Habitueller Zehenspitzengang

Zusammenfassung

  • Definition:Zehenspitzengang bei Kindern, die älter als 2 Jahre sind, in Abwesenheit einer neurologischen oder orthopädischen Grunderkrankung.
  • Häufigkeit:Betrifft etwa 2 % aller Kinder im Alter von 5 Jahren.
  • Symptome:Kind läuft die meiste Zeit auf dem Vorfuß.
  • Befunde:Symmetrisches Gangbild, keine Entwicklungsstörungen, ggf. Einschränkung der Dorsalextension im Sprunggelenk durch Achillessehnenverkürzung.
  • Diagnostik:Ausschlussdiagnose. Kein Anhalt für Grunderkrankung.
  • Therapie:Beobachtendes Abwarten bei Kindern ohne Achillessehnenverkürzung bis zum Alter von 3 Jahren. Bei Persistenz Dehnübungen und als nächste Stufe Orthesen- oder Gipsbehandlung. Ultima Ratio: Operation zur Verlängerung der Achillessehne.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Zehenspitzengang: Gangbild, bei dem die Patient*innen zu mehr als 50 % der Zeit auf dem Vorfuß laufen.1
    • im Kleinkindalter physiologisch
  • Habitueller Zehenspitzgang: Zehenspitzengang bei Kindern, die älter als 2 Jahre sind, in Abwesenheit einer neurologischen oder orthopädischen Grunderkrankung2
    • Ausschlussdiagnose

Häufigkeit

  • Prävalenz des Zehenspitzengangs im Alter von 5 Jahren3
    • bei Kindern ohne Grunderkrankung (habituell): 2 %
    • bei Kindern mit neuropsychiatrischer Diagnose oder Entwicklungsstörung: 41 %

Ätiologie und Pathogenese

  • Beim habituellen Zehenspitzengang ist keine neurologische oder orthopädische Grunderkrankung feststellbar.
    • bei über 90 % der Patient*innen mit Zehenspitzengang der Fall4
  • Mögliche Ursachen beim nichtidiopathischen Zehenspitzengang2

Prädisponierende Faktoren

  • Genetische Disposition (positive Familienanamnese)5

ICPC-2

  • L17 Fuß-/Zehensymptomatik/-beschwerden

ICD-10

  • R26.8 Sonstige und nicht näher bezeichnete Störungen des Ganges und der Mobilität

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Klinische Diagnose
  • Ausschluss einer vorliegenden Grunderkrankung

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Positive Familien-Anamnese?
  • Typische Anamnese beim habituellen Zehenspitzengang2
    • Gesundes Kleinkind, das vor dem 18. Lebensmonat mit dem Laufen begonnen hat.
    • Kleinkind läuft symmetrisch auf beiden Vorfüßen, vor allem wenn es sich unbeobachtet fühlt.
    • Auf Aufforderung kann der Fuß flach aufgesetzt werden.
  • Hinweise auf nichtidiopathischen Zehenspitzengang (Folge einer Grunderkrankung)2
    • Frühgeburtlichkeit
    • verzögerter Laufbeginn (nach dem 18. Lebensmonat)
    • generelle Entwicklungsverzögerungen
    • progrediente Abnahme der Funktion der unteren Extremitäten
    • asymmetrisches Gangbild

Klinische Untersuchung

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.2

Inspektion

  • Kind bis auf Unterwäsche entkleiden lassen.
    • Auffälligkeiten der Haut?
    • Becken-/Schultertiefstand? Verlauf der Wirbelsäule?
    • Fußdeformität?
    • Muskelatrophien, Muskelasymmetrien?
  • Ganganalyse
    • symmetrischer vs. asymmetrischer Zehenspitzengang

Palpation

  • Palpation der Achillessehne bzw. Wadenmuskulatur
    • Spastische Tonuserhöhung auch in entspannter Sitzposition mit baumelnden Beinen?

