Thalassämie

Zusammenfassung

  • Definition:Heterogene Gruppe genetisch bedingter Erkrankungen mit Störung der normalen Hämoglobinbildung durch defekte Synthese einer oder mehrerer Hämoglobinketten. Bezeichnung als Alpha-Thalassämie oder Beta-Thalassämie in Abhängigkeit von den vermindert gebildeten Globinketten.
  • Häufigkeit:Am häufigsten bei Menschen aus dem Mittelmeerraum, dem Nahen Osten sowie Teilen Afrikas und Asiens (aktuelle und frühere Malariagebiete durch Selektionsvorteil).
  • Symptome:Abhängig von der Anzahl der betroffenen Gene gibt es eine große Bandbreite zwischen asymptomatischen Genträger*innen und Symptomen einer schweren Anämie mit komplexem Krankheitsbild.
  • Befunde:Abhängig von Art und Schweregrad der Erkrankung Blässe, Ikterus, Hepatosplenomegalie, Zeichen einer endokrinen Störung, Zeichen der Herzinsuffizienz, Wachstumsretardierung, Knochendeformitäten.
  • Diagnostik:Blutbild, Eisenstatus, Hämoglobinelektrophorese; im Einzelfall molekularbiologische Diagnostik.
  • Therapie:Bei leichten Formen ist keine Therapie notwendig. Transfusionstherapie bei schweren Formen mit Prävention/Behandlung einer Eisenüberladung. Kurative Therapie durch Stammzelltransplantation.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Heterogene Gruppe genetisch bedingter Erkrankungen mit Störung der normalen Hämoglobinbildung durch defekte Synthese einer oder mehrerer Hämoglobinketten1
  • Bezeichnung als Alpha-Thalassämie oder Beta-Thalassämie in Abhängigkeit von den einbezogenen Globingenen1

Häufigkeit

  • Hämoglobinopathien sind die häufigsten monogenen Erbkrankheiten mit ca. 7 % Genträger*innen weltweit.2
  • Davon leben weltweit ca. 200 Mio. Betroffene mit einem Thalassämie-Syndrom.3
  • Thalassämie ist am häufigsten bei Menschen aus dem Mittelmeerraum, dem Nahen Osten sowie Teilen Afrikas und Asiens.4-5
  • Das primäre Verbreitungsgebiet ist in Übereinstimmung mit aktuellen und früheren Malariagebieten, da ein Selektionsvorteil aufgrund geringerer Anfälligkeit für Malaria besteht.6
  • Verhältnis Frauen zu Männern ca. 1:14 

Wachsende Bedeutung für die Hausarztmedizin durch Migration

  • Ausgehend vom Mittelmeerraum und weiten Teilen Asiens und Afrikas Ausbreitung durch Migration2
  • In Deutschland über 10 Mio. Menschen mit Bezug zu diesen Regionen7
  • In weiten Teilen Europas gilt mittlerweile die Einstufung als endemische Erkrankungen.2 
  • In Deutschland gibt es mehr als 600 Patient*innen mit Beta-Thalassämie major und etwa 150.000 Träger*innen der Erkrankung mit milden Symptomen.8
    • In der deutschen Bevölkerung mitteleuropäischer Abstammung beträgt die Prävalenz der heterozygoten Beta-Thalassämie lediglich 0,01 %.9
  • Beta-Thalassämien in Europa mit der größten klinischen Bedeutung10

Ätiologie und Pathogenese

Normale Struktur des Hämoglobins

  • Ein normes Hämoglobinmolekül besteht aus 4 Globinketten (Heterotetramer), wobei sich die Zusammensetzung im Laufe der Entwicklung ändert.
  • Etwa 8 Wochen nach Konzeption vor allem Bildung von fetalem HbF (α2γ2)10
  • Zum Zeitpunkt der Geburt wird die Gamma-Globin-Synthese durch die Beta-Globin-Synthese abgelöst mit Entstehung von adultem Hämoglobin HbA (α2β2)10
  • Nach der Säuglingszeit ganz überwiegend Produktion von HbA (α2β2) mit ca. 97 %, Anteil von HbA2 (α2δ2) ca. 2,5 %, HbF nur noch minimal10

