Hüftgelenksdysplasie

Zusammenfassung

  • Definition:Dysplasie kann sich auf die anomale Größe, Form, Ausrichtung oder Platzierung des Hüftkopfes, der Pfanne oder von beiden beziehen.
  • Häufigkeit:Inzidenz in Mitteleuropa: Hüftdysplasie 2–4 %, Hüftluxation 0,5–1 %. Mädchen 4 x häufiger als Jungen betroffen.
  • Symptome:Zunächst keine Symptome, aber ohne Diagnose tritt eine verzögerte Entwicklung des Gehens oder Humpeln auf.
  • Befunde:Abspreizhemmung, positives Ortolani-, Ludloff- und Galeazzi-Zeichen.
  • Diagnostik:Klinische Untersuchung und Ultraschall vom Hüftgelenk bei U2 (bei Risikofaktoren) oder U3.
  • Therapie:Schnellstmögliche Therapie nach Diagnosestellung mit Retentionsbehandlung in Flexion und Abduktion des Hüftgelenks. Nur bei irreponibler Luxation operative Therapie mit offener Reposition.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Dysplasie kann sich auf die anomale Größe, Form, Ausrichtung oder Platzierung des Hüftkopfes, der Pfanne oder von beiden beziehen.1
  • Der Begriff Hüftreifungsstörung umfasst sowohl dysplastische als auch bereits luxierte Gelenke.2

Häufigkeit

  • Inzidenz in Mitteleuropa2
    • Hüftdysplasie 2–4 %
    • Hüftluxation 0,5–1 %
  • Geschlecht
    • Mädchen sind häufiger als Jungen betroffen (Verhältnis etwa 4:1).1
  • Seite: vorwiegend links (64 %) und einseitig (63,4 %)3
    • Im Uterus wird bei normaler Lage das linke Bein durchs maternale Sakrum in Adduktion gedrückt.1

Ätiologie und Pathogenese

  • Dieser Abschnitt bezieht sich auf die deutsche Leitlinie als Referenz.2
  • Multifaktoriell, wahrscheinlich sowohl mechanische als auch genetische Faktoren
  • Bei der Hüftdysplasie kommt es während der prä- oder postnatalen Entwicklung
    aufgrund von exogen einwirkenden Kräften in der Wachstumsfuge der
    Hüftgelenkspfanne zu einer Umwandlung von physiologischen Druckkräften in
    pathologische Scherkräfte mit konsekutivem Wachstumsstopp in der
    Wachstumsfuge der Hüftgelenkspfanne bei ungestörtem Wachstum des
    Hüftkopfes.
  • In der Folge kommt es im Sinne einer Deformität zu einem Missverhältnis von
    Kopf- und Pfannengröße, der knöcherne Anteil der Gelenkpfanne ist verglichen
    zum Kopf zu klein.
  • Bei im Verlauf zunehmendem Ungleichgewicht verdrängt der verhältnismäßig zu
    groß geratene Hüftkopf den knorpelig präformierten Anteil der Gelenkpfanne erst nach kranial und luxiert schlussendlich nach hinten in die Fossa glutealis, sodass der Hüftkopf bei der Luxation den Kontakt mit der Gelenkpfanne vollständig verliert.

Prädisponierende Faktoren

  • Wichtigste prädisponierende Faktoren3
    • Beckenendlage
    • positive Familienanamnese
    • weibliches Geschlecht
  • Weitere prädisponierende Faktoren
    • ethnische Herkunft1
      • stark gehäuft bei amerikanischen Ureinwohner*innen
      • sehr selten bei Personen afrikanischer Abstammung
    • Pucken3
      • Spezielle Wickeltechnik, bei der Säuglinge in ein Tuch eingebunden werden; in einigen Kulturen verbreitet.

