Karotissinussyndrom

Zusammenfassung

  • Definition:Hypersensitiver Karotissinusreflex, der bei Stimulierung zu Bradykardie, Blutdruckabfall und Synkopen führen kann.
  • Häufigkeit:Tritt selten vor dem 50. Lebensjahr auf, steigende Häufigkeit mit zunehmendem Alter.
  • Symptome:Synkopen oder Präsynkopen. Davor häufig Herzrasen, Übelkeit und Schweißausbrüche. Schnelle Restitution im Liegen.
  • Befunde:Während eines Anfalls ist der Puls meist verlangsamt, es kommt evtl. zu einer kurzen Asystolie und einem Blutdruckabfall.
  • Diagnostik:Anamnese, allgemeine Untersuchung auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen, EKG, falls keine Kontraindikationen vorliegen: Karotisdruckversuch (Kardiologie) zur Bestätigung der Diagnose.
  • Therapie:Aufklärung der Patient*innen über die Harmlosigkeit der Erkrankung. Vermeidung von auslösenden Faktoren. Bei Prodromi ggf. Gegenmaßnahmen wie Hocken, Kreuzen der Beine, Anspannung der Bein-, Gesäß-, Bauch-, Armmuskulatur. Liegende Position einnehmen, um Sturzverletzungen zu vermeiden. Ein Schrittmacher ist bei häufigen Synkopen, mit Nachweis einer Bradykardie oder Episoden mit Asystolie, angezeigt.

Allgemeine Informationen

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der Abschnitt auf diesen Referenzen.1-4

Definition

  • Schwindel und Ohnmachtsanfälle (vasovagale Synkopen) aufgrund einer Hypersensitivität des Sinus caroticus
  • Das Syndrom entsteht aufgrund einer extremen Reflexantwort nach der Stimulierung der Barorezeptoren im Sinus caroticus.
  • Die Folge können Sinusarrest, sinuatrialer Block, AV-Block und Blutdruckabfall sein.

Häufigkeit

  • Das Syndrom tritt selten vor dem 50. Lebensjahr auf, aber die Prävalenz nimmt mit dem Alter und Komorbiditäten zu (kardiovaskuläre, zerebrovaskuläre, neurodegenerative Erkrankungen) und tritt bei Männern häufiger auf.
  • Das Karotissinussyndrom ist bei älteren Menschen wahrscheinlich unterdiagnostiziert.
  • Das Syndrom äußert sich bei bis zu 45 % der älteren Patient*innen durch Synkopen, Stürze und Schwindelanfälle.

Ätiologie und Pathogenese

Normale Blutdruckhomöostase

  • Der Karotissinusreflex spielt bei der Regulation des Blutdrucks eine wichtige Rolle.
  • Barorezeptoren in Herz, Sinus caroticus, Aortenbogen und anderen großen Gefäßen sprechen auf transmurale Druckänderungen an.
  • Der Sinus caroticus sendet afferente Impulse über den Nervus glossopharyngeus und den Nervus vagus an den Nucleus tractus solitarii und die paramedianen Kerne im Hirnstamm.
  • Efferente Impulse gelangen über sympathische Nerven und den Vagusnerv zum Herzen und den peripheren Blutgefäßen und regulieren dadurch die Herzfrequenz und den vasomotorischen Tonus.

Pathophysiologie

  • Die Sensitivität der Barorezeptoren nimmt in der Regel mit dem Alter ab, bei einigen Menschen ist sie aber in der A. carotis erhöht. Dann kann schon ein leichter Druck auf die Karotiden zu Bradykardie und/oder Blutdruckabfall führen.
  • Bei dieser Reflexantwort können unterschiedliche Komponenten dominieren:
    1. kardioinhibitorische Komponente (70–75 %)
      • aufgrund eines erhöhten Tonus im Parasympathikus
      • Tritt in Form von Sinusbradykardie, Sinusarrest oder auch einem AV-Block I bis III auf.
    2. vasodepressorische Komponente (5–10 %)
      • aufgrund einer verringerten Sympathikusaktivität
      • verbunden mit niedrigem vaskulärem Tonus und Hypotonie unabhängig von der gesunkenen Herzfrequenz
  • Kombination der beiden Komponenten in 20–25 % der Fälle

