Hypoparathyreoidismus

Zusammenfassung

  • Definition:Der Hypoparathyreoidismus ist durch eine verminderte Sekretion von Parathormon mit dadurch ausgelöster Hypokalzämie gekennzeichnet.
  • Häufigkeit:Insgesamt seltene Erkrankung. Sehr selten im Rahmen hereditärer Erkrankungen, die Mehrzahl der Fälle tritt nach Operationen an Schilddrüse und Nebenschilddrüsen auf.
  • Symptome:Neuromuskuläre Übererregbarkeit, neuropsychologische Veränderungen, Nierensteine und Niereninsuffizienz, Katarakt, Hautveränderungen, Arrhythmien.
  • Befunde:Befunde neuromuskulärer Übererregbarkeit (positives Chvostek- und Trousseau-Zeichen), Hautveränderungen, Arrhythmien, Katarakt. In der Bildgebung Nachweis von Nierensteinen, evtl. Basalganglienverkalkung.
  • Diagnostik:Laborchemische Bestimmung von Parathormon, Kalzium, Phosphat, Vitamin D.
  • Therapie:Standardtherapie durch Zufuhr von Kalzium und Vitamin-D-Präparaten. Neuerdings bei Versagen der Standardtherapie Verabreichung von rekombinantem Parathormon als Option.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Hypoparathyreoidimus ist definiert durch die verminderte Sekretion von Parathormon aus den Nebenschilddrüsen mit konsekutiver Hypokalzämie.1-3
    • primärer Hypoparathyreoidismus (selten)
      • genetisch
      • idiopathisch 
    • sekundärer Hypoparathyreoidismus
      • postoperativ (Mehrzahl der Fälle)
      • funktionell bei Hypomagnesiämie
  • Abzugrenzen ist der Pseudohypoparathyreoidismus durch verminderte Wirkung von Parathormon (PTH-Spiegel erhöht).

Häufigkeit

  • Seltene endokrine Erkrankung (Orphan Disease)4
  • Prävalenz
    • Wenige epidemiologische Daten, die Gesamtprävalenz wird in internationalen Studien auf ca. 10–40/100.000 geschätzt.3
  • Geschlecht
    • Frauen zu Männern ca. 3:1, vermutlich aufgrund der häufigeren Schilddrüsenoperationen bei Frauen5-6
  • Alter
    • ca. 75 % > 45 Jahre6
  • Ursachen
    • überwiegend Folge von Operationen (Schilddrüse, Nebenschilddrüse), nichtchirurgische Ursachen selten4

Problemstellung für die hausärztliche Praxis

  • In einer deutschen Studie wurde die Versorgungsqualität bei postoperativem Hypoparathyreoidismus untersucht.7
    • Die Nachsorge wurde ganz überwiegend (96 %) von Hausärzt*innen vorgenommen,diesen kommt somit eine herausragende Bedeutung zu.
    • Bei 76 % der Patient*innen wurden durch die Hausärzt*innen regelmäßige Ca-Kontrollen durchgeführt.
    • Keine Patient*in mit Hypokalzämie in der Verlaufskontrolle wurde nicht substituiert.
    • Es zeigten sich aber auch Merkmale der Unter- und Überversorgung.
      • Bei 33 % der substituierten Patient*innen mit permanentem Hypoparathyreoidismus war die Substitution nicht ausreichend.
      • 24 % der Patient*innen mit normwertigem PTH erhielten eine Substitution trotz regelmäßiger hausärztlicher Ca-Kontrollen.

Ätiologie und Pathogenese

  • Das Parathormon regelt den Kalzium-, Phosphat- und Vitamin-D-Stoffwechsel.5
    • Freisetzung von Kalzium aus dem Knochen
    • Verringerung der Kalziumausscheidung im Urin
    • Stimulation der Synthese von aktivem Vitamin D3 (Calcitriol) in der Niere, das für die Resorption von Kalzium (und Phosphat) über den Darm nötig ist.
    • Erhöhung der Phosphatausscheidung im Urin

