Fluoridvergiftung

Zusammenfassung

  • Definition:Aufnahme von Fluorid in toxischer Konzentration.
  • Häufigkeit:Hohe Dunkelziffer; bei Kleinkindern durch übermäßige Einnahme von Fluoridtabletten möglich.
  • Symptome:In der Regel keine oder leichte Symptome, bei Einnahme höherer Dosen können Speichelfluss, Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen, Durchfall, Durstgefühl und zentralnervöse Symptome auftreten.
  • Befunde:Können fehlen; möglich sind Dehydrierung, zentralnervöse Symptome, Atemdepression und Krämpfe.
  • Diagnostik:Messung des Fluoridspiegels im Blut, Erhöhung der Blutsenkungsgeschwindigkeit möglich, Aufhellung der Knochen im Röntgen (bei chronischer Fluorose).
  • Therapie:Einnahme von Milch oder kalziumreichen Getränken; ggf. Magenspülung; ggf. Gabe von Kalziumglukonat.

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Allgemeine Informationen

  • Der Abschnitt basiert, sofern nicht anders gekennzeichnet, auf diesen Referenzen.1-2

Definition

  • Chronische Fluorintoxikation (Fluorose): Krankheitsbilder durch übermäßige Zufuhr von Fluorid
    • Zahnfluorose
    • Knochenfluorose (Skelettfluorose)
  • Akute Fluoridvergiftung: Aufnahme von Fluorid in toxischer Konzentration ü­ber Gastrointestinaltrakt, Lungen oder Haut
    • Die sicher toxische Dosis (Certainly Toxic Dose; CTD) liegt bei 32–64 mg Fluorid pro Kilogramm Körpergewicht (70–140 mg Natriumfluorid pro kg; Natriumfluorid ist die Fluorverbindung, die vor allem in Präparaten zur Kariesprophylaxe eingesetzt wird. 1 mg Fluorid entsprechen 2,2 mg Natriumfluorid.)
    • Bereits eine Menge von 5 mg/kg gilt als kritische Schwelle für das Auftreten von Symptomen.
    • Bei Kindern unter 5 Jahren gelten Dosen von mehr als 25 mg Fluorid als Vergiftung.3
      • Die Einnahme von 17–22 mg Natriumfluorid pro kg (8–10 mg Fluorid/kg) kann bereits zu schweren Vergiftungserscheinungen bei Kindern führen.4-5
  • Die Toxizität der Fluorverbindungen hängt vom Grad ihrer Löslichkeit ab.

Häufigkeit

  • Kaum gesicherte globale Daten
  • Die Einnahme einer Überdosis von Fluoridtabletten ist ein häufiges Phänomen in der Altersgruppe von 1–3 Jahren.
  • Einige Insektizide/Schädlingsbekämpfungsmittel sind ebenfalls reich an Fluorid, eine Einnahme kann zu Fluorvergiftung führen.
  • Bei Kindern eher akzidentelle Vergiftungen, bei Erwachsenen eher in suizidaler Absicht

Toxizität

  • Kinder von 1–5 Jahren
    • bis zu 25 mg Fluorid (ca. 55 mg Natriumfluorid): meist keine Symptome
    • bis zu 100 mg Fluorid: meist leichte Symptome
    • Mehr als 100 mg Fluorid: Eine schwere Vergiftung ist möglich.
  • Kinder ab 5 Jahren und Erwachsene
    • Bis zu 5 mg Fluorid pro kg: Meist sind keine oder nur leichte Symptome zu erwarten.
  • Letaldosis
    • Wird mit 70–140 mg Natriumfluorid pro kg angegeben (d. h. 32–64 mg Fluorid/kg Körpergewicht).

