Übergewicht im Kindes- und Jugendalter

Zusammenfassung

  • Definition:Adipositas/Fettleibigkeit wird definiert durch geschlechts- und altersspezifische BMI-Perzentilkurven. Übergewicht: BMI-Perzentile > 90–97; Adipositas: BMI-Perzentile > 97–99,5; extreme Adipositas: BMI-Perzentile > 99,5.
  • Häufigkeit:15 % der Kinder und Jugendlichen sind übergewichtig, 6,3 % sind adipös.
  • Symptome:Übergewicht, ggf. Symptome der ursächlichen Erkrankung sowie somatischen und psychischen Folge- und Begleiterkrankungen.
  • Befunde:Erhöhter Anteil von Körperfett, weitere klinische und laborchemische Befunde in Abhängigkeit von der ursächlichen Erkrankung bzw. somatischen und psychischen Folge- und Begleiterkrankungen.
  • Diagnostik:Diagnosestellung erfolgt klinisch und anhand des BMI. Ggf. weiterführende Diagnostik bei relevanten Begleiterkrankungen.
  • Therapie:Therapieoptionen umfassen Ernährungsumstellung, Steigerung der körperlichen Aktivität, Verhaltens- und Familientherapie, Schulungen, ambulante oder stationäre Therapieprogramme, Formula-Diät, medikamentöse Therapie, chirurgische Maßnahmen.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Adipositas/Fettleibigkeit, gekennzeichnet durch Übergewicht und erhöhtem Anteil von Körperfett, einhergehend mit relevanten Begleit- und Folgeerkrankungen
  • Anwendung alters- und geschlechtsspezifischer Perzentilkurven für den Body Mass Index (BMI) zur Beurteilung des Verhältnisses von Körpergewicht zu Körpergröße (BMI = kg/m2)1
  • Definition der Deutschen Adipositas-Gesellschaft für Kinder- und Jugendliche2-3
    • Übergewicht: BMI-Perzentile > 90–97
    • Adipositas: BMI-Perzentile > 97–99,5
    • extreme Adipositas: BMI-Perzentile > 99,5
  • Im Bereich der extremen Adipositas wird die Berechnung des komplexeren SDSLMS-Wertes empfohlen, um die Abweichung des BMI um das Vielfache der Standardabweichung innerhalb der individuellen Referenzgruppe zu bestimmen.2
  • Siehe auch BMI-Berechnung und BMI-Perzentile.

Häufigkeit

  • Prävalenz für Übergewicht und Adipositas für Kinder von 3–17 Jahren in Deutschland (Erhebung der KIGGS Studie Welle 2 mit Daten zwischen 2014 und 2017)4
    • 15,4 % sind übergewichtig.
      • 10,8 % der 3- bis 6-jährigen Mädchen; 7,3 % der Jungen
      • 14,9 % der 7- bis 10-jährigen Mädchen; 16,1 % der Jungen
      • 20,0 % der 11- bis 13-Jährigen Mädchen; 21,1 % der Jungen
      • 16,2 % der 14- bis 17-jährigen Mädchen; 18,5 % der Jungen
    • 5,3 % sind adipös.
      • 3,2 % der 3- bis 6-jährigen Mädchen; 1,0 % der Jungen
      • 4,7 % der 7- bis 10-jährigen Mädchen; 6,8 % der Jungen
      • 6,5 % der 11- bis 13-jährigen Mädchen; 8,0 % der Jungen
      • 7,7 % der 14- bis 17-jährigen Mädchen; 9,2 % der Jungen
  • Deutliche regionale Unterschiede der Prävalenz innerhalb Deutschlands mit Nord-Süd-Gefälle (Erhebung der Daten durch Gesundheitsämter der jeweiligen Länder für die Einschulungsjahre 2003, 2004 oder 2005)5
    • Übergewicht zwischen 7,2 % in Thüringen und 13,6 % in Mecklenburg-Vorpommern
    • Adipositas zwischen 3,6 % in Bayern und 6,4 % in Mecklenburg-Vorpommern5
  • Seit Jahren zunehmende Anzahl übergewichtiger und adipöser Kinder unabhängig vom Bildungsniveau bis etwa zum Jahr 2000; seitdem stagnieren die Zahlen der übergewichtigen Kinder.6-7

Ätiologie und Pathogenese

  • Wenn die Energiezufuhr den Energieverbrauch übersteigt (positive Energiebilanz), entsteht Übergewicht.
  • Die Ursachen einer positiven Energiebilanz sind vielfältig.
  • Risikofaktoren und Präventionsmaßnahmen wirken sich auf Basis einer individuellen genetischen Prädisposition aus.

