Malignes Neuroleptika-Syndrom (MNS)

Zusammenfassung

  • Definition:Eine schwere, potenziell tödliche Komplikation bei der Einnahme von Antipsychotika oder dem abrupten Absetzen von Dopamin-Agonisten.
  • Häufigkeit:0,02–0,04 % der mit Antipsychotika behandelten Personen.
  • Symptome:Hyperthermie ohne Infektnachweis, starkes Schwitzen, Rigor, fluktuierende Bewusstseinsstörung.
  • Befunde:CK-Erhöhung, Herzfrequenz- und Blutdruckschwankungen.
  • Diagnostik:Ausschlussdiagnose durch Labortests.
  • Therapie:Absetzen des Antipsychotikums oder ggf. Wiederaufnahme der dopaminergen Therapie. Bei schwerem Verlauf intravenöse Flüssigkeitszufuhr, Kühlung und stationäre Behandlung.

Allgemeine Informationen

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert dieser Artikel auf diesen Referenzen.1-3

Definition

  • Das maligne Neuroleptika-Syndrom ist eine potenziell tödliche Komplikation bei der Einnahme von Antipsychotika (Neuroleptika).
  • Kernsymptomatik
    • Hyperthermie ohne Infektnachweis
    • Diaphorese (Schwitzen)
    • Rigor der Skelettmuskulatur
    • fluktuierende Bewusstseinsstörung
    • Erhöhung der Kreatinkinase im Blut
    • vegetative Dysfunktion mit Herzfrequenz- und Blutdruckschwankungen.
  • Die internationale Bezeichnung ist Neuroleptic Malignant Syndrome (NMS).

Häufigkeit

  • 0,02–0,04 % der mit Antipsychotika behandelten Personen
  • 70–80 % der Betroffenen sind jünger als 40–50 Jahre.
  • Der hohe Anteil milder Verläufe führt vermutlich zu einer Untererfassung.

Ätiologie und Pathogenese

  • Die Erkrankung kann von allen Arten von Antipsychotika hervorgerufen werden.
    • Am häufigsten tritt sie auf bei der Einnahme klassischer hoch- oder niedrigpotenter Neuroleptika.
  • Ein zentrales gemeinsames Merkmal aller Substanzen, die das MNS auslösen können, ist die Blockade des Dopamin-D2-Rezeptors.
    • Zusätzlich scheint eine adrenerge Überaktivierung eine Rolle zu spielen, möglicherweise aufgrund einer verminderten dopaminergen Aktivität in hypothalamisch-dienzephalen Netzwerken.
  • Die Erkrankung kann sehr selten auch durch andere antidopaminerge Medikamente ausgelöst werden, z. B. Metoclopramid.
  • Auch das abrupte Absetzen von Dopaminagonisten (Anti-Parkinson-Medikamenten) kann das Syndrom auslösen.

Prädisponierende Faktoren

  • Viele Faktoren stehen in Verdacht, das Risiko eines malignen neuroleptischen Syndroms zu erhöhen, z. B.:
    • Dehydrierung
    • vorgeschädigtes Gehirn, z. B. nach Schlaganfall
    • Fieber
    • intramuskuläre Verabreichung und Verwendung von Depotpräparaten
    • kürzlich begonnene Antipsychotikatherapie und/oder rasche Dosiserhöhung
    • klassische > atypische Antipsychotika
    • affektive Störungen
    • mentale Retardierung
    • Eisenmangel
    • psychomotorische Agitiertheit.

ICPC-2

  • A85 Unerwünschte Wirk. e. Medikaments
  • A87 Komplikation medizin. Behandlung

ICD-10

  • Nach ICD-10-GM Version 20224
  • G21 Sekundäres Parkinson-Syndrom
    • G21.0 Malignes Neuroleptika-Syndrom
  • Y57.-! Unerwünschte Nebenwirkungen bei therapeutischer Anwendung von Arzneimitteln und Drogen
    • Y57.9! Komplikationen durch Arzneimittel oder Drogen

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

Differenzialdiagnosen

Andere neuropsychiatrische Syndrome

Toxisch

  • Unspezifische arzneimittelinduzierte motorische Störungen
  • Intoxikation z. B. mit:
    • Amphetaminen
    • Kokain
    • Halluzinogenen
    • Anticholinergika (zentral-anticholinerges Syndrom – ZAS)
    • Antidepressiva
    • Antihistaminika
    • MAO-Hemmern
    • Salicylaten
    • Sympathomimetika
    • Strychnin.

