen sind alle sprachlichen Modalitäten in unterschiedlichem Ausmaß (Sprechen, Verstehen, Lesen und Schreiben).
- Zentren der Sprachfunktionen (Sprachregion, Sprachnetzwerk) liegen bei > 90 % der Menschen in der linken, „sprachdominanten" Hemisphäre des Gehirns.5
- bei Linkshändern in etwa 40 % Lokalisation in der rechten Hemisphäre
- Ursachen3,6
- Aphasie in ca. 80 % der Fälle Folge eines Schlaganfalls
- weitere Ursachen: Hirntumoren, Schädel-Hirn-Traumen, entzündliche Erkrankungen des Gehirns, hypoxische Schädigungen oder neurodegenerative Erkrankungen
- Klassifikation der Aphasie-Syndrome3-4
- vier Standardsyndrome (globale, Wernicke-, Broca- und amnestische Aphasie) sowie weitere Nichtstandard-Syndrome
- Wernicke-Aphasie (sensorische Aphasie)
- Ursache: Schädigung des Wernicke-Areals im Temporallappen
- flüssige Aphasie, normale Sprechgeschwindigkeit und Sprachmelodie, unkontrollierte Sprachproduktion
- semantische Paraphasien (falsche Wortwahl)
- schwere Störung im Sprachverständnis
- Broca-Aphasie (motorische Aphasie)
- Ursache: Schädigung des Broca-Areals im Frontallappen
- nicht-flüssige Aphasie, Sprachanstrengung, verringerte Sprechgeschwindigkeit, Telegrammstil
- Agrammatismus (stark gestörter Satzbau)
- phonematische Paraphasien (lautliche Veränderung eines Wortes z. B. „Gruke“ statt Gurke; „Mörter“ statt Wörter)
- ausgeprägtes Bewusstsein über Sprachdefizit und starker Leidensdruck
- globale Aphasie
- Ursache: ausgeprägte Schädigung der Komponenten des Sprachnetzwerks (Wernicke- und Broca-Areal)
- schwerste Form der Aphasie: Störung von Sprachproduktion und Sprachverständnis
- stockender Sprechfluss, Sprachautomatismen, Neologismen
- In schweren Fällen ist keine Kommunikation mehr möglich.
- amnestische Aphasie
- Ursache: temporoparietale Läsionen (häufig bei Hirntumoren und zerebralen Abbauprozessen)
- weitgehend erhaltene Kommunikationsfähigkeit
- Wortfindungsstörungen und Störung des Benennens als zentrale Symptome
- Verlauf des Reorganisationsprozesses bei Aphasie nach Schlaganfall3
- frühe Phase (0–4 Tage nach Infarkt)
- deutlich reduzierte Aktivierung nicht geschädigter linkshemisphärischer Sprachareale
- postakute Phase (ca. 2 Wochen nach Infarkt)
- Hochregulierung neuronaler Aktivierung in Spracharealen der rechten Hemisphäre mit Leistungsverbesserungen
- „Konsolidierungsphase“ (4–12 Monate nach Infarkt)
- Rückgang rechtshemisphärischer Aktivierung und zunehmende Aktivierung der intakten linkshemisphärischen Sprachareale mit weiteren sprachlichen Verbesserungen
- frühe Phase (0–4 Tage nach Infarkt)
Sprechapraxie
- Apraxie bezeichnet im Allgemeinen eine Störung der Planung und Ausführung von koordinierten Handlungen, ohne dass ein motorisches Defizit vorliegt.2,5
- Ursache ist meist eine unilaterale Schädigung der sprachdominanten Hemisphäre.
- häufig begleitet von einer nichtflüssigen Aphasie, daher erschwerte Abgrenzung
- Sprechapraxie bezeichnet demnach eine Beeinträchtigung der Willkürbewegungen der Komponenten des Sprechens.1-2
- Unwillkürliche Bewegungen, z. B. Atmen und Schlucken sind nicht betroffen.
