Allgemeine Informationen
Definition
- Chaotischer, hochfrequenter Rhythmus mit elektrischen Undulationen, die in zeitlichem Ablauf und Morphologie irregulär sind.1
- keine unterscheidbaren QRS-Komplexe im Oberflächen-EKG
- Konsekutiv Kreislaufstillstand durch Fehlen einer effektiven Kontraktion des Myokards
- ohne rasche Unterbrechung nicht mit dem Leben vereinbar
Klassifikation
- Kammerflimmern gehört neben der pulslosen ventrikulären Tachykardie zu den defibrillierbaren Rhythmusstörungen.2-3
- Nicht-defibrillierbare Rhythmusstörungen umfassen Asystolie und PEA (pulslose elektrische Aktivität).
Häufigkeit
- Kammerflimmern ist die häufigste Ursache des plötzlichen Herztods.4
- Inzidenz des plötzlichen Herztods ca. 1/1.000 Einw. pro Jahr in westlichen Ländern5-6
- Kammerflimmern ist die erste dokumentierte Rhythmusstörung bei 75 % der Fälle mit Herzstillstand.6
- Die Inzidenz ist bei Männern höher als bei Frauen, dies ist vor allem Ausdruck des häufigeren Vorkommens einer KHK bei Männern.7
Ätiologie
Patient*innen mit struktureller Herzerkrankung
- Eine koronare Herzerkrankung ist die häufigste Ursache (ca. 80 % der Fälle).4,8
- KHK prädisponiert zu Kammerflimmern in folgenden Situationen:6
- akutes Koronarsyndrom (ACS)
- Myokardischämie ohne Infarkt
- strukturelle Veränderungen wie z. B. Narbenbildung oder ventrikuläre Dilatation als Folgen von Infarkt oder chronischer Ischämie
- KHK prädisponiert zu Kammerflimmern in folgenden Situationen:6
- Kardiomyopathien (ca. 10–15 %)4
- dilatative Kardiomyopathie
- hypertrophe Kardiomyopathie
- arrhythmogene rechtsventrikuläre Kardiomyopathie (ARVC)
- Andere strukturelle Herzerkrankungen
- Klappenerkrankungen
- angeborene Vitien
- infiltrative Herzerkrankungen
Patient*innen ohne strukturelle Herzerkrankung
- Bei ca. 5–10 % der Patient*innen mit Kammerflimmern finden sich keine Hinweise auf eine strukturelle Herzerkrankung.9
- Es handelt sich um genetisch bedingte Ionenkanalerkrankungen ohne eindeutige strukturelle Veränderungen des Herzens.5
- Long-QT-Syndrom
- Brugada-Syndrom
- Short-QT-Syndrom
- katecholaminerge polymorphe ventrikuläre Tachykardie
ICD-10
- I49.0 Kammerflattern und Kammerflimmern
EKG-Diagnostik
- EKG-Kriterien des Kammerflimmerns10
- oszillierende elektrische Aktion mit nur noch geringer Abweichung von der isoelektrischen Linie
- Frequenz ca. 250–400/min
- Einzelne elektrische Aktionen sind nur noch teilweise voneinander abgrenzbar.
- Kann direkt aus supraventrikulärem Rhythmus heraus auftreten, meist aber zuvor Phase mit ventrikulärer Tachykardie/Kammerflattern mit Degeneration zu Kammerflimmern
- Siehe auch Artikel Checkliste EKG.
Reanimation
- Patient*innen mit Kammerflimmern oder V. a. Herz-Kreislauf-Stillstand durch Kammerflimmern müssen möglichst umgehend reanimiert werden.2-3,11
Basisreanimation durch Laien (Basic Life Support, BLS)
- Siehe Artikel Basic Life Support (BLS) bei Erwachsenen.
- Laienreanimation kann die ersten drei Glieder der Rettungskette abdecken.
- Rettungskette
- Erkennen des Kreislaufstillstands und Notruf
- frühe Wiederbelebung mit Herzdruckmassage (evtl. zusätzlich Beatmung)
- frühe Defibrillation (falls Automatisierter Externer Defibrillator = AED verfügbar)
- erweiterte Maßnahmen
- standardisierte Behandlung nach Reanimation
- Anleitung von Ersthelfer*innen auch über das Telefon, im Allgemeinen durch die Leitstelle (Telefonreanimation)
Leitlinie: Praktisches Vorgehen beim Basic Life Support2-3,11
- Erkennen des Kreislaufstillstands
- Überprüfen, ob Person regiert:
- Leicht an den Schultern schütteln.