Ätiologie

  • Selten genetisch bedingt, wobei die zahlreichen möglichen Defekte in 2 Gruppen aufgeteilt werden können.4,6
    • isolierte Endokrinopathien (autosomal-dominant oder autosomal-rezessiv)
    • syndromale Erkrankungen (autosomal-dominant oder autosomal-rezessiv), z. B.:
      • autoimmunes polyendokrines Syndrom
      • Di-George-Syndrom.
  • Die überwiegende Anzahl der Fälle tritt postoperativ nach Eingriffen am Hals auf (Thyreoidektomie, Parathyreoidektomie, Neck Dissection).4,8-10
  • Überwiegend transienter Hypoparathyreoidismus nach OP mit Erholung innerhalb von 6 Monaten6
    • transienter Abfall von PTH auch nach Radiojodtherapie beschrieben9
  • Persistierender Hypoparathyreoidismus allgemein bei ca. 0,5–5 % der Fälle nach Thyreoidektomie, in erfahrenen Zentren nur bei ca. 0,9–1,6 % der Fälle11
  • Seltenere Ursachen für einen sekundären Hypoparathyreoidismus sind infiltrative Erkrankungen (Hämochromatose, M. Wilson), Metastasen oder eine funktionelle Ursache (Magnesiummangel).12

Pathogenese

  • Symptome des Hypoparathyreoidismus entstehen vor allem durch die Hypokalzämie.3,5,12-14
    • akut (Tetanie)
      • Unruhe, Angst
      • Parästhesien peroral/Extremitäten
      • Muskelkrämpfe (z. B. Pfötchenstellung der Hände, Broncho-/Laryngospasmus)
    • chronisch

Prädisponierende Faktoren

  • Risikofaktoren für die Entwicklung eines chronischen postoperativen Hypoparathyreoidismus9
    • präoperativ
    • intraoperativ
      • geringe chirurgische Erfahrung
      • anatomisch kritische Lage der Nebenschilddrüsen
      • Anzahl der intraoperativ geschützten Nebenschilddrüsen
      • Autotransplantation von Nebenschilddrüsengewebe
      • Resektionsausmaß
      • Lymphknotendissektion, ipsilateral und bilateral
      • Operationsdauer > 120 min
    • postoperativ
      • revisionspflichtige Nachblutung

ICPC-2

  • T99 Endo./metab./ernäh. Erkrank., andere

ICD-10

  • E20 Hypoparathyreoidismus
    • E20.0 Idiopathischer Hypoparathyreoidismus
    • E20.1 Pseudohypoparathyreoidismus
    • E20.8 Sonstiger Hypoparathyreoidismus
    • E20.9 Hypoparathyreoidismus, nicht näher bezeichnet

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Klinische Zeichen einer Hypokalzämie
  • Laborkonstellation4,15
    • Kalzium i. S. erniedrigt
    • Parathormon erniedrigt oder inadäquat niedrig-normal

Differenzialdiagnosen einer Hypokalzämie

Anamnese

  • St. n. Thyreoidektomie, Parathyreoidektomie oder sonstigen Halsoperationen
  • Familienanamnese
  • Tetaniesymptome
  • Neuropsychologische Störungen: Lethargie, Konzentrationsschwäche, Angstzustände
  • Nierensteine
  • Hautveränderungen: trockene Haut, Juckreiz, brüchige Nägel, Weichteilkalzifikationen, Kandidiasis, Haarausfall
  • Sehstörungen (Katarakt)
  • Palpitationen

Klinische Untersuchung

  • Zeichen erhöhter neuromuskulärer Erregbarkeit
    • positives Chvostek-Zeichen (durch Beklopfen des Nervus facialis vor dem Ohr ipsilaterale Kontraktion der Gesichtsmuskulatur)
    • positives Trousseau-Zeichen (durch Aufpumpen einer Blutdruckmanschette für 3 min Auslösen eines Karpalspasmus)
  • Haut
    • zervikale Operationsnarbe, trockene Haut, spröde Nägel, Weichteilkalzifikationen, Kandidiasis, Haarausfall
  • Herz
    • Arrhythmie

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

Labor

EKG

  • Evtl. verlängertes QT-Intervall, Rhythmusstörungen

Sonografie

Diagnostik bei Spezialist*innen

Ophthalmologische Untersuchung

Knochendichtemessung

  • Eine Knochendichtemessung braucht nicht routinemäßig durchgeführt zu werden.4

Schädel-CT

  • Bei neurologischen Störungen zum Nachweis einer Basalganglienverkalkung9

Genetische Untersuchung

  • Bei familiärem Auftreten

Indikationen zur Überweisung

  • Bei Verdacht auf die Erkrankung

Therapie

Therapieziele

  • Symptome und Zeichen einer Hypokalzämie vermeiden.2
  • Insgesamt Mineralstoffwechsel normalisieren zur Vermeidung von langfristigen Schäden und Komplikationen.2