- keine Einschränkungen des Wortschatzes und des Sprachverständnisses sowie keine Lähmungen der Sprechorgane
- Symptome sind Störungen der Lautbildung, viele Fehlversuche, wiederholte Selbstkorrekturen, ein inkonstantes Fehlermuster mit „Inseln störungsfreien Sprechens“.5
Konsultationsgrund
- Einschränkungen der Kommunikationsfähigkeit
- Bei diskreten Störungen ggf. Vorstellung auf Anraten durch Angehörige
- Häufig Begleitsymptom einer anderen neurologischen Erkrankung (z. B. Parkinson-Krankheit)
- Folge eines Schlaganfalls oder einer TIA
ICPC-2
- N19 Sprachstörung
ICD-10
- R47 Sprech- und Sprachstörungen, anderenorts nicht klassifiziert
- R47.0 Dysphasie und Aphasie
- R47.1 Dysarthrie und Anarthrie
- R47.8 Sonstige und nicht näher bezeichnete Sprech- und Sprachstörungen
Differenzialdiagnosen
Dysarthrie
Schlaganfall und TIA
- Zerebrovaskuläre Erkrankung mit Blutzirkulationsstörung im Gehirn
- 85 % der Schlaganfälle entstehen durch einen Gefäßverschluss (Ischämie).
- Bei einer TIA (transitorische ischämische Attacke) bestehen die Symptome nur passager (< 24 Stunden).
- häufig Risikofaktoren wie Hypertonie, Diabetes mellitus, Herzklappenerkrankungen, Vorhofflimmern und Arteriosklerose
- Bei einseitigem Schlaganfall häufig nur leichte und vorübergehende Sprech- und Stimmstörungen1
- Grund ist eine beidseitige Innervation der an der Lautbildung beteiligten Muskelgruppen.
- bei seltenen beidseitigen Läsionen des Motorkortex ggf. zentral-paretische („spastische“) Dysarthrie
- Eine persistente Dysarthrie wird in der Rehabilitation nach einem Schlaganfall logopädisch behandelt.
Schädel-Hirn-Trauma (SHT)
- Traumatische Kopfverletzung mit Schädigung des Gehirns und daraus resultierender Funktionsstörung
- Initiale Symptome eines SHT sind Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und Schwindel, in schweren Fällen Bewusstseinsstörung.
- international geläufige Klassifikation in drei Schweregrade anhand der Glasgow Coma Scale
- Funktionsausfälle nach einem SHT sind vielfältig und abhängig von Lokalisation und Ausmaß der Verletzung.
- Schweregrad einer Dysarthrie nach SHT bis hin zur Anarthrie1
- Logopädische Übungsbehandlung ausgehend von den noch vorhandenen sprachlichen Leistungsressourcen1
Morbus Parkinson (idiopathisches Parkinson-Syndrom)
- Progrediente, neurodegenerative Erkrankung mit Untergang dopaminerger Neurone, v. a. in der Substantia nigra
- typischer Symptomkomplex aus Ruhetremor, Rigor, Bradykinese und Standunsicherheit
- Oft respiratorische und phonatorische Defizite, die zu einer Dysarthrie führen (z. B. monotone, leise Sprechweise).1
- im Verlauf artikulatorische Einschränkungen
- Medikamentöse (z. B. dopaminerge) und multimodale Therapie
- bei Dysarthrie ggf. Kommunikationshilfsmittel zur Verlangsamung des Sprechens und Erhöhung der Lautstärke1
Weitere neurologische Erkrankungen1-2
- Multiple Sklerose
- Myasthenia gravis
- Myositis
- Morbus Wilson
- Guillain-Barré-Syndrom
- Intrakranielle Tumoren bzw. Hirnmetastasen
- Infantile Zerebralparese
- Kleinhirnerkrankungen
- Neurodegenerative Erkrankungen (z. B. progressive supranukleäre Blickparese)
- Amyotrophe Lateralsklerose
- Morbus Huntington
- Ataxie-Syndrome (z. B. Friedreich-Ataxie)
- Spasmodische Dysphonie
- Dystonie, die speziell die Kehlkopfmuskulatur betrifft.
- Ein therapeutischer Ansatz ist die Injektion von Botulinumtoxin in die Stimmlippen.
Aphasie
Schlaganfall und TIA
- Zerebrovaskuläre Erkrankung mit meist ischämischer Hirngewebsschädigung
- Eine Aphasie tritt in den meisten Fällen (etwa 80 %) im Rahmen eines Schlaganfalls auf.3
- Verlauf und Prognose3
- Aphasie initial bei etwa 30 % nach einem erstmaligen Schlaganfall
- weitgehende Normalisierung der Sprachfunktionen in den ersten 4 Wochen bei 1/3 der Betroffenen
- nach 1 Jahr Kommunikationsstörungen bei noch etwa 20 % der Schlaganfall-Patient*innen
- Initial nur leichte Sprachdefizite sind ein Prädiktor für die Möglichkeit auf vollständige Erholung.