Prädisponierende Faktoren

  • Familiäre Faktoren
    • 10-fach erhöhtes Risiko für Kinder adipöser Eltern8-9
    • Korrelation von erhöhtem BMI der Eltern (insbesondere der Mutter) und Geschwister mit erhöhtem BMI der Betroffenen10
    • mütterlicher Diabetes während der Schwangerschaft
      • Kann zu perinatalem Hyperinsulinismus und Fehlprogrammierung des hypothalamischen Systems führen.11
    • mütterliches Übergewicht während der Schwangerschaft12
  • Genetik13
    • polygenetische Prädisposition eindeutig nachgewiesen
    • sehr selten monogenetische Erkrankungen
      • Anteil von 1–5 % der extrem adipösen Kinder
      • Defekte im Leptingen, Leptinrezeptorgen und Melanocortin-4-Gen
      • charakteristischer Verlauf: starker BMI-Anstieg in den ersten Lebensjahren (> 25 kg/m2 mit 2 Jahren, > 30 kg/m2 mit 5 Jahren, jedoch niedrigere BMI-Werte bei MC4R-Defekt)
  • Geburtsgewicht
    • Makrosomie bei Geburt14
  • Endokrine Ursachen
    • Cushing-Syndrom
    • Hypothyreose
    • primärer Hyperinsulinismus
    • Pseudoparathyreodismus
    • Störung der Hypothalamusfunktion aufgrund von Traumata, Infektionen, Neoplasmen, anderen Raumforderungen (selten)
  • Medikamentös bedingte Adipositas
    • Glukokortikoide, ggf. auch Inhalationspräparate
    • Insulin
    • Neuroleptika
    • Antiepileptika
    • Antidepressiva
  • Umweltfaktoren/Lebensstil
    • alimentäre Adipositas
      • Überangebot und Konsum von zuckerhaltigen Getränken15, energiereichen Nahrungsmitteln (z. B. Fast Food)16
      • ungünstige Ernährungsgewohnheiten der Eltern17-18
      • Entfallen des Frühstücks, häufige energiedichte Zwischenmahlzeiten
      • große Lebensmittelpackungen
    • kein oder nur kurzzeitiges Stillen17-20
    • Bewegungsmangel
    • zu wenig Schlaf21
      • Absenken des BMI um 0,48 durch jede zusätzliche Stunde Schlaf22
  • Soziale Faktoren6-7,17-18
    • niedriger Sozialstatus
    • Migrationshintergrund
    • dysfunktionale Familien
    • Einzelkind
  • Seltene syndromale Erkrankungen

ICPC-2

  • T82 Adipositas
  • T83 Übergewicht

ICD-10

  • E66 Adipositas
    • E66.0 Adipositas durch übermäßige Kalorienzufuhr
    • E66.1 Arzneimittelinduzierte Adipositas
    • E66.2 Übermäßige Adipositas mit alveolärer Hypoventilation
    • E66.8 Sonstige Adipositas
    • E66.9 Adipositas, nicht näher bezeichnet

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Übergewicht: BMI-Perzentile > 90–97
  • Adipositas: BMI-Perzentile > 97–99,5
  • Extreme Adipositas: BMI-Perzentile > 99,52-3

Anamnese

  • Detaillierte Anamnese zu Alltags- und Ernährungsgewohnheiten der gesamten Familie
    • körperliche Aktivitäten, Fortbewegung im Alltag
    • Freizeitgestaltung, TV-Konsum, Nutzung digitaler Medien
    • Ernährungs-, Koch- und Einkaufsgewohnheiten
    • Lebensumstände, soziale Situation, ethnische Herkunft, schulische Leistungen
  • Familienanamnese für Adipositas, familiäre Risikofaktoren (BMI der Eltern und Geschwister, mütterliches Gewicht während der Schwangerschaft, Gestationsdiabetes), Auftreten von Diabetes mellitus und kardiovaskulären Erkrankungen
  • Medikamenteneinnahme (z. B. Glukokortikoide)
  • Hinweise auf bereits manifeste Begleit- und Folgeerkrankungen
  • Erhebung psychologischer und psychosozialer Anamnese
    • Essstörungen, Verhaltensstörungen, familiäre Belastungen, subjektive Krankheitskonzepte, Selbstwert, Selbstbild, Lebensqualität, elterliches Verhalten, psychische Erkrankungen der Eltern, Erfassung der Ressourcen von Kind und Familie3