Prädisponierende Faktoren

  • Steigendes Alter
  • Hypertonie
  • Herz-Kreislauf-Erkrankung
  • Arteriosklerotische Veränderungen am Sinus caroticus
  • Gleichzeitige medikamentöse Behandlung mit Digitalis, Betablockern, Methyldopa

ICPC-2

  • A06 Ohnmacht/Synkope

ICD-10

  • G90 Krankheiten des autonomen Nervensystems5
    • G90.0 Idiopathische periphere autonome Neuropathie
      • G90.00 Karotissinus-Syndrom (Synkope)

Diagnostik

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der Abschnitt auf diesen Referenzen.1-2,4

Diagnostische Kriterien

  • Entscheidende Hinweise kommen aus der Anamnese (s. u.).
  • Positiver Karotisdruckversuch

Differenzialdiagnosen

Synkope anderer Genese

Neurologische Erkrankungen

Metabolische Störungen

Weitere Ursachen

Anamnese

  • Kurzzeitige Episoden mit Schwindel und Ohnmachtsanfällen
  • Die Patient*innen erlangen im Liegen meist unmittelbar das Bewusstsein wieder.
  • Auslösende Faktoren
    • Symptome werden häufig durch Drehen oder Schütteln des Kopfes hervorgerufen.
    • Sie treten evtl. in Verbindung mit dem Rasieren oder einem zu engen Kragen auf.
    • Möglicherweise ist ein Tumor im Bereich des Halses der Auslöser.
  • Prodromi?
    • Vor dem Bewusstseinsverlust kann es zu Frühsymptomen (Prodromi) wie Übelkeit, Schwitzen, Ohnmachtsgefühl, Kopfschmerzen, Herzrasen oder Blässe kommen.
  • Das Syndrom kann die Ursache von unerklärlichen Stürzen und Ohnmachtsanfällen bei älteren Menschen sein.

Klinische Untersuchung

  • Während eines Anfalls

Karotisdruckversuch

  • Der Versuch ist vor allem bei Personen ab 60 Jahren angezeigt, teilweise wird der Versuch auch ab dem 40. Lebensjahr, bei ungeklärter Synkope nach initialer Abklärung, empfohlen.
  • Kontraindikation
    • Er darf bei Karotis-Strömungsgeräuschen (außer wenn dopplersonografisch signifikante Stenosen ausgeschlossen wurden) oder bei Symptomen eines Schlaganfalls, einer TIA oder eines Herzinfarkts, die innerhalb der letzten 3 Monate aufgetreten sind, nicht ausgeführt werden.
  • Vorsicht!
    • Nicht in der Hausarztpraxis durchführen.
    • Nur mit venösem Zugang, um Notfallmedikamente verabreichen zu können und unter EKG- und Blutdrucküberwachung.
  • Auswertung
    • Der Synkope liegt ein hypersensitiver Karotissinus zugrunde, wenn eine einseitige Massage des Karotissinus über 5–10 sec zu einer Asystolie von mindestens 3 sec und/oder zu einem systolischen Blutdruckabfall von mindestens 50 mmHg führt.
  • Der Versuch hat eine niedrige Spezifität, das heißt, es kommt zu vielen falsch positiven Ergebnissen.

Ergänzende Untersuchungen

  • 12-Kanal-EKG
  • Schellong-Test, Kipptischversuch (siehe Artikel Blutdruckmessung orthostatischer Hypotonie)
  • Bei Hinweisen auf strukturelle Herzveränderungen oder Verdacht auf Bewusstlosigkeit anderer Genese: Einleitung der entsprechenden Diagnostik (z. B. Kardiologie, Neurologie)

Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Abhängig von der Notwendigkeit, Differenzialdiagnosen auszuschließen.