- Die logopädische Behandlung einer Aphasie ist häufiger Bestandteil einer Rehabilitation nach einem Schlaganfall.
Hirntumor
- Es werden hirneigene Tumoren und Hirnmetastasen unterschieden.
- Die Symptome sind abhängig von der Lokalisation und Größe des Tumors.
- in der Frühphase oft unspezifische Kopfschmerzen oder epileptische Anfälle
- weitere Symptome, z. B. Wesensveränderungen, Gedächtnisstörungen, Paresen, Sensibilitätsstörungen, Schwindel
- Die Diagnostik erfolgt in erster Linie durch eine zerebrale Bildgebung (MRT oder CT des Schädels).
- Therapieoptionen sind operative Resektion, Radiochirurgie, Ganzhirnbestrahlung und medikamentöse Tumortherapie.
Schädel-Hirn-Trauma (SHT)
- Traumatische Kopfverletzung mit Schädigung des Gehirns und daraus resultierender Funktionsstörung
- Sowohl Aphasie als auch Dysarthrie bzw. Anarthrie können bei einem SHT auftreten.
- häufig deutliche Remission der Sprachstörung in den ersten Wochen nach dem Ereignis
Enzephalitis
- Meist viral oder bakteriell verursachte Entzündung des Gehirns
- Meningoenzephalitis bei gleichzeitigem Befall der Hirnhäute
- Häufige Symptome sind Bewusstseinsstörungen, Paresen, Aphasie, epileptische Anfälle
- oft begleitet von Fieber
- Aphasie häufig im Verlauf einer HSV-Enzephalitis (plötzlicher Fieberanstieg, fokal-neurologische Defizite)
- Die Diagnose beruht auf der klinischen Untersuchung, Laboruntersuchungen (auch des Liquors) sowie bildgebenden Untersuchungen.
- Antivirale bzw. antibiotische Therapie empirisch und nach Nachweis erregerspezifisch
Weitere neurologische Erkrankungen
- Hypoxie (hypoxischer Hirnschaden, z. B. nach Reanimation)
- Schädigung abhängig von der Hypoxiedauer (irreversible Schäden schon nach 3 min)
- Alzheimer-Demenz
- neurodegenerative Erkrankung mit Leitsymptom Demenz
- Primär-progrediente Aphasie
- Neurodegenerative Erkrankung, die v. a. die Sprachregion der Hirnrinde betrifft.
Andere Ursachen
- Entwicklungsstottern2
- Intoxikation (z. B. Alkohol)
- Tumoren des Zungengrundes, des Hypopharynx und des Larynx2
- Verschluss der Nase/Nasenrachens mit Nasenatmungsbehinderung2
- Psychogene Dysphonie und Aphonie1-2
- z. B. bei Somatisierungsstörungen oder dissoziativen Störungen
- automatisierte Kehlkopfaktionen (Schlucken, Räuspern, Husten) in der Regel unbeeinträchtigt
- Akinetischer Mutismus1
- schwere Antriebsminderung ohne Sprechen und Bewegung
- z. B. nach Schädigung des Frontallappens („Frontalhirnsyndrom“)
- Epileptischer Anfall1
- passagere Artikulationsstörungen bzw. Episoden von „Speech Arrest“
Anamnese
- Charakteristika der Sprach- oder Sprechstörung
- Beginn der Beschwerden
- plötzlich oder langsam progredient
- auslösendes Ereignis (z. B. Schädel-Hirn-Trauma)
- subjektiver Schweregrad der Sprach-/Sprechstörungen
- Aphasie: eingeschränktes Verständnis, Ausdrucksvermögen oder Wortfindungsstörungen
- Dysarthrie: eingeschränkte Lautbildung (Artikulation) oder Stimmgebung
- Beginn der Beschwerden
- Begleitsymptome
- Hemisymptomatik oder fokal-neurologische Defizite
- z. B. Lähmungen, Sensibilitätsstörungen
- nichtsprachliche, kognitive Symptome nach Schlaganfall
- Zeichen einer Demenz
- Dysphagie
- Tremor
- Hemisymptomatik oder fokal-neurologische Defizite
- Bekannte (neurologische) Vorerkrankungen
- Berufliche und soziale Auswirkungen der Störung
- Fremdanamnese von großer Bedeutung
- erstmalig aufgefallene Veränderungen, Verlauf, Fluktuation
Klinische Untersuchung
- Körperliche Untersuchung
- Allgemein- und Ernährungszustand (z. B. Gewichtsverlust bei Dysphagie)
- Verletzungsfolgen als Anzeichen für Schädel-Hirn-Trauma
- Untersuchung von Kopf und Hals (Inspektion von Mundhöhle und Rachen)
- Orientierende neurologische Untersuchung
- Untersuchung der Hirnnervenfunktion (z. B. Zungenbewegung)
- Untersuchung auf weitere neurologische Auffälligkeiten
- Fieber und Meningismus als Anzeichen für Meningoenzephalitis
- Tremor, Rigor und Bradykinese weisen auf ein Parkinson-Syndrom hin.