- Laute Frage: „Ist alles in Ordnung?“
- Überprüfen, ob Person regiert:
- Bei fehlender Reaktion Person auf den Rücken legen und Atemwege öffnen.
- Überstreckung des Kopfes und Anheben des Kinns
- Atmung kontrollieren.
- Sehen, Hören, Fühlen: max. 10 sec zur Beurteilung
- Wichtig: Schnappatmung ist als Atemstillstand zu werten!
- Bei fehlender oder anomaler Atmung
- Notruf 112 (möglichst durch andere Ersthelfer*in, sonst selbst)
- Falls AED (Automatisierter Externer Defibrillator) in der Nähe, durch weitere Helfer*in holen lassen.
- Herzdruckmassage beginne.
- Oberkörper freimachen.
- Thoraxkompression 100–120/min
- Drucktiefe 5–6 cm
- nach jeder Kompression vollständige Entlastung des Brustkorbs ohne Kontaktverlust
- bei geübten Helfer*innen: nach jeweils 30 Kompressionen 2 Beatmungen Mund-zu-Mund, hierfür Unterbrechung der Kompression max. 10 sec
- Dauer der einzelnen Atemspende jeweils 1 sec
- Ziel ist die sichtbare Anhebung des Thorax.
- Falls Beatmung durch Ersthelfer*in nicht durchführbar oder abgelehnt, alleinige kontinuierliche Thoraxkompression mit 100–120/min!
- Einsatz des AED, sobald verfügbar
- Gerät anschalten und Pads aufkleben.
- Falls zweite Helfer*in anwesend, Herzdruckmassage während des Aufklebens fortsetzen.
- Den Sprachanweisungen des Gerätes folgen.
- für Rhythmusanalyse durch AED kurze Unterbrechung der Herzdruckmassage (Hände weg von Patient*in)
- Bei Erkennung eines defibrillationsfähigen Rhythmus wird automatisch eine vorprogrammierte Schockenergie zur Verfügung gestellt (Ladephase für Thoraxkompressionen nutzen!).
- Schockbereitschaft wird durch Signalton angezeigt, die Schockabgabe erfolgt durch Knopfdruck oder automatisch (Sprachwarnung: Patient*in nicht berühren!).
- Falls keine Schockabgabe ausgelöst oder empfohlen (wird vom AED angesagt), Fortsetzung der Herzdruckmassage (und Beatmung, falls möglich)
- kurze Unterbrechung der Thoraxkompressionen alle 2 min für Rhythmusanalyse
- Gerät anschalten und Pads aufkleben.
- Falls kein AED verfügbar, Fortsetzung der Herzdruckmassage (und Beatmung, falls möglich), bis professionelle Hilfe eintrifft.
Erweiterte Reanimationsmaßnahmen für Rettungs- und Pflegepersonal (Advanced Life Support, ALS)
- Siehe Artikel Advanced Life Support (ALS) bei Erwachsenen.
Leitlinie: Praktisches Vorgehen beim Advanced Life Support2-3,11
- Erweiterte Maßnahmen erfordern mindestens zwei Helfer*innen, folgende Maßnahmen sind vorgesehen:
- Thoraxkompression/Beatmung 30:2
- Defibrillator/EKG-Monitor anschließen.
- Defibrillierbarer Rhythmus (Kammerflimmern/pulslose Kammertachykardie)
- ein Defibrillationsversuch (120–360 J biphasisch, im Zweifel Maximalenergie) unmittelbar gefolgt von 2 min Kompression/Beatmung 30:2
- anschließend erneute Rhythmusanalyse
- falls notwendig zweiter Schock unmittelbar gefolgt von 2 min Kompression/Beatmung 30:2
- nach erneuter Rhythmusanalyse ggf. dritter Schock mit maximaler Energie
- Adrenalin 1 mg / Amiodaron 300 mg nach drittem erfolglosem Schock
- 1-ml-Ampulle 1:1.000 mit 9 ml NaCl 0,9 % verdünnen: 1 ml = 0,1 mg (= 1:10.000) (Anm. d. Red.)