Klinische Untersuchung

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

  • Bestimmung und Dokumentation des BMI und SDS-BMI im Verlauf
  • Blutdruckmessung
  • Taillenumfang: gut geeigneter Verlaufsparameter
  • Labordiagnostik: Cholesterin, HDL-/ LDL-Cholesterin, Triglyzeride (nüchtern), Leberenzym (GPT/ALAT), Glukose (nüchtern), ggf. Hormonstatus bei Verdacht auf endokrinologische Erkrankung
  • Ultraschalluntersuchung (Leber, Gallenblase, Ovarien)3

Indikationen zur Überweisung

  • Verdacht auf endokrinologische Erkrankung
  • Vorliegen von somatischen Komplikationen (Blutdruck, Fettstoffwechselstörung, Insulinresistenz, V. a. Schlafapnoe, orthopädische Auffälligkeiten)
  • Psychologische Auswirkungen
  • Die Vorstellung der gesamten Familie in einer kinderärztlichen Spezialsprechstunde ist zu empfehlen.

Checkliste zur Überweisung

Adipositas bei Kindern

  • Zweck der Überweisung
    • Diagnose? Therapie? Sonstiges?
  • Anamnese
    • Seit wann besteht das Übergewicht? Verlauf und Entwicklung
    • familiäre Disposition: Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes
    • Verdacht auf endokrinologische Erkrankung, ggf. Dyskrinie
    • psychologische Auswirkungen
    • somatische Komplikationen: Blutdruck, Fettstoffwechselstörung, Insulinresistenz
  • Klinische Untersuchung
    • Allgemeinzustand
    • Gewicht/Größe: BMI und Relation zu den BMI-Perzentilen
    • Blutdruck
    • Lipide, Glukose, GOT (ASAT), GPT (ALAT)
  • Ergänzende Untersuchungen
    • evtl. Konditionstest

Therapie

Therapieziele

  • Aufklärung und Information
  • Verhinderung der Entwicklung von Übergewicht zu Adipositas
  • Vorbeugung und Behandlung von Komplikationen und Folgeerkrankungen
  • Verbesserung der Lebensqualität
  • Langfristige und stabile Gewichtsreduktion/-kontrolle

Allgemeines zur Therapie

  • Ausführliche und individuelle Aufklärung und Beratung des betroffenen Kindes, seiner Eltern und ggf. Geschwister sind essenziell für einen langfristigen und anhaltenden Therapieerfolg.
  • Da Übergewicht und Adipositas maßgeblich durch Umwelteinflüsse verursacht werden, ist oftmals eine Umstellung der Alltagsgewohnheiten der gesamten Familie notwendig.
  • Therapieoptionen umfassen Ernährungsumstellung, Steigerung der körperlichen Aktivität, Verhaltens- und Familientherapie, Schulungen, ambulante oder stationäre Therapieprogramme, Formula-Diät, medikamentöse Therapie, chirurgische Maßnahmen.

Leitlinie: Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter3

  • Alter 2–6 Jahre
    • Bei BMI 90.–97. Perzentile relatives Gewicht (BMI-SDS) halten.
    • Bei BMI > 97. Perzentile ohne Begleiterkrankungen absolutes Gewicht halten (BMI-SDS reduzieren).
    • Bei BMI > 97. Perzentile mit Begleiterkrankungen Gewicht (BMI-SDS) abnehmen.
  • Alter > 6 Jahre
    • Bei BMI 90.–97. Perzentile ohne Begleiterkrankungen relatives Gewicht halten (BMI-SDS halten).
    • Bei BMI 90.–97. Perzentile mit Begleiterkrankungen Gewicht (BMI-SDS) abnehmen.
    • Bei BMI > 97. Perzentile Gewicht (BMI-SDS) abnehmen.

Leitlinie: Allgemeine Empfehlungen der AGA2

  • Der Zugang zu einem kombinierten interdisziplinären Therapieprogramm sollte jedem Kind oder Jugendlichen (5–17 Jahre) mit Adipositas oder Übergewicht, bei dem eine bedeutsame Komorbidität oder eine familiäre Risikokonstellation vorliegt ermöglicht werden (Empfehlungsgrad B).
  • Bei einem kombinierten interdisziplinären Adipositas-Therapieprogramm sollte die Familie motivierend und unterstützend mitwirken. Die Intervention sollte durch geschultes Personal in einem spezialisierten oder interdisziplinären Setting erfolgen (Empfehlungsgrad B).