ICD-10

  • Q65 Angeborene Deformitäten der Hüfte 
    • Q65.0 Angeborene Luxation des Hüftgelenkes, einseitig
    • Q65.1 Angeborene Luxation des Hüftgelenkes, beidseitig
    • Q65.3 Angeborene Subluxation des Hüftgelenkes, einseitig
    • Q65.4 Angeborene Subluxation des Hüftgelenkes, beidseitig
    • Q65.6 Instabiles Hüftgelenk (angeboren)
    • Q65.8 Sonstige angeborene Deformitäten der Hüfte inkl. angeborener Azetabulumdysplasie

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

Bei Neugeborenen

  • Die Diagnose erfolgt durch die Kombination aus klinischer Untersuchung und Ultraschall der Hüftgelenke.

Screeningmaßnahmen 

  • Das sonografische Hüftscreening wurde in Deutschland 1996 eingeführt.
  • In Deutschland erfolgt das sonografische Hüftscreening in der 4.–6. Lebenswoche im Rahmen der Kindervorsorgeuntersuchung U3. Bereits davor werden die Hüftgelenke im Rahmen der U2-Kindervorsorgeuntersuchung risikoorientiert untersucht.4
    • Bei Risikofaktoren (positive Familienanamnese, Geburt aus Beckenendlage, auffälligem klinischem Befund und/oder Vorliegen von begleitenden Fußfehlstellungen) soll gemäß Kinderrichtlinie bereits bei der U2 eine Ultraschalluntersuchung der Hüfte erfolgen.2

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Obligate Fragen2
    • Positive Familienanamnese für Hüftreifungsstörungen?
    • Beckenendlage bei Geburt?
  • Im Säuglingsalter ist die Hüftdysplasie klinisch stumm.2
  • Mit Beginn des Laufens können Eltern Humpeln oder breitbasigen Gang bei einer nicht entdeckten Dysplasie beobachten.

Klinische Untersuchung

S2k-Leitlinie: Hüftdysplasie2

Obligat

  • Bei der klinischen Untersuchung soll überprüft werden, ob eine Beinlängendifferenz oder Abspreizhemmung der Beine vorliegt.
  • Als starke Hinweiszeichen auf eine einseitige Hüftluxation gelten ein positives
    Galeazzi-Zeichen, ein positives Ludloff-Zeichen und eine einseitige
    Abspreizhemmung.
    • positives Galeazzi-Zeichen: Längendifferenz der Oberschenkel bei 90-Grad-Flexion im Knie- und Hüftgelenk (ersichtlich als Höhenunterschied der Knie des untersuchten Säuglings in Rückenlage, Anm. d. Red.)
    • positives Ludloff-Zeichen: vollständige Streckbarkeit der Kniegelenke bei
      maximal gebeugten Hüftgelenken
  • Bei der klinischen Überprüfung der Hüftabduktionsfähigkeit sollte stets darauf geachtet werden, ob eine vorhandene Abspreizhemmung unter Auftreten eines Klickgeräuschs überwunden werden kann. (Ortolani-Test, Anm. d. Red.)
    • Sollte dies der Fall sein, so ist dies als Zeichen einer klinischen
      Instabilität zu werten.

Nicht erforderlich

  • Auf das wiederholte Ausführen von forciertem axialem Druck, um zu
    überprüfen, ob der Hüftkopf über den dorsalen Pfannenrand (sub)luxiert
    werden kann, sollte im Zeitalter des Hüftultraschalls verzichtet werden. (Untersuchung bekannt als Barlow-Test, Anm. d. Red.)
  • Cave: Eine beidseitige Hüftgelenksdysplasie/-luxation ist deutlich schwieriger zu erkennen, da die Befunde im Seitenvergleich symmetrisch erscheinen.