Veränderungen bei Thalassämien

  • Hämoglobinopathien werden grundsätzlich in 2 Gruppen eingeteilt:6,11
    1. Erkrankungen durch qualitative strukturelle Veränderungen des Hämoglobins (veränderte Aminosäurensequenz)
    2. Erkrankungen mit einer quantitativen Beeinträchtigung der Globinkettensynthese (Thalassämien).
  • Thalassämien sind genetische Erkrankungen, die durch Mutationen des Alpha- bzw. Beta-Globingens verursacht werden.3
    • Gene der Alpha- und Beta-Ketten sind chromosomal getrennt lokalisiert, die Gene der Alpha-Globinkette auf Chromosom 11, die Gene der Beta-Globinkette auf Chromosom 16.6
  • Der Erbgang ist autosomal-rezessiv.2
    • heterozygote Gendefektträger*innen mit keiner oder leichter Symptomatik2
    • homozygote Major-Formen mit schweren Anämien und komplexen Krankheiten2
  • Die Genmutationen der Thalassämien führen zu einer quantitativ verminderten Synthese von strukturell normalen Alpha- bzw. Beta-Globinketten.6
  • Durch den Mangel entweder an Alpha- oder Beta-Globinketten kommt es zu einer verminderten Produktion von – strukturell normalen – α2β2-Hämoglobinmolekülen und dadurch zur mikrozytären, hypochromen Anämie.6
  • Zusätzlich Schädigung des Knochenmarks und der Erythropoese durch die überschüssigen Globingegenketten6
  • Die Schwere des klinischen Bildes ist somit abhängig vom Ausmaß des Ungleichgewichts zwischen Alpha- und Beta-Globinketten.6

Beta-Thalassämien – Einteilung und klinische Präsentation

  • Beta-Thalassämien werden durch eine oder mehrere Punktmutationen im Beta-Globin-Gen verursacht, über 200 solche Mutationen sind bekannt.12
  • Die klinische Ausprägung der Beta-Thalassämien hängt von der genetischen Konstellation ab:
    • Je nach Mutation im Beta-Globingen weist dieses eine unterschiedlich ausgeprägte Aktivität auf (β0: keine Aktivität, β+: Restaktivität vorhanden).
    • Zudem wird die Ausprägung dadurch beeinflusst, ob nur ein oder beide Chromosomen einen thalassämischen Defekt aufweisen.
  • Es ergibt sich somit eine Vielzahl von möglichen Genotypen; klinisch erfolgt die Einteilung üblicherweise in 3 mögliche Phänotypen: Thalassaemia minor, Thalassaemia intermedia, Thalassaemia major.
  1. Thalassaemia minor1,3
    • leichte mikrozytär-hypochrome Anämie
    • evtl. auch nur Mikrozytose und Hypochromie ohne Anämie
    • symptomfrei oder milde klinische Symptome durch die leichte Anämie
    • kein Transfusionsbedarf
    • Milz und Leber sind selten vergrößert.
  2. Thalassaemia intermedia
    • mittelschwere Verlaufsform ohne primäre, chronische Transfusionsbedürftigkeit
      • lange Zeit kein Transfusionsbedarf bei Hb ca. 8 g/dl (5 mmol/l)
      • häufig allerdings Verschlechterung im Verlauf
    • bei ausgeprägten Formen erste Symptome wie die Hepatosplenomegalie zwischen 2. und 6. Lebensjahr, bei leichteren Formen erst in der Adoleszenz oder als Erwachsene
    • Die Notwendigkeit einer regelmäßigen Infusionstherapie muss rechtzeitig erkannt werden.
    • Breites Spektrum klinischer Präsentation – therapierelevante klinische Symptome sind:
      • Anämie-Symptome (Belastungsintoleranz)
      • Wachstums- und Entwicklungsstörung
      • extramedulläre Blutbildungsherde (z. B. paravertebral mit Kompressionssymptomen)
      • endokrine Störungen (Osteopenie, Frakturen, Knochenschmerzen, Infertilität)
      • kardiopulmonale Komplikationen (pulmonale Hypertension, Li- u. Re-Herzinsuffizienz)
      • thromboembolische Ereignisse
      • psychologische Belastungen (Depressionen).
  3. Thalassaemia major1,7,10
    • schwere mikrozytäre, hypochrome Anämie
    • hochgradig gestörte Erythropoese und leichte Hämolyse
    • Klinische Symptome tauchen meist bereits im ersten Lebensjahr auf:
      • Blässe
      • Ikterus
      • Gedeihstörung
      • Hepatosplenomegalie.
    • bei unzureichender Therapie:
      • Infektionen
      • Wachstumsretardierung
      • Knochendeformierungen (u. a. Facies thassalaemica mit hoher Stirn, Verbreiterung der Diploe, Prominenz von Jochbein und Oberkiefer)
      • pathologische Frakturen
      • Cholelithiasis
      • Verdrängungssyndrome durch extramedulläre Erythropoese.
    • Unbehandelt führt die Erkrankung bereits im Kleinkindalter zum Tod.
    • Regelmäßige Transfusionstherapie führt zur Eisenüberladung.