Leitlinie: Auszüge aus den Empfehlungen der AGA zur Ernährungsumstellung2

  • Eine alleinige Ernährungstherapie hat nur geringfügige Langzeiteffekte auf den Gewichtsstatus. Sie sollte deshalb immer in Kombination mit anderen Therapiebausteinen (Steigerung der körperlichen Aktivität, Verhaltenstherapie) durchgeführt werden (Empfehlungsgrad B).
  • Bei der Ernährungsumstellung sollte die Familie miteinbezogen werden, da dies die Langzeitcompliance der Patient*innen fördert (Empfehlungsgrad B).
  • Balancierte Kostformen mit sehr niedriger Energiezufuhr (Gesamtenergie 800–1.200 kcal/d, z. B. als Formula-Diät oder proteinsparendes modifiziertes Fasten) ermöglichen einen starken Gewichtsverlust in einem kurzen Zeitraum, haben jedoch keinen langfristigen Effekt. Solche Maßnahmen können für spezielle Indikationen unter intensiver Betreuung durch Expert*innen eingesetzt werden (Empfehlungsgrad 0).
  • Starre Diätpläne oder Kostformen mit extremen Nährstoffrelationen (z. B. häufige Gewichtsreduktionen, totales Fasten, „Heilfasten“, Schroth-Kur, Mayr-Kur, Ananasdiät etc.) sollten wegen potenzieller medizinischer Risiken und fehlendem Langzeiterfolg nicht angewandt werden (Empfehlungsgrad B).

Leitlinie: Auszüge aus den Empfehlungen der AGA zur körperlichen Aktivität2

  • Die Steigerung der körperlichen Bewegung im Alltag soll primäres Ziel einer Bewegungstherapie sein. Sie ist langfristig effektiver bezüglich der Gewichtsreduktion als die Teilnahme an zeitlich limitierten Sportprogrammen (Empfehlungsgrad A).
  • Gelenkschonendes körperliches Training sollte Teil eines interdisziplinären Programms zur Behandlung der Adipositas im Kindesalter sein und durch Maßnahmen zur Ernährungs- und Verhaltenstherapie ergänzt werden (Empfehlungsgrad B).
  • Die körperliche Aktivität sollte an den Grad der Adipositas angepasst und geschlechtsspezifisch gestaltet werden (Empfehlungsgrad B).
  • Eine zusätzliche theoretische Wissensvermittlung zu Effekt und Nutzen körperlicher Aktivität sollte nach Möglichkeit auch in Elternschulungen stattfinden (KKP).

Leitlinie: Auszüge aus den Empfehlungen der AGA zur Verhaltenstherapie2

  • Verhaltenstherapeutische Maßnahmen sind zur Umsetzung und Aufrechterhaltung der erzielten Veränderungen im Ernährungs- und Bewegungsverhalten sinnvoll und sollten deshalb in Programmen zur Behandlung der Adipositas integriert sein (Empfehlungsgrad B).
  • Ein flexibel kontrolliertes Essverhalten sollte eingeübt werden, da es im Vergleich zur rigiden Verhaltenskontrolle langfristig effektiver ist (Empfehlungsgrad B).

Leitlinie: Auszüge aus den Empfehlungen der AGA zur Elternschulung2

  • Vor Beginn einer Behandlungsmaßnahme soll den Eltern/der Familie und dem Kind bewusst gemacht werden, dass eine langfristige Behandlung der Adipositas unter Einbeziehung der Eltern/der Familie notwendig ist (Empfehlungsgrad A).
  • Bei Kindern soll eine interdisziplinäre verhaltenstherapeutische Intervention zusätzlich auch bei deren Eltern und Familie durchgeführt werden; bei Jugendlichen sollen die Eltern und Familie aktiv mit einbezogen werden (Empfehlungsgrad A).
  • Alternativ zu einer interdisziplinären verhaltenstherapeutischen Therapie der Kinder können auch die Eltern alleine behandelt werden mit dem Ziel der Therapie der Adipositas ihrer Kinder. Dies trifft auch dann zu, wenn Kinder aufgrund besonderer Gegebenheiten nicht an der Therapie teilnehmen können (Empfehlungsgrad 0).

