Zusammenfassung
- Definition:Aufnahme von Fluorid in toxischer Konzentration.
- Häufigkeit:Hohe Dunkelziffer; bei Kleinkindern durch übermäßige Einnahme von Fluoridtabletten möglich.
- Symptome:In der Regel keine oder leichte Symptome, bei Einnahme höherer Dosen können Speichelfluss, Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen, Durchfall, Durstgefühl und zentralnervöse Symptome auftreten.
- Befunde:Können fehlen; möglich sind Dehydrierung, zentralnervöse Symptome, Atemdepression und Krämpfe.
- Diagnostik:Messung des Fluoridspiegels im Blut, Erhöhung der Blutsenkungsgeschwindigkeit möglich, Aufhellung der Knochen im Röntgen (bei chronischer Fluorose).
- Therapie:Einnahme von Milch oder kalziumreichen Getränken; ggf. Magenspülung; ggf. Gabe von Kalziumglukonat.
Giftnotrufzentralen
Ort |
Region |
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B, BRA |
030 19240 |
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Bonn |
NRW |
0228 19240 |
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Zürich |
CH |
145 (in CH), +41 44 2515151 |
Allgemeine Informationen
- Der Abschnitt basiert, sofern nicht anders gekennzeichnet, auf diesen Referenzen.1-2
Definition
- Chronische Fluorintoxikation (Fluorose): Krankheitsbilder durch übermäßige Zufuhr von Fluorid
- Zahnfluorose
- Knochenfluorose (Skelettfluorose)
- Akute Fluoridvergiftung: Aufnahme von Fluorid in toxischer Konzentration über Gastrointestinaltrakt, Lungen oder Haut
- Die sicher toxische Dosis (Certainly Toxic Dose; CTD) liegt bei 32–64 mg Fluorid pro Kilogramm Körpergewicht (70–140 mg Natriumfluorid pro kg; Natriumfluorid ist die Fluorverbindung, die vor allem in Präparaten zur Kariesprophylaxe eingesetzt wird. 1 mg Fluorid entsprechen 2,2 mg Natriumfluorid.)
- Bereits eine Menge von 5 mg/kg gilt als kritische Schwelle für das Auftreten von Symptomen.
- Bei Kindern unter 5 Jahren gelten Dosen von mehr als 25 mg Fluorid als Vergiftung.3
- Die Einnahme von 17–22 mg Natriumfluorid pro kg (8–10 mg Fluorid/kg) kann bereits zu schweren Vergiftungserscheinungen bei Kindern führen.4-5
- Die Toxizität der Fluorverbindungen hängt vom Grad ihrer Löslichkeit ab.
Häufigkeit
- Kaum gesicherte globale Daten
- Die Einnahme einer Überdosis von Fluoridtabletten ist ein häufiges Phänomen in der Altersgruppe von 1–3 Jahren.
- Einige Insektizide/Schädlingsbekämpfungsmittel sind ebenfalls reich an Fluorid, eine Einnahme kann zu Fluorvergiftung führen.
- Bei Kindern eher akzidentelle Vergiftungen, bei Erwachsenen eher in suizidaler Absicht
Toxizität
- Kinder von 1–5 Jahren
- bis zu 25 mg Fluorid (ca. 55 mg Natriumfluorid): meist keine Symptome
- bis zu 100 mg Fluorid: meist leichte Symptome
- Mehr als 100 mg Fluorid: Eine schwere Vergiftung ist möglich.
- Kinder ab 5 Jahren und Erwachsene
- Bis zu 5 mg Fluorid pro kg: Meist sind keine oder nur leichte Symptome zu erwarten.
- Letaldosis
- Wird mit 70–140 mg Natriumfluorid pro kg angegeben (d. h. 32–64 mg Fluorid/kg Körpergewicht).
Ätiologie und Pathogenese
- Fluor wirkt durch die Beeinflussung einer Reihe von Enzymsystemen auf der Zellebene unmittelbar zytotoxisch.