Metabolisch-endokrin

Physikalisch

Kardiovaskulär

Infektionsassoziiert

Raumforderung

Abgrenzung Serotonin-Syndrom vs. MNS5

  Serotonin-Syndrom MNS
Auslösende Arzneimittel serotoninerge Stoffe Neuroleptika
Zeitlicher Verlauf

rascher Beginn, in der Regel innerhalb von Stunden bis zu einem Tag

Die Symptome verschwinden innerhalb von 1–2 Tagen.

langsamer Beginn, häufig über mehrere Tage

protrahierter Verlauf, mehrere Tage bis Wochen

Befunde oft mäßige Rigidität, auch häufiges Auftreten von Hyperreflexie, Myoklonien, Nystagmus und Mydriasis „Bleirohr-Rigidität“, kein Auftreten von Hyperreflexie, Myoklonien, Nystagmus oder Mydriasis

Anamnese

  • Die Symptome setzen in der Regel kurz nach Beginn der Antipsychotika-Therapie ein (in den meisten Fällen innerhalb von 2 Wochen) und entwickeln sich innerhalb von 24–72 Stunden.
    • Sehr selten treten sie erst mehrere Jahre nach Beginn der Behandlung auf.
  • Oft Beginn mit psychischen Symptomen
  • Rigor
    • „Bleirohr-Rigidität“ – steif, aber biegsam
    • bei atypischen Antipsychotika weniger stark ausgeprägt als bei klassischen
  • Hyperthermie
    • bei zweimaliger Messung Temperatur > 38 °C
    • Cave: Die Temperatur kann schnell auf ein hohes Niveau ansteigen!
  • Autonome Symptome
  • Evtl. Neurologische Begleitsymptome

Klinische Untersuchung

  • Gründliche körperliche Untersuchung einschließlich Messung der Körpertemperatur und neurologischem Status

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

  • Differenzialdiagnostisch relevant:
    • Blutdruck
    • EKG
    • Blutzucker
    • Urinstatus.

Ergänzende Untersuchungen

  • Labordiagnostik
    • Kreatinkinase (CK) ist in der Regel signifikant erhöht
    • Leukozytose mit Linksverschiebung
    • metabolische Azidose
    • Elektrolytstörungen
    • BSG und CRP können erhöht sein.
    • Transaminase-Anstieg
    • Myoglobinurie
    • ggf. Blutkulturen (DD Infektion)

Indikationen zur Überweisung

  • Bei jedem Verdacht auf ein schweres MNS sofortige Überweisung in ein Krankenhaus mit akutmedizinischer Versorgung
  • Zur sofortigen diagnostischen Abklärung und ggf. Notfallbehandlung (siehe Abschnitt Differenzialdiagnosen) bei:
    • plötzlich aufgetretenem oder rasch progredientem neurologischem Defizit
    • Bewusstseinsstörungen
    • neu aufgetretenen psychotischen Symptomen
    • metabolischer Dekompensation (z. B. Hyponatriämie)

Therapie

Therapieziele

  • Vitalfunktionen stabilisieren.
  • Symptome lindern.

Allgemeines zur Therapie

  • Sämtliche antipsychotischen Medikamente und ggf. Dopaminantagonisten absetzen.
  • Unterstützende Therapie durch Flüssigkeitszufuhr, fiebersenkende Maßnahmen und ggf. eine Magensonde bei Schluckbeschwerden
  • Liegt eine klare Indikation vor, ist es ratsam, frühestens 2 Wochen, nachdem die Symptome abgeklungen sind, vorsichtig mit anderen Antipsychotika zu beginnen.
  • Wenn die Symptome auf das abrupte Absetzen von Dopaminagonisten zurückzuführen sind, ist diese Behandlung wieder aufzunehmen.