Leitlinie: Auszüge aus den Empfehlungen der AGA zur medikamentösen Therapie2

  • Bei Adipositas im Kindes- und Jugendalter kann in Einzelfällen eine zusätzliche medikamentöse Therapie zur Übergewichtsreduktion erwogen werden, insbesondere bei Patient*innen mit erheblicher Komorbidität und einem extrem erhöhten Gesundheitsrisiko sowie Versagen einer herkömmlichen verhaltensorientierten Therapie über mindestens 9–12 Monate (Empfehlungsgrad 0).
  • Grundsätzlich gibt es zwei verschiedene Kategorien an Medikamenten:
    1. Medikamente, die durch eine Reduktion des Appetits oder eine Steigerung der Sättigung (Appetitzügler) die Nahrungszufuhr hemmen und
    1. Medikamente, die die Nährstoffabsorption hemmen.
  • Aktuell sind in Deutschland keine der diesbezüglich vorhandenen Medikamente für Kinder und Jugendliche zugelassen. Ein individueller Heilversuch erscheint jedoch bei ausgewählten Patient*innen, bei mangelnden Alternativen und dringender Notwendigkeit einer Gewichtsreduktion sinnvoll.

Leitlinie: Auszüge aus den Empfehlungen der AGA zu chirurgischen Interventionen2

  • Die Indikationsstellung für eine adipositaschirurgische Maßnahme bei Jugendlichen mit extremer Adipositas soll nur nach sorgfältiger Einzelfallprüfung erfolgen. Die Indikation soll durch ein interdisziplinäres, auf dem Gebiet der extremen Adipositas bei Jugendlichen erfahrenes Team gestellt werden (Empfehlungsgrad A).
  • Eine adipositaschirurgische Maßnahme bei Jugendlichen soll nur dann durchgeführt werden, wenn streng definierte Voraussetzungen erfüllt sind. Auf die ausführliche Darstellung der Voraussetzungen wird hier ausdrücklich verwiesen.2
  • Chirurgische Maßnahmen
    • Magenband
    • Bypass-Operation
    • Sleevegastrektomie (Schlauchmagenbildung)
    • Liposuktion (Verfahren der plastischen Chirurgie, keine Behandlung der Adipositas im eigentlichen Sinne)

Prävention

  • Stillen statt Säuglingsnahrung17-20
  • Den Konsum zuckerhaltiger Getränke reduzieren.23
  • Informieren, schulische Präventionsprogramme.24-26

Leitlinie: Auszüge aus den Empfehlungen der AGA zur Prävention2

  • Programme zur Prävention von Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter sollten längerfristig (≥ 6 Monate) sein und verschiedene Interventionen (z. B. gesunde Ernährung, körperliche Aktivität, Einbeziehung der Familien und des sozialen Umfeldes) kombinieren (Empfehlungsgrad B).
  • Tageseinrichtungen mit Gemeinschaftsverpflegung (Kindertagesstätten, Ganztagsschulen etc.) sollen ihr Speisenangebot an den entsprechenden Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE e. V.) ausrichten (Empfehlungsgrad A).
  • Zur Vermeidung von Übergewicht und Adipositas wird empfohlen, sich regelmäßig körperlich zu bewegen und insbesondere sitzende Tätigkeiten zu begrenzen (Empfehlungsgrad B).
  • Im Rahmen des Expertenkonsenses wurden für Deutschland folgende Empfehlungen in Bezug auf Medienkonsum abgeleitet (Empfehlungsgrad A):
    • Fernseher im Kinderzimmer sollen vermieden werden.
    • Der Medienkonsum soll limitiert werden:
      • unter 3 Jahren – 0 min
      • bis 6 Jahre – max. 30 min
      • bis 11 Jahre – max. 60 min
      • ab 12 Jahren – max. 120 min.

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Übergewicht und Adipositas erfordern langfristige Änderungen der Lebensgewohnheiten und dauerhafte Umsetzung der Therapiemaßnahmen.
  • Unbehandelt kommt es zu relevanten Gesundheitsschäden und Komplikationen im Erwachsenenalter.

Komplikationen

  • Übergewicht und Adipositas können bereits im Kindesalter zu Komplikationen und Folgeerkrankungen führen.
  • Unabhängig vom Gewicht im Erwachsenenalter erhöht Übergewicht im Kindes- und Jugendalter das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Verschleißschäden des Stütz- und Bewegungsapparats.