- Nichtdefibrillierbarer Rhythmus (Asystolie, PEA = pulslose elektrische Aktivität)
- Kompression/Beatmung 30:2
- Atemwegssicherung/O2-Gabe
- peripher-venöser (oder intraossärer) Zugang: Gabe von 1 mg Adrenalin
- Kompression/Beatmung 30:2 für 2 min weiterführen.
- erneute Rhythmusanalyse, ggf. wieder 1 mg Adrenalin usw.
- Hinweise zur Herzdruckmassage
- Helferwechsel bei jeder Rhythmuskontrolle
- Herzdruckmassage darf nur kurz pausiert werden für:
- Beatmung (2 x in 5 sec)
- Defibrillation (max. 5 sec, während des Ladevorgangs Kompression weiterführen)
- max. 5 sec für die Intubation
- max. 10 sec für die Rhythmuskontrolle
- Atemwegssicherung/Beatmung
- Intubation nur von wirklich Erfahrenen!
- Thoraxkompression nach Möglichkeit nicht unterbrechen.
- alternativ Maskenbeatmung mit Beutel/Sauerstoff, falls keine ausreichende Erfahrung mit Intubation oder anderen Atemwegshilfen (z. B. Larynxmaske)
- erleichterte Maskenbeatmung mit Guedeltubus
- bis zum Erreichen des Spontankreislaufs (ROSC = Return of Spontaneous Circulation) Beatmung mit 100 % O2, anschließend Ziel für periphere Sättigung 94–98 %
- Kapnografie (CO2-Messung in der Ausatemluft) empfohlen für die Beurteilung der Effektivität der Reanimation
- Intubation nur von wirklich Erfahrenen!
- Medikation
- Zugang für Medikamente
- möglichst periphere Vene
- falls i. v. nicht möglich, Gabe intraossär
- Transbronchiale Gabe definitiv nicht mehr empfohlen!
- Adrenalin
- Adrenalin 1 mg i. v. (nachspülen mit NaCl) bevorzugter Vasopressor sowohl bei nichtdefibrillierbarem als auch bei defibrillierbarem Rhythmus
- bei defibrillierbarem Rhythmus erste Gabe nach dem drittem Schock
- Wiederholung bei fehlendem Kreislauf alle 3–5 min
- Adrenalin 1 mg i. v. (nachspülen mit NaCl) bevorzugter Vasopressor sowohl bei nichtdefibrillierbarem als auch bei defibrillierbarem Rhythmus
- Amiodaron
- i. v. Bolus 300 mg indiziert bei Persistenz von Kammerflimmern oder pulsloser Tachykardie trotz 3 Schocks (Wiederholungsbolus von 150 mg möglich)
- Magnesium
- bei Torsades-des-Pointes-Tachykardie oder Digitalisintoxikation Gabe von 2 g Magnesium i. v. über 1–2 min möglich
- Atropin
- Nicht mehr empfohlen bei Reanimation!
- Zugang für Medikamente
- Ultraschalluntersuchung während der Reanimation
- „Point-of-Care-Ultraschall“ (POCUS) während der Reanimation zur Feststellung reversibler Ursachen (z. B. Tamponade, Pneumothorax) eines Kreislaufstillstands sinnvoll
- erfahrene Untersucher*in für die Durchführung während der Reanimation erforderlich
Prognose nach Reanimation
- Die Überlebenschance nach Kammerflimmern hängt ab von:
- Die Erfolgsrate der initialen Behandlung von Kammerflimmern ist stark zeitabhängig.7
- Die Erfolgsrate sinkt um ca. 2–10 %/min.
- 2/3 der Patient*innen mit primär erfolgreicher Reanimation aus kardialer Ursache versterben an neurologischen Schäden.11
Sekundär- und Primärprävention von Kammerflimmern
- Sofern keine reversible Ursache vorliegt, sollte nach überlebtem Kammerflimmern eine ICD-Implantation zur Sekundärprophylaxe erfolgen.
- Siehe auch Artikel Ventrikuläre Tachykardie.
- Bei einer Reihe von Erkrankungen ist unter bestimmten Umständen eine primärprophylaktische ICD-Implantation empfohlen, da ein erhöhtes Risiko für Kammerflimmern und plötzlichen Herztod besteht.