- Fluor bindet nach Aufnahme an Kalzium und kann somit zu einer Hypokalzämie führen.
- Die resultierende Hypokalzämie stellt die wichtigste Ursache der Symptome und Folgen einer Fluoridvergiftung dar.
- In der sauren Umgebung des Magens kann sich Fluorwasserstoff bilden, der wiederum gastrointestinale Reizungen und evtl. Erosionen hervorrufen kann.
- Fluoridtabletten enthalten häufig den Füllstoff Sorbitol, der Übelkeit, Erbrechen und Durchfall auslösen kann, ohne dass notwendigerweise eine toxische Dosis Fluorid eingenommen wurde.
Prädisponierende Faktoren
- Einfacher Zugang zu Fluoridpräparaten für Kinder
- Suizidalität (z. B. im Rahmen einer schweren Depression)
- Berufliche Exposition (z. B. Kryolithindustrie, siehe Berufskrankheiten)
- Fluorose ist endemisch in Ländern, in denen das Trinkwasser mit Fluoriden angereichert wird.
- Verordnung von Natriumfluorid in der Behandlung der Osteoporose
ICPC-2
- A84 Vergiftung durch medizinische Substanz
ICD-10
- T96 Folgen einer Vergiftung durch Arzneimittel, Drogen und biologisch aktive Substanzen
- T65.9 Toxische Wirkung einer nicht näher bezeichneten Substanz
- Inkl.: Vergiftung o.n.A.
Diagnostik
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Diagnostische Kriterien
- Anamnese mit Hinweisen auf Einnahme von Fluorverbindungen in Verbindung mit unspezifischen gastrointestinalen und/oder zentralnervösen Symptomen
Differenzialdiagnosen
- Mischvergiftung, evtl. Vergiftung durch eine andere Substanz
- Hypokalzämie anderer Ursache
Anamnese
- (Vermutete) Einnahme großer Mengen Fluorids
- Die meisten Expositionen verlaufen asymptomatisch oder mit leichten Symptomen.
- Vergiftungssymptome zeigen sich meistens binnen der ersten Stunde nach Einnahme.
- Sie können jedoch auch mehrere Stunden nach der Einnahme auftreten.
- Mögliche Vergiftungssymptome umfassen Speichelfluss, Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen, Durchfall, Durstgefühl, Tremor und Bewusstseinsstörungen bis hin zum Koma.
- (Fremd-)Anamnestische Fragen:
- Wann fand die Einnahme statt?
- Was wurde eingenommen?
- Menge der Substanz und Potenz (z. B. Stärke der Fluoridtabletten)?
- Mögliche Absicht der Einnahme?
Beispiele für den Fluorgehalt in gängigen Präparaten
- Fluoridtabletten: 0,25–1,0 mg Fluorid/Tablette
- Fluorid-Kaugummis: 0,25 mg Fluorid/Stück
- Mundspüllösungen: 0,23 mg Fluorid/ml (0,05 % Natriumfluorid) – 0,9 mg Fluorid/ml (0,2 % Natriumfluorid) [je nach Präparat)
- Fluoridlack: 22,6 mg Fluorid/ml
- Zahnpasta: 1.000–1.500 ppm (Parts per Million) = 1,0–1,5 mg Fluorid/g Zahnpasta
Klinische Untersuchung
- Bei gastrointestinaler Vergiftung treten folgende Symptome auf:
- Speichelfluss
- Erbrechen, auch blutig
- Durchfall, auch blutig
- Hämaturie
- Dehydrierung
- Tremor
- zentralnervöse Symptome (Müdigkeit bis hin zu Koma)
- Schock
- Beeinflussung der Atmung (anfängliche Stimulation gefolgt von einer Hemmung)
- Hypokalzämie
- Krämpfe (epileptiforme oder tetanische)
- Wunden/Bläschen auf der Schleimhaut
- hyperaktive Reflexe
- Bei inhalativer Vergiftung treten folgende Symptome auf:
- Niesen
- Husten
- Tränenfluss
- Atemnot
- Lungenödem
- evtl. Tod unter Krämpfen
- Bei dermaler Vergiftung treten folgende Symptome auf:
- tiefe Nekrosen
- schlecht heilende Ulzera
Ergänzende Untersuchungen
- Bei Verdacht auf schwere Vergiftung im Krankenhaus Blutentnahme: Kalzium, Kalium, Magnesium, Säuren-/Basenstatus, Kreatinin, GOT, GPT, GGT und Glukose
- Hypokalzämie ist eine häufige Folge.