Psychosoziale Belastungen im Kindesalter

  • Im Kindesalter auftretende Komplikationen sind überwiegend psychischer Natur.
  • Essstörungen
    • Übergewicht erhöht das Risiko von Essstörungen und diese erhöhen das Risiko von Übergewicht.
    • Es gibt einen Zusammenhang zwischen Übergewicht und Esssucht.
    • Programme zur Behandlung von Übergewicht scheinen das Risiko von Essstörungen nicht zu erhöhen und bewirken häufig eine Linderung der psychosozialen Folgen.
  • Stigmatisierung
    • Kinder und Jugendliche mit Übergewicht sind sehr häufig der Stigmatisierung durch Gleichaltrige ausgesetzt.
  • Selbstwertgefühl
    • 91 % aller betroffenen Kinder und Jugendlichen schämen sich ihres Körpergewichts, und 69 % glauben, dass sie mit niedrigerem Gewicht mehr Freunde hätten.
  • Lebensqualität
    • Kinder und Jugendliche mit Übergewicht bezeichnen ihre Lebensqualität im Vergleich zu Gleichaltrigen als niedriger.
  • Sozioökonomische Probleme
    • Übergewicht im Kindes- und Jugendalter erhöht das Risiko sozialer und ökonomischer Probleme im Erwachsenenalter.27-31

Somatische Folgen von Übergewicht

  • Metabolisches Syndrom
    • Es gibt einen Zusammenhang zwischen Übergewicht und Insulinresistenz.
    • Beginn des metabolischen Syndroms ggf. bereits im Kindesalter
  • Herz-Kreislauf-Erkrankungen
    • Übergewicht kann kardiovaskuläre Risikofaktoren verstärken und damit das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen im Erwachsenenalter erhöhen.
  • Insulinresistenz und Diabetes
    • Übergewicht führt zu einer erhöhten Insulinresistenz und zu einem erhöhten Risiko, einen Diabetes Typ 2 zu entwickeln.15,32
    • Im Kindes- und Jugendalter tritt Diabetes Typ 2 nach wie vor selten auf.
  • Blount-Krankheit (idiopathische Tibia vara)
    • durch Übergewicht verursachte O-Beinstellung in Verbindung mit Deformation des Schienbeins
  • Epiphysenlösung (Hüftkopflösung)
    • Schmerzen und eingeschränkte Beweglichkeit
    • Bei Kindern und Jugendlichen mit Übergewicht tritt die Erkrankung häufig früher als bei Personen mit Normalgewicht und beidseitig auf.
  • Obstruktives Schlafapnoe-Syndrom
    • Das Risiko ist vor allem bei Übergewicht im Teenageralter erhöht.
  • Asthma
    • Ein überdurchschnittlich hohes Geburtsgewicht und Übergewicht bergen ggf. ein leicht erhöhtes Asthmarisiko.
  • Nicht-alkoholische Fettleber
    • Bei Übergewicht ist das Risiko erhöht, und eine Gewichtsreduktion stellt die einzige wirksame Therapie dar.
    • Laut einer Studie liegt eine Fettleber präpubertär bei 33 % der Adipositas-Patient*innen und spätpubertär bei 47 % der Betroffenen vor.
    • Eine nicht-alkoholische Fettleber kann chronifizieren und im ungünstigsten Fall zu Leberversagen führen.
  • Gallensteinleiden
    • Ist mit Übergewicht und hohem Triglyzeridspiegel assoziiert, tritt im Kindes- und Jugendalter aber selten auf.
  • Polyzystisches Ovarialsyndrom
  • Plattfüße
    • Übergewicht stellt einen Risikofaktor dar.

Prognose

  • Unbehandelt ist die Prognose aufgrund der multiplen Begleit- und Folgeerkrankungen ungünstig.
  • Zur Langzeitwirkung von Therapiemaßnahmen bei Kindern und Jugendlichen mit Übergewicht und Adipositas fehlen derzeit noch vergleichbare Studiendaten und Therapieprotokolle.

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Weitere Informationen

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Adipositas-Gesellschaft. Konsensbasierte Leitlinie zur Diagnostik, Therapie und Prävention von Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter. S2, Stand 2015. www.aga.adipositas-gesellschaft.de
  • Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA) der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG) und der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ). Therapie und Prävention der Adipositas im Kindes- und Jugendalter. AWMF-Leitlinie Nr. 050-002. S3, Stand 2019. www.awmf.org

Literatur

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Autor*innen

  • Susanne Engelhardt, Dr. med., Ärztin in Weiterbildung für Allgemeinmedizin, Hof
  • Anne Strauß, Ärztin in Weiterbildung Pädiatrie, Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Freiburg
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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