- Siehe hierzu auch die Artikel:
Leitlinie: Sekundär- und Primärprävention von Kammerflimmern1
Sekundärprävention
- Die ICD-Implantation ist empfohlen bei Patient*innen mit dokumentiertem Kammerflimmern oder hämodynamisch nicht tolerierter ventrikulärer Tachykardie, sofern keine reversible Ursache vorliegt.
Primärprävention
- Herzinsuffizienz
- ICD ist empfohlen bei Patient*innen mit KHK, symptomatischer Herzinsuffizienz und LVEF ≤ 35 %
- ICD sollte erwogen werden bei Patient*innen mit dilatativer Kardiomyoapthie und hypokinetischer nicht-dilatativer Kardiomyopathie, symptomatischer Herzinsuffizienz und LVEF ≤ 35 %
- ICD ist empfohlen bei Patient*innen mit Sarkoidose und einer LVEF ≤ 35 %
- ARVC
- ICD sollte erwogen werden bei ARVC und Synkope und/oder schwerer RV- oder LV-Dysfunktion.
- Hypertrophe Kardiomyopathie
- ICD sollte erwogen werden bei Patient*innen mit einem geschätzten 5-Jahres-Risiko für plötzlichen Herztod ≥ 6 %.
- Long-QT-Syndrom
- ICD ist empfohlen bei Patient*innen mit LQTS, die unter Betablockern und genotypspezifischer Therapie symptomatisch sind.
- Brugada-Syndrom
- ICD ist empfohlen bei Patient*innen mit dokumentierten anhaltenden ventrikulären Tachykardien.
Quellen
Leitlinien
- Deutsche Gesellschaft für Kardiologie. Pocket-Leitlinie Kardiopulmonale Reanimation, Stand 2021. www.dgk.org
- European Resuscitation Council. Guidelines for Resuscitation, Stand 2021. www.erc.edu
- German Resuscitation Council – Deutscher Rat für Wiederbelebung. Reanimation – Leitlinien kompakt, Stand 2021. www.grc-org.de
- European Society of Cardiology. Guidelines for the management of patients with ventricular arrhythmias and the prevention of sudden cardiac death. Stand 2022. www.escario.org
Literatur
- European Society of Cardiology (ESC). Guidelines for the management of patients with ventricular arrhythmias and the prevention of sudden cardiac death. Stand 2022. www.escardio.org
- Deutscher Rat für Wiedebelebung - German Resuscitation Council (GRC). Reanimationsleitlinien 2021. www.grc-org.de
- European Resuscitation Council (ERC). Guidelines for Resuscitation. Stand 2021. www.cprguidelines.eu
- Huikuri H, Castellanos A, Myerburg R. Sudden Death Due to Cardiac Arrhythmias. N Engl J Med 2001; 345: 1473-1482. doi:10.1056/NEJMra000650 DOI
- Brugada P. Cardiac arrhythmias and sudden death. ESC E-Journal of Cardiology Practice 2004;2,N°32. Zugriff 20.12.17. www.escardio.org
- Sakib M, Khan M, Chowdhury M, et al. Sudden Cardiac Death (SCD) - A Raising Concern of Modern Cardiology. KYAMC Journal 2016; 7: 714-718. doi:10.3329/kyamcj.v7i1.33765 DOI
- Goyal S. Ventricular fibrillation. Medscape, updated Jun 06, 2018. Zugriff 28.05.23. emedicine.medscape.com
- Koplan B, Stevenson W. Ventricular Tachycardia and Sudden Cardiac Death. Mayo Clin Proc 2009; 84: 289-297. www.ncbi.nlm.nih.gov
- Haverkamp W, Breithaupt G. Moderne Herzrhythmustherapie - Kammerflimmern. Stuttgart: Georg Thieme Verlag, 2003. www.thieme-connect.de
- Rainer Klinge. Das Elektrokardiogramm. Leitfaden für Ausbildung und Praxis. 10. Aufl. Stuttgart/New York: Georg Thieme Verlag, 2015.
- Deutsche Gesellschaft für Kardiologie. Leitlinie Kardiopulmonale Reanimation. Stand 2021. leitlinien.dgk.org
Autor
- Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.