Ätiologie und Pathogenese

  • Fluor wirkt durch die Beeinflussung einer Reihe von Enzymsystemen auf der Zellebene unmittelbar zytotoxisch.
  • Fluor bindet nach Aufnahme an Kalzium und kann somit zu einer Hypokalzämie führen.
    • Die resultierende Hypokalzämie stellt die wichtigste Ursache der Symptome und Folgen einer Fluoridvergiftung dar.
  • In der sauren Umgebung des Magens kann sich Fluorwasserstoff bilden, der wiederum gastrointestinale Reizungen und evtl. Erosionen hervorrufen kann.
  • Fluoridtabletten enthalten häufig den Füllstoff Sorbitol, der Übelkeit, Erbrechen und Durchfall auslösen kann, ohne dass notwendigerweise eine toxische Dosis Fluorid eingenommen wurde.

Prädisponierende Faktoren

  • Einfacher Zugang zu Fluoridpräparaten für Kinder
  • Suizidalität (z. B. im Rahmen einer schweren Depression)
  • Berufliche Exposition (z. B. Kryolithindustrie, siehe Berufskrankheiten)
  • Fluorose ist endemisch in Ländern, in denen das Trinkwasser mit Fluoriden angereichert wird.
  • Verordnung von Natriumfluorid in der Behandlung der Osteoporose

ICPC-2

  • A84 Vergiftung durch medizinische Substanz

ICD-10

  • T96 Folgen einer Vergiftung durch Arzneimittel, Drogen und biologisch aktive Substanzen
  • T65.9 Toxische Wirkung einer nicht näher bezeichneten Substanz
    • Inkl.: Vergiftung o.n.A.

Diagnostik

  • Der Abschnitt basiert, sofern nicht anders gekennzeichnet, auf diesen Referenzen.1-2

Diagnostische Kriterien

  • Anamnese mit Hinweisen auf Einnahme von Fluorverbindungen in Verbindung mit unspezifischen gastrointestinalen und/oder zentralnervösen Symptomen

Differenzialdiagnosen

  • Mischvergiftung, evtl. Vergiftung durch eine andere Substanz
  • Hypokalzämie anderer Ursache

Anamnese

  • (Vermutete) Einnahme großer Mengen Fluorids
  • Die meisten Expositionen verlaufen asymptomatisch oder mit leichten Symptomen.
  • Vergiftungssymptome zeigen sich meistens binnen der ersten Stunde nach Einnahme.
    • Sie können jedoch auch mehrere Stunden nach der Einnahme auftreten.
  • Mögliche Vergiftungssymptome umfassen Speichelfluss, Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen, Durchfall, Durstgefühl, Tremor und Bewusstseinsstörungen bis hin zum Koma.
  • (Fremd-)Anamnestische Fragen:
    • Wann fand die Einnahme statt?
    • Was wurde eingenommen?
    • Menge der Substanz und Potenz (z. B. Stärke der Fluoridtabletten)?
    • Mögliche Absicht der Einnahme?

Beispiele für den Fluorgehalt in gängigen Präparaten

  • Fluoridtabletten: 0,25–1,0 mg Fluorid/Tablette
  • Fluorid-Kaugummis: 0,25 mg Fluorid/Stück
  • Mundspüllösungen: 0,23 mg Fluorid/ml (0,05 % Natriumfluorid) – 0,9 mg Fluorid/ml (0,2 % Natriumfluorid) [je nach Präparat)
  • Fluoridlack: 22,6 mg Fluorid/ml
  • Zahnpasta: 1.000–1.500 ppm (Parts per Million) = 1,0–1,5 mg Fluorid/g Zahnpasta

Klinische Untersuchung

  • Bei gastrointestinaler Vergiftung treten folgende Symptome auf:
    • Speichelfluss
    • Erbrechen, auch blutig
    • Durchfall, auch blutig
    • Hämaturie
    • Dehydrierung
    • Tremor
    • zentralnervöse Symptome (Müdigkeit bis hin zu Koma)
    • Schock
    • Beeinflussung der Atmung (anfängliche Stimulation gefolgt von einer Hemmung)
    • Hypokalzämie
    • Krämpfe (epileptiforme oder tetanische)
    • Wunden/Bläschen auf der Schleimhaut
    • hyperaktive Reflexe
  • Bei in­ha­lativer Vergiftung treten folgende Symptome auf:
    • Nie­sen
    • Husten
    • Tränen­fluss
    • Atem­not
    • Lungenödem
    • evtl. Tod un­ter Krämp­fen
  • Bei dermaler Vergiftung treten folgende Symptome auf:
    • tiefe Nekrosen
    • schlecht heilen­de Ulze­ra