Allgemeines zur Therapie

  • Hypoparathyreoidismus ist die einzige endokrine Erkrankung, bei der ein Mangel nicht primär durch Hormonsubstitution behandelt wird.14
    • Seit 2017 ist ein rekombinantes Parathormon zugelassen, allerdings nur für Patient*innen, die unter Standardtherapie nicht adäquat eingestellt werden können.16
  • Behandelt werden sollten Patient*innen mit chronischem Hypoparathyreoidismus mit Hypokalzämie-Symptomen und einem albuminkorrigierten Serumkalziumspiegel < 2,0 mmol/l (ionisiertes Serumkalzium < 1,0 mmol/l).4
    • Asymptomatischen Patient*innen soll eine Behandlung angeboten werden, wenn albuminkorrigiertes Kalzium zwischen 2,0 mmol/l (bzw. ionisiertes Serumkalzium 1,00 mmol/l) und dem unteren Referenzbereich liegt.
  • Die aktuellen europäischen Leitlinien empfehlen folgende allgemeine Ziele bei der Steuerung der Therapie (wobei der Evidenzgrad gering ist):4,8
    • Kalzium i. S. sollte im unteren Normbereich oder leicht unterhalb des Normbereichs liegen, sodass die Patient*innen symptomfrei sind.
    • Die 24-Stunden-Kalziumausscheidung sollte im Normbereich liegen.
    • Phosphat i. S. sollte im Normbereich liegen.
    • Das Kalzium-Phosphat-Produkt sollte unter 4,4 mmol2/l2 (55 mg2/dl2) liegen.
    • Es soll ein adäquater Vitamin-D-Spiegel angestrebt werden.
    • Die Behandlung sollte individuell erfolgen und auf das allgemeine Wohlbefinden und die Lebensqualität fokussiert sein.

Medikamentöse Therapie

  • Üblicherweise wird mit einer Kombination möglichst niedriger Dosen von oralem Kalzium und aktivem Vitamin D behandelt.5
    • nur im Ausnahmefall mit Kalzium allein therapierbar17
  • Natives Vitamin D nur bei leichteren Formen, für die ausgeprägten Formen werden die aktiven Vitamin-D-Präparate benötigt.17
  • Unterschiede zwischen unterschiedlichen Vitamin-D-Präparaten hinsichtlich Galenik, Wirkeintritt und Tagesdosis17
    • Cholecalciferol (Vit D3): relative Potenz 1, Wirkeintritt nach Wochen, Tagesdosis 0,2–2,5 mg (20.000–100.000 IE)
    • Alfacalcidol (1-alpha-Hydroxy-Vitamin-D3): relative Potenz 1.000, Wirkeintritt je nach Präparat nach 1–7 Tagen, Tagesdosis 1–3 μg
    • Calcitriol (1,25-Dihydroxy-Vitamin-D3): relative Potenz 1.000–1500, Wirkeintritt je nach Präparat nach 1–3 Tagen, Tagesdosis 0,5–2 μg
  • Eine medikamentöse Kalziumgabe ist sinnvoll, um ein ausreichendes Angebot sicherzustellen.17
    • kalziumreiche Kost – insbesondere Milch – wegen des hohen Phosphatanteils weniger empfehlenswert17
    • 0,5–1,0 g/d im Allgemeinen ausreichend (viele Patient*innen vertragen bereits Dosen ≥ 2 g/d nicht mehr wegen abdomineller Beschwerden)17
    • Kalziumkarbonat und Kalziumcitrat werden am häufigsten eingesetzt.5
    • Unter Therapie mit Protonenpumpenhemmern sowie für ältere Patient*innen ist Kalziumcitrat oder Kalziumglukonat zu bevorzugen.5
  • Bei Magnesiummangel Gabe von z. B. 300 mg Magnesium tgl.9
  • Bei Hyperkalziurie kann der Einsatz von Thiaziden sinnvoll sein.4

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Komplikationen

  • Auch unter Therapie kann es zu Komplikationen und Komorbiditäten kommen.2,4-5,9
    • Nephrolitiasis
    • Nephrokalzinose
    • Verschlechterung der Nierenfunktion
    • Katarakt
    • Krampfanfälle
    • Basalganglienverkalkung
    • neuropsychiatrische Störungen
    • Infektionen

Verlauf und Prognose

  • Normalisierung der postoperativ erniedrigten PTH-Ausschüttung bei 2/3 der Patient*innen innerhalb 4–6 Wochen, bei mehr als 90 % innerhalb von 6 Monaten9
  • Die Inzidenz von Nierensteinen, Nephrokalzinose und Niereninsuffizienz ist auch unter Therapie erhöht.12
  • Muskelbeschwerden, Fatigue sowie Angst- und depressive Störungen treten gehäuft auf.4
  • Patient*innen mit chronischem Hypoparathyreoidismus haben eine insgesamt niedrigere Lebensqualität.3