Alpha-Thalassämien – Einteilung und klinische Präsentation

  • Ursache für eine Alpha-Thalassämie ist eine Deletion (partiell oder total) eines oder mehrerer der 4 Gene, die die Alpha-Kettenproduktion regulieren.1,7
  • Klinisch erfolgt die Einteilung in 4 verschiedene Formen, wobei der Schweregrad mit der Anzahl der vom Aktivitätsverlust betroffenen Gene korreliert.1,7
  1. Asymptomatische Alpha-Thalassämie minima1,7
    • klinisch inapparent
    • Hb normal (oder minimal erniedrigt)
    • leichte Mikrozytose und Hypochromie
  2. Alpha-Thalassämie minor1,7
    • Hb leicht erniedrigt in unterschiedlicher Ausprägung
    • Mikrozytose und Hypochromie
  3. HbH-Krankheit1,7
    • relevante hämolytische Anämie
    • Hb bei Erwachsenen und im späteren Kindesalter zwischen 7 und 12 g/dl (4,3 und 7,5 mmol/l), Blutbild bereits bei Neugeborenen verändert
    • Retikulozytenzahl auf etwa 50–100 ‰ erhöht
    • Transfusionen sind selten indiziert.
    • variables klinisches Bild zwischen guter Anpassung an die Anämie oder auch deutlich reduziertem Befinden
      • Hepatosplenomegalie bei 70–80 %
      • hämolytische/aplastische Krisen z. B. durch Infektionen oder Schwangerschaft
      • Komplikationen wie Gallensteine, Ulcera cruris, kardiale Komplikationen
  4. Hb-Bart-Hydrops-fetalis-Syndrom (HBHFS)
    • bereits intrauterin schwere klinische Probleme (Hydrops, schwere Anämie, Herz- und Skelettfehlbildungen)
    • Unbehandelt tritt der Tod intrauterin oder kurz nach der Geburt ein, bereits interauterin sind Transfusionen notwendig.

Disponierende Faktoren

  • Herkunft aus Gebieten mit hoher Anzahl an Genträger*innen

ICPC-2

  • B78 Vererbliche hämolytische Anämie

ICD-10

  • D56 Thalassämie
    • D56.0 Alpha-Thalassämie
    • D56.1 Beta-Thalassämie
    • D56.2 Delta-Beta-Thalassämie
    • D56.3 Thalassämie-Erbanlage
    • D56.4 Hereditäre Persistenz fetalen Hämoglobins (HPFH)
    • D56.8 Sonstige Thalassämien
    • D56.9 Thalassämie, nicht näher bezeichnet

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Diagnosestellung beruht auf:
    • dem klinischen Bild bei symptomatischen Formen
    • Labor (Blutbild, Eisenstatus)
    • Hämoglobinelektrophorese
    • evtl. ergänzend molekularbiologische Untersuchungen (v. a. bei Alpha-Thalassämien)
  • Beta-Thalassämien meistens mit typischen Veränderungen bereits in der Hämoglobinelektrophorese, sodass eine molekularbiologische Analyse des Gendefekts nicht notwendig ist.3
  • Bei Alpha-Thalassämien ist eine molekularbiologische Diagnostik zur genauen Charakterisierung notwendig.3