Ergänzende Untersuchungen

Indikationen zur Einweisung

  • Verdacht auf schwere Vergiftung
    • mehr als 75 mg Fluorid bei Kindern unter 5 Jahren (z. B. ca. 1–2 Tuben Zahnpasta)
    • bei mehr als 5 mg Fluorid/kg Körpergewicht bei Patient*innen über 5 Jahren und Verdacht auf schwere Vergiftung

Therapie

  • Der Abschnitt basiert, sofern nicht anders gekennzeichnet, auf diesen Referenzen.1-2

Therapieziele

  • Frühzeitiges Erkennen, ggf. Notfallbehandlung und Verhinderung von Folgeschäden

Übersicht der therapeutischen Optionen

  • Nach In­ha­lati­on des Gases
    • Erste-Hilfe-Maßnahmen
    • Kalzi­um­glukonat (Antidot) per in­ha­lationem
    • Sau­erstoff-Ü­ber­druck­be­atmung
  • Nach per­oraler Auf­nahme
    • Flüs­sig­keits­gabe (Milch, 1-prozenti­ge Kalzi­um­glukonat­lö­sung)
    • Bei Ver­dacht auf Ver­ät­zung im Magen-Darm-Trakt kein Er­brechen aus­lösen, kei­ne Aktivkohle geben, kei­ne Neutralisation vornehmen.
    • vor­sichti­ge Magen­spü­lung
      • Nur zu erwägen, sofern weniger als 1 Stunde nach Einnahme von mehr als 8 mg Fluorid/kg vergangen ist.
      • Milch kann ggf. als Spülflüssigkeit verwendet werden.
  • Ku­tane Auf­nahme
    • aus­gie­bi­ges Spülen von Haut und Augen (> 20 min!) mit z. B. 1-prozenti­ger Natrium­hydrogen­carbonat-Lö­sung
  • Symptomatische Therapie
    • Schmerz­the­rapie (z. B. Morphin titriert in 2,5-mg-Schritten)
    • Behandlung von Herz­rhy­thmusstörun­gen
    • Kalzi­um­salze i. v. bei Krämp­fen (s. u.)
  • Einnahme von Milch oder kalziumreichen Getränken, da Kalzium mit Fluorid schwerlösliche Kalziumfluoride bildet und die Absorbtion verlangsamen kann.

Vorgehen je nach Alter

  • Kinder von 1–5 Jahren
    • Einnahme von bis zu 25 mg Fluorid: keine besonderen Maßnahmen
    • Einnahme von 25–100 mg Fluorid: Gabe von Milch oder anderen kalziumhaltigen Getränken; ggf. Gabe von aluminiumhaltigen, flüssigen Antazida (s. u.)
    • mehr als 100 mg Fluorid: Gabe von Milch oder anderen kalziumhaltigen Getränken; Krankenhauseinweisung
  • Kinder ab 5 Jahren und Erwachsene
    • Einnahme von weniger als 5 mg/kg Körpergewicht: keine Behandlung nötig
    • Einnahme von über 5 mg/kg Körpergewicht und Verdacht auf schwere Vergiftung: Krankenhauseinweisung
      • Magenspülung, wenn weniger als 1 Stunde seit der Einnahme vergangen ist.
      • langsame intravenöse Injektion von Kalziumglukonat (s. u.)
      • symptomatische Behandlung mit besonderem Augenmerk auf Ventilation, Durchblutung und Flüssigkeits-/Elektrolythaushalt
      • Überprüfung von Leber- und Nierenfunktion