- Faszikulationen (Muskelzuckungen) können ein Hinweis auf amyotrophe Lateralsklerose sein.
- Orientierende Prüfung des Sprach- und Sprechvermögens
- Nachsprechen von Wörtern und Sätzen
- Benennen einfacher Gegenstände (z. B. Stift, Uhr)
- Ausführen geschriebener Aufforderungen (z. B. „Falten Sie dieses Blatt.“)
Beobachtung des spontanen Sprachverhaltens5
- Die Patient*innen frei und ohne Unterbrechungen berichten lassen.
- Gesprächsthemen (offene Fragen) z. B. Krankheitsverlauf, Familie, Freizeit
- Beobachten Sie dabei:
- Sprach- und Sprechanstrengung
- Flüssigkeit des Sprechens
- Sprechmelodie
- Artikulation
- lautliche Entstellung von Wörtern (phonematische Paraphasien)
- falsche Wortwahl (semantische Paraphasien)
- Wortneubildungen (Neologismen)
- Umschreibungen anstelle eines gesuchten Wortes
- syntaktische Struktur der Sätze
- Sprachverständnis
- Reaktion der Patient*innen auf ihre evtl. sprachlichen Defizite
Ergänzende Untersuchungen
In der Hausarztpraxis
- In der Regel ambulante bzw. stationäre Behandlung bei Spezialist*innen
Bei Spezialist*innen
- Die Diagnostik ist abhängig von der vermuteten Ursache.
- Neurologische Untersuchung2,5
- Hirnnervenstatus und Funktion der Vokaltrakt- und Atemmuskulatur
- motorische, sensible und reflektorische Funktionen (Würgreiz, Schlucken, Hustenreflex u. a.)
- neurokognitive Testung bei Anzeichen einer Demenz
- z. B. Mini-Mental-Status-Test (MMST)
- Logopädische bzw. phoniatrische Diagnostik2-3
- Beurteilung der Sprech- und Sprachfähigkeit
- ggf. objektive, computergestützte Datenerhebung und auditive Beurteilung einer Dysarthrie
- Beurteilung der Nase, der Mundhöhle, des Nasenrachens, des Meso- und Hypopharynx und des Larynx
- auch computergestützte Analyse des akustischen Sprachsignals möglich
- Laboruntersuchungen
- Blutuntersuchungen nach Verdachtsdiagnose
- z. B. Blutbild, CRP, Procalcitonin; Blutkultur bei V. a. Meningoenzephalitis
- Lumbalpunktion und Liquordiagnostik
- Blutuntersuchungen nach Verdachtsdiagnose
- Zerebrale Bildgebung
- CT oder MRT des Schädels bei strukturellen Erkrankungen des Gehirns
- Endoskopische Maßnahmen1-2
- Lupenlaryngoskopie des Kehlkopfes
- Videostroboskopie, um organische Gewebebefunde und Kehlkopflähmungen bei peripheren Nervenläsionen zu erkennen.