Im fortgeschrittenen Alter

  • Bei nicht erkannter Hüftdysplasie (Geburtsdatum vor Einführung des Ultraschall-Screenings 1996, Immigrant*innen aus Ländern ohne Ultraschall-Screening) fällt typischerweise ein Trendelenburg-Zeichen (Absinken des Beckens zur Spielbein-Seite beim Laufen) auf.3
    • relative Schwäche der Hüftabduktoren durch Biomechanik der Dysplasie bedingt

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

  • Neben Anamnese und körperlicher Untersuchung sind keine weiteren Untersuchungen indiziert.

Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Ultraschalluntersuchung der Hüftgelenke nach Graf2
  • Bei Erwachsenen3
    • Beckenübersichtsröntgenaufnahme im anteroposterioren Strahlengang3
      • Beurteilung der azetabulären Überdachung
    • MRT vom Hüftgelenk
      • Beurteilung von Knorpelschäden, Labrum und indirekter Instabilitätszeichen
      • Torsionsanalyse vom Femur

Indikationen zur Überweisung

  • Überweisung an Kinderorthopäd*in
    • bei V. a. Hüftgelenksdysplasie
    • für Ultraschalluntersuchung der Hüftgelenke im Rahmen der U2 bzw. U3 (siehe Screeningmaßnahmen)

Therapie

Therapieziel

  • Stabiles Gelenk mit kongruenten Gelenkflächen zwischen Azetabulum und Caput femoris
    • Dies führt zu einer physiologischen Entwicklung von Caput und Azetabulum.

Allgemeines zur Therapie

  • Die Behandlung ist abhängig vom Alter und Schweregrad der Dysplasie bzw. Luxation.
  • Jedes dysplastische oder luxierte Hüftgelenk soll im Säuglingsalter so
    schnell wie möglich einer hüfttypgerechten Therapie zugeführt werden.2
    • Hüftreifungspotenzial in den ersten 3 Monaten nach der Geburt gleicht einer Exponentialfunktion und flacht ab dem 4. Monat postnatal asymptomatisch ab.
    • Das heißt für die Behandlung einer Hüftreifungsstörung, dass es in den ersten 3 Monaten postnatal wenig Zeit benötigt, um große Therapieerfolge zu erzielen.
    • Ab dem 4. Lebensmonat bedarf es dahingegen viel Zeit, um überhaupt einen Therapieerfolg zu erzielen.

Konservative Therapie

Dysplastische Hüftgelenke2

  • Dysplastische Hüftgelenke bedürfen einer Nachreifung.
  • Einnehmen einer Sitz-Hock-Stellung mit beidseits 100- bis 110 Grad gebeugten und 50- bis 60 Grad abduzierten Hüftgelenken
  • Beibehalten der Sitz-Hock-Position wird durch das Anlegen einer zur Nachreifung zugelassenen Orthese sichergestellt.
  • Während einer Nachreifungsbehandlung sollen klinisch-sonografische Kontrollen im Abstand von 4–6 Wochen erfolgen.
  • Eine Nachreifungsbehandlung soll vor Beendigung des 9. Lebensmonats erst nach Erreichen eines Alpha-Winkels in der Messung nach Graf von deutlich über 60 Grad beendet werden.

Luxierte Hüftgelenke2

  • Geschlossene manuelle Reposition und Retention des luxierten Hüftgelenks
    • Retention erfolgt über Orthese oder Becken-Bein-Gips
  • Anschließend Nachreifungsbehandlung analog zum dysplastischen Hüftgelenk

Operative Therapie

  • Angaben gemäß der deutschen Leitlinie2
  • Indiziert bei geschlossen irreponiblen Hüftgelenksluxationen
  • Im Säuglingsalter wird meist eine offene Hüftreposition durchgeführt.
    • Alternativ steht auch arthroskopisches Verfahren zur Verfügung.
  • Offene Hüfteinstellungen werden ab dem 2. Lebensmonat, arthroskopische Hüfteinstellungen ab dem 3. Lebensmonat durchgeführt.
  • Postoperativ erfolgt nach einer offenen Hüfteinstellung eine Ruhigstellung im Becken-Bein-Gips mit Fußteil in Neutralstellung des Beines über 4–6 Wochen.
  • In sehr schweren Fällen kann eine Becken-Osteotomie mit Rekonstruktion der Hüftpfanne notwendig sein.