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Patient*innen mit schweren Formen der Thalassämie sind bereits frühkindlich schwer symptomatisch/behandlungspflichtig und damit für die hausärztliche Abklärung weniger relevant.
  • Die Mehrzahl der Genträger*innen weist klinisch eine Minorvariante auf und ist asymptomatisch oder wenig symptomatisch.
  • Bei den mittelschweren Verlaufsformen gibt es ein breites Spektrum an möglichen Symptomen.
  • Symptome einer Anämie:
    • Müdigkeit, Abgeschlagenheit
    • Leistungsminderung
    • Belastungsdyspnoe
    • schneller Puls
    • Kopfschmerzen
    • Schwindel.
  • Abdominelle Beschwerden (Hepatosplenomegalie, Cholezystolithiasis)
  • Neurologische Ausfälle (Kompressionsyndrome durch extramedulläre Blutbildung mit Pseudotumoren in Retroperitoneum/Thorax)13
  • Z. n. arteriellen oder venösen Thrombembolien (10 % der Patient*innen mit Beta-Thalassaemie intermedia)13
  • Symptome von Erkrankungen, die durch eine sekundäre Hämochromatose verursacht werden:13
  • Familienanamnese
    • Thalassämie bekannt?
    • Genträgerschaft bekannt?
  • Migrationshintergrund?

Klinische Untersuchung

Ergänzende Untersuchungen

  • Großes Blutbild mit Erythrozytenindizes und Retikulozyten13
    • Hinweisend für eine Thalassämie sind vor allem ein MCH von < 27 pg und ein MCV von < 78 fl.3
  • Eisenstatus
  • Hämolyseparameter (vor allem bei V. a. HbH-Krankheit) 

Diagnostik bei Spezialist*innen

Blutausstrich

  • Schwere Alpha- und Beta-Thalassämien mit auffälligen Veränderungen im Blutausstrich (HbH-Zellen, starke Anisozytose, Poikilozytose, Targetzellen und basophil punktierte Erythrozyten)3

Hämoglobinanalyse

  • Erfassung der verschiedenen Hämoglobinfraktionen durch Hämoglobinelektrophorese und -chromatografie
  • Bei Beta-Thalassämie erhöhte Fraktionen von HbF und HbA2
  • Bei der HbH-Krankheit Nachweis von HbH

Molekulargenetische Untersuchungen

  • Entscheidend vor allem bei der Abklärung einer Alpha-Thalassämie
    • Minima- und Minorformen der Alpha-Thalassämie sind nur mit DNA-Analyse sicher zu diagnostizieren.1
  • Bei der Abklärung der Beta-Thalassämien gehören molekulargenetische Untersuchungen nicht zur Standarddiagnostik, sie sollten nur bei folgenden Indikationen veranlasst werden:13
    • Diagnostik der „stummen“ Beta-Thalassämie minor
    • Abgrenzung der Thalassaemia intermedia von Thalassaemia major
    • im Rahmen von genetischer Beratung und Pränataldiagnostik.

Indikationen zur Überweisung

  • Vor allem in folgenden Situationen ist die differenzierte Abklärung einer Thalassämie indiziert:3
    • ausgeprägte klinische Symptomatik mit V. a. zugrunde liegende Thalassämie
    • hypochrome, mikrozytäre Anämie nach Ausschluss eines Eisenmangels
    • vor geplanter Schwangerschaft (bzw. bald nach Konzeption) bei V. a. Thalassämieanlage

Genetische Beratung

  • Bei Thalassämien sollte eine Familien- bzw. Partnerdiagnostik und eine genetische Beratung angeboten werden.1
  • Durch die frühzeitige Feststellung einer Trägerschaft kann auch eine überflüssige Eisensubstitution vermieden werden.8

Therapie

Therapieziele

  • Bei schwerer Thalassämie kurativer Ansatz mit Stammzelltransplantation1
    • Ein neuer Ansatz besteht aus einer Gentherapie in Kombination mit Stammzelltransplantation.14
  • Ansonsten symptomatische Therapie mit Bluttransfusionen zur Korrektur einer Anämie und Suppression einer gesteigerten Erythropoese10
  • Vermeidung oder Behandlung einer Eisenüberladung, die durch Bluttransfusionen oder gesteigerte intestinale Eisenresorption verursacht wird.

