Hypermobilitätssyndrom

Zusammenfassung

  • Definition:Generalisierte Hypermobilität: vermehrtes Bewegungsausmaß der Gelenke. Hypermobilitätssyndrom: Symptomatische (= schmerzhafte) generalisierte Hypermobilität.
  • Häufigkeit:Im Erwachsenenalter Prävalenz der generalisierten Hypermobilität von 4–13 %. Frauen häufiger betroffen.
  • Symptome:Oft asymptomatisch. Klassische Beschwerden sind Schmerzen bei längeren, statischen Belastungen (z. B. Rückenschmerzen bei langem Stehen).
  • Befunde:Hypermobilität von mehreren Gelenken.
  • Diagnostik:Klinische Diagnose mittels Beighton-Score und Brighton-Kriterien.
  • Therapie:Gezielte Kräftigung der gelenkstabilisierenden Tiefenmuskulatur.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Generalisierte Hypermobilität: vermehrtes Bewegungsausmaß der Gelenke1
  • Hypermobilitätssyndrom: symptomatische (= schmerzhafte) generalisierte Hypermobilität1

Häufigkeit

  • Die Prävalenz der generalisierten Gelenkhypermobilität ist abhängig von Alter und Geschlecht.2
    • im Schulalter
      • etwa 25 % der Mädchen und 10–15 % der Jungen
    • im Erwachsenenalter
      • 4–13 %, Frauen sind häufiger betroffen.
  • Bei Balletttänzer*innen Prävalenz von 68,2 %1

Ätiologie und Pathogenese

  • Ursächlich werden Veränderungen in Genen für Kollagen oder solchen für Kollagen-verarbeitende Enzyme vermutet.2
  • Das Hypermobilitätssyndrom ist schwierig von den Varianten des Ehlers-Danlos-Syndroms (EDS)‒ mit Hypermobilität ‒ zu unterscheiden.3
  • Allerdings manifestieren sich die Symptome bei primärer Gelenkhypermobilität im Gegensatz zum EDS weitgehend muskuloskelettal, etwa über Arthralgien, Lumbalgien, häufige Gelenkluxationen sowie weichteilrheumatische Beschwerden. 2

Prädisponierende Faktoren

  • Positive Familienanamnese
  • Weibliches Geschlecht

ICPC-2

  • L99 Andere muskeloskelettale Erkrankung

ICD-10

  • M35.7 Hypermobilitäts-Syndrom

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

Beighton-Score4

  • Kriterium für generalisierte Hypermobilität: ≥ 5 Punkte im Beighton-Score
    • Bei Kleinkindern ist eine Hypermobilität der Gelenke physiologisch.
    • für Kinder ab 6 Jahren international kein Konsensus, Diagnosestellung unterschiedlich bei 5, 6 oder 7 Punkten1
  • Überprüfung der Beweglichkeit von 9 Gelenken (an Extremitäten jeweils rechte und linke Seite, pro positivem Befund 1 Punkt)
    • kleiner Finger: Dorsalextension > 90 Grad im Metacarpophalangealgelenk
    • Daumen: volarseitiger Kontakt mit Unterarm möglich
    • Ellenbogen: Hyperextension > 10 Grad
    • Kniegelenk: Hyperextension > 10 Grad
    • beide Handflächen auf dem Boden bei gestreckten Knien

Brighton-Kriterien

  • Kriterium für Hypermobilitätssyndrom
  • Diagnosestellung bei:
    • 2 Hauptkriterien – oder –
    • 1 Hauptkriterium und 2 Nebenkriterien – oder –
    • 4 Nebenkriterien – oder –
    • 2 Nebenkriterien und positiver Familienhistorie im 1. Grad.
  • Hauptkriterien
    • Beighton-Score ≥ 4 Punkte
    • Gelenkschmerzen in mind. 4 Gelenken für > 3 Monate
  • Nebenkriterien
    • Beighton-Score 1–3 Punkte (0–3 Punkte im Alter von über 50 Jahren)
    • Arthralgie in 1–3 Gelenken oder Rückenschmerzen oder Spondylose, Spondylolyse und Spondylolisthesis
    • Dislokation von mehr als 1 Gelenk oder im gleichen Gelenk mehr als einmal
    • 3 oder mehr Weichteilläsionen (Epikondylitis, Sehnenscheidenentzündung, Schleimbeutelentzündung)
    • auffällige Haut: Striae, hypermobile Haut, dünne Haut, ungewöhnliche Narbenbildung
    • marfanoider Habitus (hoch, dünn, Armspannweite/Körperhöhe > 1,03 und/oder Verhältnis von Oberkörper/Unterkörper < 0,89, Arachnodaktylie)
    • Augensymptome: Schlupflider, Myopie
    • Krampfadern, Hernie, Uterusprolaps oder Rektumprolaps