Verlaufskontrolle

  • Alle 3–6 Monate unter stabiler Substitutionstherapie4-5
  • Nach einer Therapieänderung sollte das Monitoring wöchentlich oder alle 2 Wochen erfolgen.4-5

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Leitlinie

  • Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie (DGKED). Hypoparathyreoidismus und Pseudohypoparathyreoidismus. AWMF-Leitlinie Nr. 174-005. S1, Stand 2022. www.awmf.org
  • European Society of Endocrinology. Treatment of chronic hypoparathyroidism in adults. Stand 2015. www.eje.bioscientifica.com

Literatur

  1. Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie (DGKED). Hypoparathyreoidismus. AWMF Leitlinie Nr. 174-005. S1. 2022. www.awmf.org
  2. Brandi M, Bilezikian J, Shoback D, et al. Management of Hypoparathyroidism: Summary Statement and Guidelines. J Clin Endocrinol Metab 2016; 101: 2273–2283. doi:10.1210/jc.2015-3907 DOI
  3. Büttner M, Singer S. Hypoparathyreoidismus – eine Belastung für die Patienten. Onkologe 2019; 25: 609-614. doi:10.1007/s00761-019-0520-6 DOI
  4. Bollerslev J, Rejnmark L, Marcocci C, et al. European Society of Endocrinology Clinical Guideline: Treatment of chronic hypoparathyroidism in adults. Eur J Endocrinol 2015; 173: G1–G20. doi:10.1530/EJE-15-0628 DOI
  5. Siggelkow H. Hypoparathyreoidismus – Unterfunktion der Nebenschilddrüsen. CME-kurs.de. Zugriff 03.10.21. www.cme-kurs.de
  6. Abate E, Clarke B. Review of Hypoparathyroidism. Front Endocrinol 2017; 7: 172. doi:10.3389/fendo.2016.00172 DOI
  7. Allemeyer E, Kossow M, Riemann B, et al. Ambulante Versorgungsqualität für den permanenten postoperativen Hypoparathyreoidismus. Dtsch Med Wochenschr 2019; 144: e130-e137. doi:10.1055/a-0860-6137 DOI
  8. Schabram J. Management postoperativer Komplikationen in der Schilddrüsenchirurgie. eMedpedia, publiziert am 12.11.2021, Zugriff 13.01.22. www.springermedizin.de
  9. Petersenn S, Bojunga J, Brabant G, et al. Hypoparathyreoidismus – ein unterschätztes Problem? MMW - Fortschritte der Medizin 2019; 161: 12-20. doi:10.1007/s15006-019-1174-4 DOI
  10. Asari R, Passler C, Kaczirek K, et al. Hypoparathyroidism after total thyroidectomy: a prospective study. Arch Surg 2008; 143: 132-7. PubMed
  11. Schaeffler A. Substitutionstherapie nach Operationen an Schilddrüse und Nebenschilddrüse. Dtsch Arztebl Int 2010; 107: 827-34. www.aerzteblatt.de
  12. Amrein K, Fahrleitner-Pammer A, Wolf G. Persistierender Hypoparathyroidismus. J Klin Endokrinol Stoffw 2011; 4: 6-8. www.kup.at
  13. Vagts D, Kaltofen H, Emmig U, et al. Hypoparathyreoidismus. eMedpedia. Zugriff 03.10.2021. www.springermedizin.de
  14. Michels T, Kelly K. Parathyroid Disorders. Am Fam Physician 2013; 88: 249-257. www.aafp.org
  15. Bilezikian J, Khan A, Potts J, et al. Hypoparathyroidism in the Adult: Epidemiology, Diagnosis, Pathophysiology, Target-Organ Involvement, Treatment, and Challenges for Future Research. J Bone Miner Res 2011; 26: 2317-2337. doi:10.1002/jbmr.483 DOI
  16. Pharmazeutische Zeitung. Parathyroidhormon Natpar®. Letzte Aktualisierung 17.05.19. Zugriff 03.10.21, www.pharmazeutische-zeitung.de
  17. Siggelkow H. Standardtherapie und Ausblick bei der Behandlung des Hypoparathyreoidismus. Endokrinologie Informationen Sonderheft 2017: 11–14. docplayer.org

Autor*innen

  • Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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