Allgemeines zur Therapie

  • Planung und Durchführung einer Therapie in Zusammenarbeit mit Hämatolog*innen/hämatologischem Zentrum1

Therapieprinzipien der Beta-Thalassämien 

  • Beta-Thalassämie minor1
    • Behandlung im Allgemeinen nicht notwendig
    • Substitution von Folsäure (0,5 mg/d oral) und Vit B6 (100–200 mg/d oral) kann erwogen werden.
  • Beta-Thalassämie intermedia1,13
    • primär klinische und hämatologische Verlaufskontrollen
    • Indikationsstellung zur Transfusionstherapie ist vor allem durch die klinische Situation bestimmt.
      • Transfusionen aber ca. bei Hb < 8 g/dl (< 5 mmol/l) zu erwägen.
  • Beta-Thalassämie major1
    • symptomatisch: regelmäßige Transfusionstherapie kombiniert mit Chelattherapie zur Verhinderung einer Eisenüberladung
    • kurativ: Stammzelltransplantation, sofern HLA-identischer Spender vorhanden

Therapieprinzipien der Alpha-Thalassämien

  • Alpha-Thalassämie minima und Alpha-Thalassämie minor bedürfen keiner Therapie.1
  • HbH-Krankheit1
    • Therapie abhängig vom variablen klinischen Schweregrad
    • Transfusionen sind eher selten notwendig.
      • bei hämolytischen oder aplastischen Krisen
      • bei Schwangerschaft
    • Folsäuresubstitution
    • Eisensubstitution kontraindiziert (außer bei gleichzeitig nachgewiesenem Eisenmangel)
  • Hb-Bart-Hydrops-fetalis-Syndrom1
    • Es sind bereits pränatal Infusionen erforderlich.
    • im Verlauf Transfusionsregime analog zu Beta-Thalassämie major
    • evtl. kurative Therapie durch Stammzelltransplantation 

Therapieformen

Stammzelltransplantation

  • Eine Stammzelltransplantation mit hämato­poetischen Stammzellen von HLA-identischen Familienspender*innen ist derzeit die Therapie der Wahl.13
  • Bei nichtverwandten Spender*innen ist eine weitestgehende HLA-Übereinstimmung erforderlich.13,15
    • Es sind keine vergleichenden Daten für die verschiedenen Formen der allogenen Stammzelltransplantation verfügbar.16
  • Für die Therapieentscheidung ist die transplantationsassoziierte Morbidität/Mortalität gegen die Folgen einer sekundären Hämochromatose bei symptomatischer Behandlung abzuwägen.13
  • Transplantation meistens bereits im Kindesalter, bei Erwachsenen erhöhte Komplikationsraten13

Gentherapie

  • Ein neuer therapeutischer Ansatz besteht in der Durchführung einer Gentherapie.
  • Es handelt sich um eine autologe Stammzelltransplantation, wobei über Lentiviren eine Transduktion des korrekten Gens auf die Stammzellen durchgeführt wurde.14
  • Im Juni 2019 wurde die Gentherapie für Patient*innen > 12 Jahre mit transfusionsabhängiger Beta-Thalassämie durch die EMA zugelassen.17

Transfusionstherapie

  • Unter Berücksichtigung der klinischen Symptomatik gilt im Allgemeinen ein Hb < 8 g/dl (< 5 mmol/l) als Indikation für eine Transfusionstherapie.1
  • Der Basis-Ziel-Hb beträgt 9–10,5 g/dl (5,6–6,5 mmol/l) für eine Suppression der Erythropoese, der Ziel-Hb nach Transfusion 13–13,5 g/dl (8–8,4 mmol/l).1
  • Retikulozyten < 5‰ zeigen eine ausreichende Hemmung der Erythropoese an.10
  • Transfusionsintervalle von 3 Wochen empfohlen1
    • Kürzere Intervalle mit kleineren Volumina sind aber möglich, v. a. bei Patient*innen mit kardialen Problemen.
    • Längere Intervalle sollten vermieden werden.