- Hypomagnesiämie, Hyperkaliämie und Hypoglykämie können ebenfalls auftreten.
- EKG und ggf. Monitorüberwachung
- Möglich sind QRS-Komplex-Verbreiterung, Herzrhythmusstörungen, Schock bis hin zu Herzstillstand.
Indikationen zur Einweisung
- Verdacht auf schwere Vergiftung
- mehr als 75 mg Fluorid bei Kindern unter 5 Jahren (z. B. ca. 1–2 Tuben Zahnpasta)
- bei mehr als 5 mg Fluorid/kg Körpergewicht bei Patient*innen über 5 Jahren und Verdacht auf schwere Vergiftung
Therapie
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Therapieziele
- Frühzeitiges Erkennen, ggf. Notfallbehandlung und Verhinderung von Folgeschäden
Übersicht der therapeutischen Optionen
- Nach Inhalation des Gases
- Erste-Hilfe-Maßnahmen
- Kalziumglukonat (Antidot) per inhalationem
- Sauerstoff-Überdruckbeatmung
- Nach peroraler Aufnahme
- Flüssigkeitsgabe (Milch, 1-prozentige Kalziumglukonatlösung)
- Bei Verdacht auf Verätzung im Magen-Darm-Trakt kein Erbrechen auslösen, keine Aktivkohle geben, keine Neutralisation vornehmen.
- vorsichtige Magenspülung
- Nur zu erwägen, sofern weniger als 1 Stunde nach Einnahme von mehr als 8 mg Fluorid/kg vergangen ist.
- Milch kann ggf. als Spülflüssigkeit verwendet werden.
- Kutane Aufnahme
- ausgiebiges Spülen von Haut und Augen (> 20 min!) mit z. B. 1-prozentiger Natriumhydrogencarbonat-Lösung
- Symptomatische Therapie
- Schmerztherapie (z. B. Morphin titriert in 2,5-mg-Schritten)
- Behandlung von Herzrhythmusstörungen
- Kalziumsalze i. v. bei Krämpfen (s. u.)
- Einnahme von Milch oder kalziumreichen Getränken, da Kalzium mit Fluorid schwerlösliche Kalziumfluoride bildet und die Absorbtion verlangsamen kann.
Vorgehen je nach Alter
- Kinder von 1–5 Jahren
- Einnahme von bis zu 25 mg Fluorid: keine besonderen Maßnahmen
- Einnahme von 25–100 mg Fluorid: Gabe von Milch oder anderen kalziumhaltigen Getränken; ggf. Gabe von aluminiumhaltigen, flüssigen Antazida (s. u.)
- mehr als 100 mg Fluorid: Gabe von Milch oder anderen kalziumhaltigen Getränken; Krankenhauseinweisung
- Kinder ab 5 Jahren und Erwachsene
- Einnahme von weniger als 5 mg/kg Körpergewicht: keine Behandlung nötig
- Einnahme von über 5 mg/kg Körpergewicht und Verdacht auf schwere Vergiftung: Krankenhauseinweisung
- Magenspülung, wenn weniger als 1 Stunde seit der Einnahme vergangen ist.
- langsame intravenöse Injektion von Kalziumglukonat (s. u.)
- symptomatische Behandlung mit besonderem Augenmerk auf Ventilation, Durchblutung und Flüssigkeits-/Elektrolythaushalt
- Überprüfung von Leber- und Nierenfunktion
Medikamentöse Therapie
- Kalziumgabe6
- Die Wirkung und Dosis von Kalzium ist umstritten und schlecht durch belastbare Fakten belegt.