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Positive Familienanamnese?
  • Viele Patient*innen mit generalisierter Hypermobilität haben keine Beschwerden, und die Überbeweglichkeit fällt nebenbefundlich auf.
  • Klassische Symptomatik4
    • Rücken- und Gelenkschmerzen bei statischen Dauerbelastungen (z. B. langes Stehen oder Sitzen)
      • Lockere Bindegewebsverhältnisse erfordern erhöhte Muskelarbeit.
      • Starke Belastung der Muskulatur um ein Gelenk oder in einem Wirbelsäulenabschnitt provoziert eher Beschwerden als bei muskelkräftigen, steifen Menschen.
  • Häufiger Beratungsanlass2
    • multidirektionale Schulterinstabilität, charakterisiert durch eine Subluxation oder Dislokation des Schultergelenks
    • Rund 40–70 % der Patient*innen mit Hypermobilität sind davon betroffen.

Klinische Untersuchung

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

Indikationen zur Überweisung

  • Bei Unsicherheit bezüglich der Diagnose Überweisung an Orthopäd*in

Therapie

Therapieziele

  • Schmerzen und Verletzungen verhindern.

Allgemeines zur Therapie

  • Die einzige Therapiemöglichkeit der Hypermobilität erfolgt über die gezielte Kräftigung der gelenkstabilisierenden Muskulatur.4
    • Dabei kommt es vor allem auf die Haltemuskulatur an.

Konservative Therapie

  • Empfehlungen gemäß der nachfolgenden Referenz4
  • Bewegungstherapie
    • Wahrnehmung und Kräftigung der Tiefenstabilisatoren
    • Koordinationstraining
    • Sensomotorik, z. B. propriozeptive neuromuskuläre Fazilitation
    • Ökonomisierung der Bewegungsabläufe
  • Schmerztherapie
    • Bei akuten Beschwerden sind klassische NSAR kaum wirksam.
    • stattdessen physikalischer Ansatz, u. a. Elektrotherapie (TENS), autogenes Training, Meditation, Akupunktur

Operative Therapie

  • Bei ausgeprägter, symptomatischer Gelenkinstabilität können gelenkstabilisierende Operationen erfolgen.2

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Die generalisierte Hypermobilität ist nicht heilbar, das Ausmaß nimmt aber im Laufe des Lebens ab.4

Komplikationen

  • Möglicherweise erhöhtes Risiko für Schmerzen des Bewegungsapparats und Verletzungen1
    • keine eindeutige Studienlage

Prognose

  • Viele Patient*innen sind beschwerdefrei.
  • Bei ausreichender muskulärer Stabilisierung (durch regelmäßiges Training) können die meisten Belastungen in Beruf und Sport ohne Beschwerden erfolgen.4
  • Normale Lebenserwartung

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Literatur

  1. Schmidt H, Pedersen TL, Junge T, et al. Hypermobility in Adolescent Athletes: Pain, Functional Ability, Quality of Life, and Musculoskeletal Injuries. J Orthop Sports Phys Ther 2017; 47(10): 792-800. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  2. Müller T. Nicht gerade harmlos: primäre Gelenkhypermobilität. Orthop. Rheuma 2019; 22: 23. link.springer.com
  3. Castori M, Dordoni C, Valiante M, et al. Nosology and inheritance pattern(s) of joint hypermobility syndrome and Ehlers-Danlos syndrome, hypermobility type: a study of intrafamilial and interfamilial variability in 23 Italian pedigrees. Am J Med Genet A 2014; 164A:3010. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  4. Seidel M. Konstitutionelle Hypermobilität. Orthopädie und Unfallchirurgie up2date 2013; 8(3): 251-64. www.thieme-connect.de

Autor*innen

  • Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Münster
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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