Medikamentöse Therapie

  • Benzodiazepine können bei Unruhe und bei katatonen Symptomen indiziert sein.
    • Cave!
      • Benzodiazepine erhöhen u. U. das MNS-Risiko
      • Atemsuppression
    • initiale Dosierung: Lorazepam 1–2 mg p. o.
  • Dopaminagonisten können indiziert sein.
    • Cave!
      • Verstärkung psychotischer Symptome
      • Herzrhythmusstörungen
      • Blutdruckabfall
    • Dosierungsempfehlungen
      • Amantadin 100–200 mg p. o. 2-mal tgl. – oder –
      • Bromocriptin initial 2,5 mg p. o. 3-mal tgl.
        • ggf. Steigerung auf bis zu 15 mg p. o. 3-mal tgl.
  • Dantrolen (Muskelrelaxans)
    • bei extremer Hyperthermie, Rigidität und Hypermetabolismus
    • initial 1–2,5 mg/kg KG i. v. alle 6 Stunden

Weitere Therapien

  • Flüssigkeitszufuhr, ggf. i. v.
  • Kühlung
  • Elektrokonvulsionstherapie
    • Bei therapieresistenten Fällen und wenn eine klare Abgrenzung gegenüber der Katatonie nicht möglich ist.

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Meist selbstlimitierend 7–10 Tage nach Absetzen oraler Antipsychotika und bis zu 3 Wochen nach der letzten Applikation eines Depotpräparats
  • Teilweise schwere Verläufe, die eine stationäre oder sogar intensivmedizinische Behandlung erfordern.
  • Rezidive in bis zu 30 % der Fälle

Komplikationen

Prognose

  • Mortalität: 7–15 %
    • erhöht bei:
      • hohem Lebensalter
      • sehr hohem Fieber
      • hirnorganischen Vorschädigungen.
    • klassische > atypische Antipsychotika
  • Treten keine schweren Komplikationen auf, ist die Prognose gut.

Verlaufskontrolle

  • Tägliche Bestimmungen des CK-Wertes bis zu dessen Normalisierung
  • Ggf. engmaschige Kontrollen von Na, K, Krea, Urin pH, Flüssigkeitsbilanz, Blutgasanalyse

Erneute Einnahme von Antipsychotika?

  • Nach sorgfältiger Abwägung, möglichst erst 2 Wochen nach Abklingen der Symptome und unter fortlaufender Überwachung
  • Möglichst ein anderes Antipsychotikum verwenden, mit einer niedrigen Dosis beginnen und diese langsam erhöhen. Möglicherweise ist das Rezidivrisiko nach dem Wechsel von einem klassischen auf ein atypisches Antipsychotikum niedriger.

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Schizophrenie. AWMF-Leitlinie Nr. 038-009. S3, Stand 2019. www.awmf.org

Literatur

  1. Nagel M, Freisberg S, Junghanns K et al. Das maligne neuroleptische Syndrom (MNS) – Eine systematische Übersicht. Fortschr Neurol Psychiatr 2015; 83: 373-80. PMID: 26200042 PubMed
  2. Sidwell A, Aliabadi-Oglesby T, Mitchell A. Neuroleptic malignant syndrome. BMJ Best Practice; last reviewed: 18 Jan 2022, last updated: 08 Sep 2021 bestpractice.bmj.com
  3. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Schizophrenie. AWMF-Leitlinie Nr. 038-009. S3, Stand 2019. www.awmf.org
  4. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI): ICD-10-GM Version 2022. Stand 17.09.2021; letzter Zugriff 18.02.2022 www.dimdi.de
  5. Perry PJ, Wilborn CA. Serotonin syndrome vs neuroleptic malignant syndrome: a contrast of causes, diagnoses, and management. Ann Clin Psychiatry 2012;24:155-162. PubMed

Autor*innen

  • Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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