- Bei gesichert massiver Einnahme von Fluorid kann Kalzium jedoch verabreicht werden, bevor Testergebnisse über den Serum-Kalzium-Spiegel vorliegen.
- Die physiologische Kalziumkonzentration im Plasma liegt im Bereich 2,25–2,62 mmol pro Liter.
- Die übliche Anfangsdosis für Erwachsene beträgt 10 ml Kalziumglukonat 10-%-Injektionslösung, entsprechend 2,25 mmol Kalzium.
- Falls erforderlich, kann die Gabe in Abhängigkeit vom klinischen Zustand der Patient*innen wiederholt werden.
- Antazida
- Aluminiumhaltige, flüssige Antazida (z. B. die Wirkstoffe Almasilat, Aluminium-Magnesiumsilikat, Aluminiumoxid + Magnesiumhydroxid u. a.) können fluoridbindende Eigenschaften aufweisen und erwogen werden.
Prävention
- Aufbewahrung von Fluoridpräparaten außerhalb der Reichweite von kleinen Kindern
- Möglichst frühzeitiges Erkennen und Therapieren schwerer Depressionen zur Verhinderung von Suizidalität
Verlauf, Komplikationen und Prognose
- Der Abschnitt basiert, sofern nicht anders gekennzeichnet, auf diesen Referenzen.1-2
Verlauf
- Häufig treten die Vergiftungssymptome binnen der ersten Stunde auf, selten auch einige Stunden nach der Einnahme von Fluoriden.
Komplikationen
- Schock, Atemstörung, Krampfanfälle, Herzrhythmusstörungen
- Todesursache ist meist Kreislauf- oder Atemstillstand.
- Leber- und Nierenschäden können auftreten.
- Eine langanhaltende übermäßige Exposition von Fluorid kann Dental- oder Skelettfluorose verursachen.
Prognose
- Der Giftinformationszentrale nach verlaufen die meisten Expositionen asymptomatisch oder nur mit leichten Symptomen.
- Chronische Fluorose hat Auswirkungen an Knochen und Zähnen.
- Der Knochen wird anfälliger für Frakturen, Gelenke werden in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt.
- Die Zähne verfärben sich (weiße Flecken).
Patienteninformationen
Worüber sollten Sie die Patient*innen informieren?
- Eine Fluoridvergiftung kommt häufig bei kleinen Kindern vor, doch kann ihr vorgebeugt werden, indem Fluoridtabletten und Ähnliches außerhalb der Reichweite von Kindern aufbewahrt werden.
- Eine Vergiftung ist selten lebensbedrohlich und zieht in der Regel keine Folgeschäden nach sich.
Quellen
Literatur
- Fleck, C. Fluorintoxikation. Pschyrembel online. 2020. www.pschyrembel.de. www.pschyrembel.de
- Gängler, P, et al. Konservierende Zahnheilkunde und Parodontologie. Kapitel Fluoride. Thieme online. 2010. DOI: 10.1055/b-0034-18537. www.thieme-connect.de
- Jha SK, Singh RK, Damodaran T, Mishra VK, Sharma DK, Rai D. Fluoride in groundwater: toxicological exposure and remedies. J Toxicol Environ Health B Crit Rev. 2013. 16(1):52-66. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Monsour PA, et al. Acute fluoride poisoning after ingestion of sodium fluoride tablets. The Medical Journal of Australia 1984; 141: 503-5. PubMed
- Augenstein WL, et al. Fluoride ingestion in children: A review of 87 cases. Pediatrics 1991; 907-12. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Gelbe Liste. Fachinformation: Calciumgluconat B. Braun 10 % Injektionslösung B. Braun Melsungen AG. Aufruf 11.06.2023. www.gelbe-liste.de. www.gelbe-liste.de
Autor*innen
- Moritz Paar, Dr. med., Facharzt für Allgemeinmedizin, Münster
- Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).