Indikationen zur Überweisung

  • Bei unklarer Diagnose
  • Ggf. zur Therapieplanung

Therapie

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der Abschnitt auf diesen Referenzen.1-4

Therapieziel

  • Anfallshäufigkeit reduzieren.

Allgemeines zur Therapie

Patient*innen aufklären

  • Über die günstige Prognose der vasovagalen Synkope und deren Unterform des hypersensitiven Karotissinus (siehe Abschnitt Prognose)
  • Über den zugrunde liegenden Pathomechanismus

Gegenmaßnahmen bei Prodromi

  • Hocken, Kreuzen der Beine, Anspannung der Bein-, Gesäß-, Bauch-, Armmuskulatur
  • Liegende Position einnehmen, um Sturzverletzungen zu vermeiden.

Schrittmacher?

  • Sollte bei Patient*innen mit Karotissinus-Synkopen erwogen werden, falls
    • die Synkopen sich überwiegend vom kardioinhibitorischen Typ zeigen (mit Bradykardie/Asystolie und nichtdominierender vasodepressiver/hypotensiver Symptomatik).
    • die Synkopen häufig auftreten.
    • die betroffene Person älter als 40 Jahre ist.
    • eine typische Auslösesituation mit Reizung des Karotissinus vorliegt.
  • Bei gleichzeitiger vasodepressorischer Komponente (auffälliger Kipptisch-Befund) sollte die Schrittmacherindikation wegen des begrenzten Nutzens dieser Intervention zurückhaltend gestellt werden.

Prävention

  • Die Patient*innen sollten den Krankheitsmechanismus kennen und Aktivitäten vermeiden, die einen neuen Anfall auslösen können.
  • Vorsicht ist in Situationen geboten, in denen ein Risiko für einen erneuten Anfall besteht.

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Prognose

  • Die Sterblichkeit ist nicht erhöht.
  • Bei symptomatischen Patient*innen, die nicht behandelt werden, beträgt die Rezidivhäufigkeit über 60 % innerhalb von 4 Jahren.
  • Patient*innen mit einem Schrittmacher haben eine niedrigere Rezidivhäufigkeit.

Patienteninformationen

Worüber sollten Sie die Patient*innen informieren?

  • Es sind keine Einschränkungen der körperlichen Aktivität notwendig.
  • Auslösende Faktoren wie enge Kragen oder plötzliche Drehungen des Kopfes vermeiden.
  • Gegenmaßnahmen bei Prodromi
  • Bei häufig auftretenden, unvorhersehbaren Synkopen ohne Kontrolle der Symptome: Kraftfahreignung überprüfen (siehe Artikel Beurteilung der Fahreignung).

Patienteninformationen in Deximed

Weitere Informationen

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Synkopen. AWMF-Leitlinie Nr. 030-072. S1, Stand 2020. www.awmf.org

Literatur

  1. European Society of Cardiology, Deutsche Gesellschaft für Kardiologie. ESC Pocket Guidelines. Diagnose und Management von Synkopen. Stand 2018. leitlinien.dgk.org
  2. Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Synkopen. AWMF-Leitlinie Nr. 030-072, S1, Stand 2020. www.awmf.org
  3. Deutsche Gesellschaft für Kardiologie, European Society of Cardiology. Schrittmacher- und kardiale Resynchronisationstherapie. Pocket-Leitlinie, Version 2021. leitlinien.dgk.org
  4. von Scheidt W, Bosch R, Klingenheben T, et al. Kommentar zu den Leitlinien (2018) der European Society of Cardiology (ESC) zur Diagnostik und Therapie von Synkopen. Kardiologe 2019; 13:131-7. doi.org
  5. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI): ICD-10-GM Version 2023. Stand 06.12.2022. www.dimdi.de

Autor*innen

  • Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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