- Audiometrie2
- Verlust der Rückkopplung und Selbstkontrolle der Stimmgebung, des Sprechens und der Sprache bei Hörstörungen
Spezielle Sprachtests bei Aphasie3,5
- In der Initialphase (z. B. nach Schlaganfall) oft stark fluktuierende Symptomatik
- daher Klassifikation in der Regel erst nach ca. 4–6 Wochen möglich
- Zur Klassifizierung und Feststellung des Schweregrads einer Aphasie
- Aachener Aphasie-Test (AAT)
- standardisierter, im deutschsprachigen Raum verbreiteter, linguistisch aufgebauter Test für Patient*innen nach Schlaganfall
- oft Grundlage der logopädischen Therapie
- zu beurteilende Sprachleistungen
- Token-Test: Zeigen und Zuordnen von verschiedenen geometrischen Formen in verschiedenen Farben und Größen
- Nachsprechen von Lauten, Wörtern und kurzen Sätzen
- Benennen und Beschreiben von gezeigten Abbildungen
- Sprachverständnis
- Schriftsprache
- Aachener Aphasie-Test (AAT)
Maßnahmen und Empfehlungen
Indikationen zur Überweisung/Klinikeinweisung
- Bei neu aufgetretenen oder progredienten Sprech- oder Sprachstörungen
- Bei allen unklaren Aussprachestörungen, Stimmstörungen, Näseln und Schluckstörungen2
- Bei V. a. Schlaganfall notfallmäßige Krankenhauseinweisung
- weitere Therapieplanung im Kontext der Rehabilitation nach einem Schlaganfall
- Bei behandlungsbedürftiger Aphasie und Dysarthrie im Verlauf Überweisung an Logopädie
- Eine Überweisung an die jeweiligen Spezialist*innen ist abhängig von der vermuteten Grunderkrankung (z. B. Neurologie, HNO).
Maßnahmen
Therapieziele2-3
- Grunderkrankung behandeln.
- Die Artikulationsfähigkeit und Stimmgebung verbessern.
- Schreiben, Lesen, Verstehen und der Sprache verbessern.
- Kommunikationsfähigkeiten verbessern.
- Teilhabe am alltäglichen Leben ermöglichen.
Therapieansatz
- Behandlung richtet sich nach individuellen Zielsetzungen und den Fähigkeiten der Betroffenen.2-3
- Die Therapie erfolgt häufig im Kontext der Rehabilitation nach einem Schlaganfall.3
- Bei bekannter Grunderkrankung steht dessen Therapie im Vordergrund.2
- z. B. medikamentöse Behandlung bei Morbus Parkinson oder Myasthenia gravis
- Angehörigenarbeit gehört zum Gesamtkonzept der Sprachrehabilitation.3
- Beratung und familiärer/sozialer Rückhalt haben einen positiven Einfluss.
- Hinweis auf und Unterstützung bei Integration in eine Selbsthilfegruppe
- Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie (Übungsbehandlungen)
- Logopädische Therapie verbessert die Prognose der Sprachfunktion.1,3-4,7
- Sprechtherapie bei Dysarthrie1-2
- lautsprachliche Übungen (Artikulationsübungen) zur Optimierung des Sprechtempos und Besserung der sprechmotorischen Koordination
- mundmotorische Übungen ohne lautsprachliche Äußerungen
- Oft ist eine höhere Therapieintensität bei gleichzeitiger Schluckstörung notwendig.
- Sprachtherapie bei Aphasie nach Schlaganfall
- In den ersten Wochen ist eine intensive Sprachtherapie nötig, um die Rückbildung zu unterstützen.
- Die Verbesserung von Kommunikationsfähigkeit, Schreiben, Lesen und sprachlichem Ausdrucksvermögen ist in der Metaanalyse nachgewiesen.7
- Die Wirksamkeit ist besser bei hoher Therapieintensität und frühem Beginn (bereits in der Akutphase).3
- spezielles Verfahren bei Morbus Parkinson1
- Lee Silverman Voice Therapy (LSVT) mit nachgewiesener Verbesserung der Sprechlautstärke
- Computergestützte Therapien können zur häuslichen Übung eingesetzt werden.
- Pharmakologische Therapie
- Einige Medikamente zeigten bei Aphasie nach Schlaganfall Wirksamkeit (z. B. Piracetam, Donepezil, Memantin).3
- Stimulationsstudien zeigten in Verbindung mit Benenntraining bei Aphasie eine Wirksamkeit von3
- transkranieller Magnetstimulation (TMS)
- transkranieller Gleichstromstimulation (tDCS).