Funktionsprüfung

  • Neurologischer Status
    • insbesondere Reflexstatus der unteren Extremität
  • Bewegungsausmaß des Sprunggelenks
    • bei Kontraktur/Verkürzung der Achillessehne eingeschränkte Dorsalextension
  • Aufrichten aus Sitzposition

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

Diagnostik bei Spezialist*innen

Bildgebung

  • Nicht regelhaft notwendig
  • Ggf. Röntgen des Fußes im Stehen2
    • Ausschluss knöcherner Deformitäten

Indikationen zur Überweisung

  • Bei Unsicherheit bezüglich der Diagnose oder V. a. nichtidiopathischen Zehenspitzengang Überweisung an Kinder-Orthopäd*in

Therapie

Therapieziele

  • Normales Gangbild erreichen.
  • Eine fortschreitende Achillessehnenverkürzung und deren Sekundärfolgen (siehe Komplikationen) vermeiden.4

Allgemeines zur Therapie

  • Bei Kleinkindern, die erst seit einigen Monaten laufen und keine Bewegungseinschränkungen im Sprunggelenk durch eine Achillessehnenverkürzung haben, ist ein abwartendes Vorgehen empfohlen.2
    • Kontrollen im Abstand von 6–12 Monaten, um bei Achillessehnenkontraktur rechtzeitig eine Therapie einzuleiten.
  • Bei Kontrakturen bzw. Bewegungseinschränkungen im Sprunggelenk sowie persistierendem habituellem Zehenspitzengang nach dem 3. Lebensjahr wird eine Therapie empfohlen.2
    • in der Regel immer erst konservativer Therapieversuch vor Operation

Konservative Therapie

  • Dehnübungen der Wadenmuskulatur bzw. Achillessehne2
    • üblicherweise primäre Therapiemaßnahme
    • beispielhafte Übung: mit Vorfuß auf Treppenstufe, Absinken der Ferse unterhalb des Niveaus der Treppenstufe (bei Bedarf assistiert durch Eltern, die Kind an Schultern sanft nach unten drücken)
  • (Nachtlagerungs-)Schienen1
    • Halten den Fuß plantigrad und verhindern Spitzfußstellung.
  • Gipsbehandlung2
    • Serielle Behandlung mit Unterschenkelgips, der den Fuß in Dorsalextension hält.
    • 1–2 x pro Woche Wechsel des Gipses mit Steigerung der Dorsalextension
  • Botox-Injektion in den M. gastrocnemius
    • bei fehlender Wirksamkeit nicht empfohlen6

Operative Therapie

  • Ist bei fehlendem Therapieerfolg der konservativen Maßnahmen nach 12 Monaten indiziert.2
  • Vorgehen2
    • Verlängerung der Achillessehne, meist durch sog. Z-Plastik
    • postoperativ Immobilisation im Unterschenkelgips für etwa 6 Wochen

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Bei Kindern < 3 Jahre ohne Bewegungseinschränkung im Sprunggelenk entwickelt sich in der Regel von alleine ein physiologisches Gangbild.

Komplikationen

  • Progrediente Achillessehnenverkürzung mit Haltungsschäden im Bereich der Hüfte und der Wirbelsäule4
    • dauerhafte Schmerzen am Bewegungsapparat
  • Rezidive
    • sowohl nach operativer Achillessehnenverlängerung als auch Orthesen- oder Gipsbehandlung möglich

Prognose

  • Kinder mit habituellem Zehenspitzengang haben eine bessere Prognose bezüglich der Entwicklung eines physiologischen Gangbilds im Vergleich zu Kindern mit einer vorliegenden Grunderkrankung.

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Literatur

  1. Pomarino D, Thren A,Thren JR, et al. Fallbeschreibung – genetische Mutation auf dem CREBBP-Gen mit Symptom Zehenspitzengang. päd 2020; 26: 326-7. www.zehenspitzengang.de
  2. Krochak R. Toe walking. Medscape, last updated Apr 13, 2021. emedicine.medscape.com
  3. Ruzbarsky JJ, Scher D, Dodwell E. Toe walking: causes, epidemiology, assessment, and treatment. Curr Opin Pediatr. 2016; 28(1): 40-6. doi:10.1097/MOP.0000000000000302 DOI
  4. Bernhard MK, Töpfer M, Merkenschlager A. Zehenspitzengang – an was ist zu denken…?. Kinder- und Jugendmedizin 2005; 5(2): 73-78. www.thieme-connect.com
  5. Pomarino D, Beyer J, Rubtsova I. Kasuistik einer Familie mit Zehenspitzengang. päd 2013; 19: 176-8. www.zehenspitzengang.de
  6. Engström P, Bartonek Å, Tedroff K, Orefelt C, Haglund-Åkerlind Y, Gutierrez-Farewik EM. Botulinum toxin A does not improve the results of cast treatment for idiopathic toe-walking: a randomized controlled trial. . J Bone Joint Surg Am 2013; 95(5): 400-7. doi:10.2106/JBJS.L.00889 DOI

Autor*innen

  • Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Münster
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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