Prävention

  • Eine frühzeitige Diagnose durch sorgfältige Untersuchung der Hüfte auf der Entbindungsstation und bei den Vorsorgeuntersuchungen
  • Verwenden von Tragetüchern, die ein Tragen des Kindes in Sitz-Hock-Stellung gewährleisten.2
  • In der Säuglingspflege soll auf klassisches Pucken mit gestreckten, leicht adduzierten Beinen verzichtet werden.2

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Eine unbehandelte Dysplasie führt zu irreversiblen Schädigungen von Knorpelsäulen in der Pfannendachwachstumsfuge und einer sekundären Hüftgelenksarthrose.

Komplikationen

  • Komplikationen der Retentionsbehandlung2
    • Druckschäden an Haut und Nerven durch die Orthesen bzw. den Gips
    • Durchblutungsstörung des Hüftkopfes mit Ausbildung einer irreversiblen Hüftkopfnekrose
    • erneutes Auftreten einer Hüftreifungsstörung im weiteren Wachstum
  • Komplikationen der operativen Behandlung2
    • klassische OP-Risiken (Blutung, Wundheilungsstörung etc.)
    • Hüftkopfnekrose
    • Reluxation
  • Sekundäre Coxarthrose bei unbehandelter Dysplasie5

Prognose

  • Je früher die Therapie begonnen wird, umso besser ist die Prognose.2
  • Bei frühem Therapiebeginn und geschlossener Reposition sehr gute Prognose1
  • Ist eine geschlossene Reposition nicht möglich und eine offene Reposition nötig, ist ein schlechteres Ergebnis im Verlauf zu erwarten.6

Verlaufskontrolle

  • Die Nachsorge und Kontrolluntersuchungen werden von Spezialist*innen festgelegt und durchgeführt.

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Illustrationen

Frontalbild der linken Hüfte: 1 = Caput femoris (Gelenkkopf) 2 = Collum femoris (Oberschenkelhals) 3 = Trochanter major 4 = Trochanter minor
Frontalbild der linken Hüfte: 1 = Caput femoris (Gelenkkopf) 2 = Collum femoris (Oberschenkelhals) 3 = Trochanter major 4 = Trochanter minor
Normales Hüftgelenk
Normales Hüftgelenk

Quellen

Leitlinie

  • Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie e. V. (DGOU). Hüftdysplasie. AWMF-Leitlinie Nr. 187-054. S2k, Stand 2021. www.awmf.org

Literatur

  1. Tamai J. Developmental dysplasia of the hip. Medscape, last updated Apr 11, 2022. emedicine.medscape.com
  2. Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie e.V. (DGOU). Hüftdysplasie. S2k, AWMF-Leitlinie Nr. 187-054. Stand 2021. www.awmf.org
  3. Chiari C, Felsing C. Inzidenz, Biomechanik und Diagnostik der Hüftgelenkdysplasie. Arthroskopie 2022; 35: 3-11. link.springer.com
  4. Kolb A, Windhager R, Chiari C. Kongenitale Hüftdysplasie, Screening und Therapie. Monatsschr Kinderheilkd (2016) 164: 323. doi:10.1007/s00112-016-0064-4. link.springer.com
  5. Terjesen T, Horn J. Have Changes in Treatment of Late-detected Developmental Dysplasia of the Hip During the Last Decades Led to Better Radiographic Outcome?. Clin Orthop Relat Res 2016 May; 474(5): 1189-98. pmid:26290341 PubMed
  6. Sankar WN, Young CR, Lin AG, et al. J Pediatr Orthop B 2011; 31(3): 232-9. www.ncbi.nlm.nih.gov

Autor*innen

  • Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Münster
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

 

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