- Bei Dystonien (z. B. spasmodische Dysphonie)
- lokale Injektionen von Botulinumtoxinen zur Reduktion der Symptomatik (nach Ausschluss psychogener Ursachen)2
- Computergestützte Kommunikationshilfen (z. B. mit Sprachausgabe) bei schweren expressiven Störungen2-3
- In seltenen Fällen kommen operative Ansätze infrage (z. B. Gaumensegelprothese bei Gaumensegelparese).1-2
- Kein Wirksamkeitsnachweis alternativer Therapiemethoden (Akupunktur, Hypnose, Entspannung)3
Empfehlungen für Angehörige
- Familienmitglieder und andere nahestehende Personen sollten8
- den Betroffenen ausreichend Zeit zum Reden lassen.
- natürlich und respektvoll im Gespräch mit den Patient*innen umgehen.
- Ablenkungen, wie z. B. lautes Radio oder Fernseher, vermeiden.
- Sprache vereinfachen und kurze, unkomplizierte Sätze verwenden.
- Gesagtes ggf. wiederholen und Wichtiges aufschreiben, um das Verständnis zu verbessern.
- die betroffene Person in Gruppenunterhaltungen einbinden.
- sich aktiv nach der Meinung der Betroffenen erkundigen.
- jede Art der Kommunikation fördern (Sprache, Gesten, Zeigen, Zeichnen etc.).
- vermeiden, die Betroffenen zu korrigieren.
- die Therapie begleiten, falls möglich.
- den Betroffenen helfen, weitere Unterstützungen zu finden (z. B. Selbsthilfegruppen).
Weitere Informationen
- Deutscher Bundesverband für Logopädie e. V.: Sprachstörungen bei Erwachsenen
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Patientenorganisationen
- Bundesverband für die Rehabilitation der Aphasiker e. V.
- Deutsche Schlaganfallhilfe e. V.
- Deutsche Parkinson Vereinigung e. V.
- Deutsche Hirntumorhilfe e. V.
Quellen
Leitlinien
- Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Neurogene Sprechstörungen (Dysarthrien). AWMF-Leitlinien Nr. 030-103. S1, Stand 2018. www.awmf.org
- Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Kommunikationsstörungen bei neurogenen Sprech- und Stimmstörungen im Erwachsenenalter, Funktionsdiagnostik und Therapie. AWMF-Leitlinie Nr. 049-014. S1, Stand 2014. www.awmf.org
- Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Schlaganfall, Rehabilitation aphasischer Störungen. AWMF-Leitlinie Nr. 030-090. S1, Stand 2012. www.dgn.org
Literatur
- Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Neurogene Sprechstörungen (Dysarthrien). AWMF-Leitlinien Nr. 030-103, Stand 2018. register.awmf.org
- Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Kommunikationsstörungen bei neurogenen Sprech- und Stimmstörungen im Erwachsenenalter, Funktionsdiagnostik und Therapie. AWMF-Leitlinie Nr. 049-014, Stand 2014. register.awmf.org
- Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Schlaganfall, Rehabilitation aphasischer Störungen. AWMF-Leitlinie Nr. 030-090, Stand 2012. awmf.org
- Hillis AE. Aphasia: progress in the last quarter of a century. Neurology. 2007 Jul 10;69(2):200-13. Review. PubMed PMID: 17620554 www.ncbi.nlm.nih.gov
- Hacke W. Neurologie, 14. Auflage. Heidelberg: Springer-Verlag Berlin, 2016. www.springer.com
- Pedersen PM, Vinter K, Olsen TS. Aphasia after stroke: type, severity and prognosis. The Copenhagen aphasia study. Cerebrovasc Dis. 2004;17(1):35-43. Epub 2003 Oct 3. PubMed PMID: 14530636 www.ncbi.nlm.nih.gov
- Brady MC, Kelly H, Godwin J, Enderby P, Campbell P. Speech and language therapy for aphasia following stroke. Cochrane Database Syst Rev. 2016 Jun 1;(6):CD000425. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- National Institute on Deafness and other Communication Disorders. NIDCD Fact Sheet: Aphasia. NIH Pub. No. 97 4257. December 2015. www.nidcd.nih.gov
Autor*innen
- Jonas Klaus, Arzt, Freiburg im Breisgau
- Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).