Medikamentöse Therapie

  • Kalziumgabe6
    • Die Wirkung und Dosis von Kalzium ist umstritten und schlecht durch belastbare Fakten belegt.
    • Bei gesichert massiver Einnahme von Fluorid kann Kalzium jedoch verabreicht werden, bevor Testergebnisse über den Serum-Kalzium-Spiegel vorliegen.
      • Die physiologische Kalziumkonzentration im Plasma liegt im Bereich 2,25–2,62 mmol pro Liter.
    • Die übliche Anfangsdosis für Erwachsene beträgt 10 ml Kalziumglukonat 10-%-Injektionslösung, entsprechend 2,25 mmol Kalzium.
      • Falls erforderlich, kann die Gabe in Abhängigkeit vom klinischen Zustand der Patient*innen wiederholt werden.
  • Antazida
    • Aluminiumhaltige, flüssige Antazida (z. B. die Wirkstoffe Almasilat, Aluminium-Magnesiumsilikat, Aluminiumoxid + Magnesiumhydroxid u. a.) können fluoridbindende Eigenschaften aufweisen und erwogen werden.

Prävention

  • Aufbewahrung von Fluoridpräparaten außerhalb der Reichweite von kleinen Kindern
  • Möglichst frühzeitiges Erkennen und Therapieren schwerer Depressionen zur Verhinderung von Suizidalität

Verlauf, Komplikationen und Prognose

  • Der Abschnitt basiert, sofern nicht anders gekennzeichnet, auf diesen Referenzen.1-2

Verlauf

  • Häufig treten die Vergiftungssymptome binnen der ersten Stunde auf, selten auch einige Stunden nach der Einnahme von Fluoriden.

Komplikationen

  • Schock, Atemstörung, Krampfanfälle, Herzrhythmusstörungen
    • Todesursache ist meist Kreislauf- oder Atemstillstand.
  • Leber- und Nierenschäden können auftreten.
  • Eine langanhaltende übermäßige Exposition von Fluorid kann Dental- oder Skelettfluorose verursachen.

Prognose

  • Der Giftinformationszentrale nach verlaufen die meisten Expositionen asymptomatisch oder nur mit leichten Symptomen.
  • Chronische Fluorose hat Aus­wirkungen an Knochen und Zäh­nen.
    • Der Knochen wird an­fäl­liger für Fraktu­ren, Gelenke werden in ih­rer Beweglich­keit ein­geschränkt.
    • Die Zäh­ne ver­fär­ben sich (weiße Flecken).

Patienteninformationen

Worüber sollten Sie die Patient*innen informieren?

  • Eine Fluoridvergiftung kommt häufig bei kleinen Kindern vor, doch kann ihr vorgebeugt werden, indem Fluoridtabletten und Ähnliches außerhalb der Reichweite von Kindern aufbewahrt werden.
  • Eine Vergiftung ist selten lebensbedrohlich und zieht in der Regel keine Folgeschäden nach sich.

Quellen

Literatur

  1. Fleck, C. Fluorintoxikation. Pschyrembel online. 2020. www.pschyrembel.de. www.pschyrembel.de
  2. Gängler, P, et al. Konservierende Zahnheilkunde und Parodontologie. Kapitel Fluoride. Thieme online. 2010. DOI: 10.1055/b-0034-18537. www.thieme-connect.de
  3. Jha SK, Singh RK, Damodaran T, Mishra VK, Sharma DK, Rai D. Fluoride in groundwater: toxicological exposure and remedies. J Toxicol Environ Health B Crit Rev. 2013. 16(1):52-66. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  4. Monsour PA, et al. Acute fluoride poisoning after ingestion of sodium fluoride tablets. The Medical Journal of Australia 1984; 141: 503-5. PubMed
  5. Augenstein WL, et al. Fluoride ingestion in children: A review of 87 cases. Pediatrics 1991; 907-12. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  6. Gelbe Liste. Fachinformation: Calciumgluconat B. Braun 10 % Injektionslösung B. Braun Melsungen AG. Aufruf 11.06.2023. www.gelbe-liste.de. www.gelbe-liste.de

Autor*innen

  • Moritz Paar, Dr. med., Facharzt für Allgemeinmedizin, Münster
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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