Medikamentöse Eisenelimination

  • Für die Indikationsstellung zu einer Eiseneliminationstherapie werden bei regelmäßig transfundierten Patient*innen berücksichtigt:18
    • die kumulative Transfusionsmenge (ca. nach 10–15 Transfusionen)
    • Serumferritin (wiederholt > 1.000 μg/l)
    • Lebereisengehalt (Bestimmung im MRT).
  • Patient*innen mit Thalassämia intermedia erhalten oft keine oder nur sporadisch Bluttransfusionen, dennoch kommt es aufgrund gesteigerter Eisenresorption typischerweise zu Lebersiderose (nicht zur Myokardsiderose)18
    • Ferritin-Werte sind häufig nur leicht erhöht und reflektieren nicht das Ausmaß der Eisenüberladung der Leber.
    • Lebereisenbestimmung (MRT) sollte erfolgen ab Pubertät alle 2 Jahre sowie bei Serumferritin > 300 ng/ml.
  • Für die Chelattherapie zur Eisenelimination werden empfohlen:18
    • Primärtherapie: Deferoxamin (s. c.) oder Deferasirox (oral)19
    • Sekundärtherapie: Deferipron (oral).20

Behandlung von kardialen Komplikationen

Behandlung von Splenektomie

  • Indikationen für eine Splenektomie bei Splenomegalie sind:13
    • hoher Transfusionsbedarf (> 200 ml Erythrozyten/kg KG/Jahr)
    • Neutro- und/oder Thrombozytopenie
    • schwerwiegende, lokale Symptomatik durch die Milzgröße
  • Nach Splenektomie besteht ein erhöhtes Risiko für Infektionen und thrombembolische Komplikationen.21

Behandlung einer Endokrinopathie

Behandlung einer Osteoporose

  • Multifaktoriell bedingte Osteoporose bei mehr als 50 % der Patient*innen mit transfusionsbedürftiger Beta-Thalassämie, Beginn ab 3. Lebensjahrzehnt13
  • Evtl. Biphosphonattherapie, bislang allerdings keine klaren Empfehlungen für Dosierung und Dauer13 

Behandlung einer extramedullären Hämatopoese

  • Außerhalb von Leber und Milz ist ein paraspinales Auftreten mit Myelonkompression möglich.
  • Notfallmäßige Behandlung mit Laminektomie, mittelfristig mit Radiatio1

Behandlung thrombembolischer Komplikationen

  • Erhöhtes Risiko für thrombembolische Ereignisse22
  • Ggf. Behandlung und Sekundärprävention von Thrombosen und Embolien
  • Keine systematischen Studien zur Prophylaxe bei Risikopatient*innen13 

Empfehlungen für Patient*innen

  • Begrenzung der Zufuhr eisenhaltiger Nahrungsmittel

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Komplikationen

Verlauf und Prognose

Beta-Thalassämien

  • Thalassaemia minor
    • normale Prognose23
  • Thalassaemia intermedia
    • keine zuverlässigen Daten zur Prognose24
    • klinisch heterogene Gruppe mit dementsprechend unterschiedlicher Prognose25
    • Verlauf und Prognose werden wesentlich bestimmt vom Ausmaß der chronischen Anämie und der Hyperplasie der Erythropoese.3
    • Für die Einschätzung der Prognose sollte die gesamte Krankheitslast  (Endokrinopathie, Knochenerkrankung, Thromboembolien, pulmonale Hypertonie, Leberzirrhose/-karzinom) berücksichtigt werden.26
  • Thalassaemia major
    • Unbehandelte Kinder versterben frühzeitig bis zum 10 Lebensjahr.2
    • Früher verstarben über 50 % der Patient*innen bis zum 35. Lebensjahr.27
    • in den vergangenen Jahren Rückgang der Mortalität28-29
      • bei jüngeren Patient*innen vor allem durch die Stammzelltransplantation
      • bei älteren Patient*innen vor allem durch die bessere Behandlung der Eisenüberladung28
    • erste Transplantationen vor über 30 Jahren mit 5-Jahresüberlebensraten13
      • krankheitsfrei > 80 %
      • gesamt > 90 %

Alpha-Thalassämien

  • Alpha-Thalassämien minima und minor
    • normale Prognose30
  • HbH-Krankheit
    • variable Prognose30
    • Patient*innen können gut an die leichte bis mittelschwere Anämie adaptiert sein, manche aber auch mit deutlich beeinträchtigtem Allgemeinbefinden.1
    • normale Lebenserwartung1
  • Hb-Bart-fetalis-Syndrom
    • schwerste Anämie mit Multiorganversagen1
    • Ohne eine bereits pränatal beginnende Therapie ist die Erkrankung nicht mit dem Leben vereinbar.2

Verlaufskontrolle

  • Bei primär asymptomatischen Patienten Kontrollen des Blutbildes, insbesondere bei im Verlauf auftretenden Anämiesymptomen
  • Patient*innen mit klinisch relevanter, insbesondere transfusionsbedürftiger Thalassämie bedürfen regelmäßiger hämatologischer Verlaufskontrollen.
  • Diese enthalten, in definierten Abständen oder nach Indikation, Kontrollen von:13
    • Blut
      • Blutbild
      • Hämolyseparameter
    • Eisenstoffwechsel
    • Leber
      • Labor
      • Sonografie
      • MRT (Eisengehalt)
    • Herz
      • EKG
      • LZ-EKG
      • Echokardiografie
      • Kardio-MRT (Eisengehalt)
    • endokrinologische Parameter
    • Knochendichtemessung.

Patienteninformationen

Worüber sollten Sie die Patient*innen informieren?

  • Über die Möglichkeiten der genetischen Beratung/pränatalen Diagnostik

Patienteninformationen in Deximed 

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie. Beta Thalassämie, Stand 2012. www.onkopedia.com
  • Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie. Thalassämie. AWMF-Leitlinie Nr. 025-17. S1, Stand 2016. www.awmf.org
  • Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie. Sekundäre Eisenüberladung bei Patienten mit angeborenen Anämien, Diagnostik und Therapie. AWMF-Leitlinie Nr. 025-029. S2k, Stand 2022. www.awmf.org

Literatur

  1. Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie. Thalassämie. AWMF-Leitlinie Nr. 025-017, Stand 2010. www.awmf.org
  2. Kohne E. Hämoglobinopathien. Dtsch Arztebl Int 2011; 108: 532–40. doi:10.3238/arztebl.2011.0532 DOI
  3. Huber A, Ottiger C, Risch L, et al. Thalassämie-Syndrome: Klinik und Diagnose. Schweiz Med Forum 2004; 4: 947–952. doi:10.4414/smf.2004.05311 DOI
  4. Muncie HL, Campbell JS. Alpha and beta thalassemia. Am Fam Physician 2009; 80: 339-44. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  5. Flin J, Harding RM, Boyce AJ, Clegg JB. The population genetics of the haemoglobinopathies. Baillieres Clin Haematol 1998; 11: 1-51. PubMed
  6. Huber A, Ottiger C, Risch L, et al. Hämoglobinopathien: Pathophysiologie und Klassifizierung. Schweiz Med Forum 2004; 4: 895-901. doi:10.4414/smf.2004.05294 DOI
  7. Cario H, Lobitz S. Hämoglobinopathien als Herausforderung der Migrantenmedizin. Monatsschr Kinderheilkd 2018; 166: 968-976. doi:10.1007/s00112-018-0544-9 DOI
  8. Janßen G, Dickerhoff R, Sinha K. Handlungsempfehlung nach der Leitlinie Thalassämie: β-Thalassämie. Monatsschr Kinderheilkd 2013; 161: 345-346. doi:10.1007/s00112-013-2873-z DOI
  9. Kohne E, Kleihauer E. Hämoglobinopathien – eine Langzeitstudie über vier Jahrzehnte. Dtsch Arztebl Int 2010; 107: 65-71. www.aerzteblatt.de
  10. Hartmann K, Kulozik A. Thalassämien. Monatsschr Kinderheilkd 2006; 154: 1090-1097. doi:10.1007/s00112-006-1422-4 DOI
  11. Huber A, Ottiger C, Risch L, et al. Anomale Hämoglobine: Erscheinungsbilder und Abklärung. Schweiz Med Forum 2004; 4: 921-926. doi:10.4414/smf.2004.05301 DOI
  12. Rund D, Rachmilewitz E. Beta-Thalassemia. N Engl J Med 2005; 353: 1135-46. PubMed
  13. Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie. Leitlinie Beta Thalassämie. Stand 2012. www.onkopedia.com
  14. Thompson A, Walters M, Kwiatkowski J, et al. Gene Therapy in Patients with Transfusion-Dependent β-Thalassemia. N Engl J Med 2018; 378: 1479-1493. doi:10.1056/NEJMoa1705342 DOI
  15. Krishnamurti L, Abel S, Maiers M, Flesch S. Availability of unrelated donors for hematopoietic stem cell transplantation for hemoglobinopathies. Bone Marrow Transplant 2003; 31: 547-550. PubMed
  16. Jagannath VA, Fedorowicz Z, Al Hajeri A, Sharma A. Hematopoietic stem cell transplantation for people with ß-thalassaemia major. Cochrane Database of Systematic Reviews 2014, Issue 10. Art. No.: CD008708. DOI: 10.1002/14651858.CD008708.pub3. DOI
  17. Aerzteblatt.de. Beta-Thalassämie: EMA gibt grünes Licht für Gentherapie. Zugriff 14.06.19. www.aerzteblatt.de
  18. Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie. Sekundäre Eisenüberladung bei Patienten mit angeborenen Anämien, Diagnostik und Therapie. AWMF-Leitlinie 025-029. Stand 2022. www.awmf.org
  19. Meerpohl JJ, Antes G, Rücker G, Fleeman N, Motschall E, Niemeyer CM, Bassler D. Deferasirox for managing iron overload in people with thalassaemia. Cochrane Database of Systematic Reviews 2012, Issue 2. Art. No.: CD007476. DOI: 10.1002/14651858.CD007476.pub2. DOI
  20. Fisher SA, Brunskill SJ, Doree C, Chowdhury O, Gooding S, Roberts DJ. Oral deferiprone for iron chelation in people with thalassaemia. Cochrane Database of Systematic Reviews 2013, Issue 8. Art. No.: CD004839. DOI: 10.1002/14651858.CD004839.pub3. DOI
  21. Cappellini MD, Robbiolo L, Bottasso BM, Coppola R, Fiorelli G, Mannucci AP. Venous thromboembolism and hypercoagulability in splenectomized patients with thalassaemia intermedia. Br J Haematol 2000; 111: 467-73. PubMed
  22. Eldor A, Rachmilewitz EA. The hypercoagulable state in thalassemia. Blood 2002; 99: 36-43. PubMed
  23. Advani P. Beta Thalassemia. Medscape, updated: Dec 19, 2018. Zugriff 28.06.19. emedicine.medscape.com
  24. Cario H. Prognose: Wie sind die Heilungsaussichten für Patienten mit ß-Thalassämie? Kinderblutkrankheiten.de. Zugriff 28.06.19. www.kinderblutkrankheiten.de
  25. Chien M. Thalassemia intermedia. Medscape, updated Dec 24, 2018. Zugriff 28.06.19. emedicine.medscape.com
  26. Vitrano A, Calvaruso G, Lai E, et al. The era of comparable life expectancy between thalassaemia major and intermedia: Is it time to revisit the major‐intermedia dichotomy?. BJH 2017; 176: 124-130. pmid:27748513 PubMed
  27. Modell B, Khan M, Darlison M. Survival in beta-thalassaemia major in the UK: data from the UK Thalassaemia Register. Lancet 2000; 355: 2051-2. PubMed
  28. Modell B, Khan M, Darlison M, et al. Improved survival of thalassaemia major in the UK and relation to T2* cardiovascular magnetic resonance. Journal of Cardiovascular Magnetic Resonance 2008; 10: 42. doi:10.1186/1532-429X-10-42 DOI
  29. Borgna-Pignatti C, Rugolotto S, De Stefano P, et al. Survival and complications in patients with thalassemia major treated with transfusion and deferoxamine. Haematologica 2004; 89: 1187-93. PubMed
  30. Cheerva A. Alpha Thalassemia. Medscape, updated Oct 16, 2018. Zugriff 28.06.19. emedicine.medscape.com

Autor*innen

  • Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

Links

Autoren

Ehemalige Autoren

Updates

Gallery

Snomed

Click to edit