Zusammenfassung
- Definition:Veränderungen der Netzhaut, die durch eine Hypertonie hervorgerufen werden.
- Häufigkeit:Leichte Veränderungen häufig, schwere Veränderungen < 2 %.
- Symptome:Die meisten hypertensiven Patienten sind asymptomatisch. Bei klinischer Manifestation zumeist allmähliche Verschlechterung des Visus.
- Befunde:Bei Erkrankungsbeginn zeigt sich eine generalisierte Verengung der retinalen Arteriolen. Bei schwerer Ausprägung Hämorrhagien, Exsudate und „Cotton wool“-Herde, schließlich Papillenödem.
- Diagnostik:Diagnosestellung durch Augenspiegelung (Funduskopie).
- Therapie:Antihypertensive Therapie.
Allgemeine Informationen
Definition
- Veränderungen der Netzhautgefäße, die durch eine arterielle Hypertonie hervorgerufen werden.
Häufigkeit
- Es gibt wenige zuverlässige epidemiologische Daten.1
- Die Prävalenz in Populationsstudien bei 2–14 % der nichtdiabetischen Bevölkerung liegt bei > 40 Jahre.2
- Initiale Veränderungen bei bis zu > 80 % der hypertensiven Patienten3
- Ausgeprägte Veränderungen Grad III–IV < 2 %4
Ätiologie und Pathogenese
Ätiologie
- Arterielle Hypertonie
- essenzielle Hypertonie (ca. 90 %): keine eindeutige Ätiologie
- sekundäre Hypertonie (ca. 10 %): Spezifische Grunderkrankungen, die zur Hypertonie führen.
Pathogenese
- Stadienhafte Entwicklung mikrovaskulärer retinaler Veränderungen2
- initial erhöhter Gefäßtonus der retinalen Gefäße als Reaktion auf den Blutdruckanstieg mit generalisierter Verengung der Arteriolen
- Im weiteren Verlauf entstehen chronische atherosklerotische Veränderungen:
- Intimaverdickung
- Mediawandhyperplasie
- hyaline Degeneration.
- Bei dauerhaft deutlich erhöhtem Blutdruck wird die Gefäßschranke geschädigt mit:
- Hämorrhagien
- Exsudaten
- ischämiebedingten Schädigungen von Nervenfasern („Cotton wool“-Herde).
- schließlich Papillenödem durch erhöhten intrakraniellen Druck und begleitende Ischämie des Sehnervs
ICPC-2
- F83 Retinopathie
- K87 Art. Hypertonie, kompliziert
ICD-10
- H35 Sonstige Affektionen der Netzhaut
- H35.0 Retinopathien des Augenhintergrundes und Veränderungen der Netzhautgefäße
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Nachweis spezifischer retinaler Gefäßveränderungen durch augenärztliche Funduskopie
Klassifikation
- Für die Retinopathie gibt es verschiedene Klassifikationen, häufig verwendet wird die Klassifikation nach Keith, Wagner und Barker:1
- Grad I: leichte generalisierte Verengung der Arteriolen oder Sklerose
- Grad II: fokale Verengungen, arteriovenöse Kreuzungszeichen, mäßige bis starke Sklerose der Arteriolen
- Grad III: Hämorrhagien, Exsudate und „Cotton wool“-Herde; Sklerose und spastische Läsionen der Arteriolen
- Grad IV: Befunde wie bei Grad III in schwerer Ausprägung und Papillenödem.
Differenzialdiagnosen
- Andere Netzhautveränderungen mit Sehschwäche und Erblindung
- Diabetische Retinopathie
- Retinale Gefäßverschlüsse
- Retinitis
- Netzhautablösung
- Makuladegeneration
Anamnese
- Über lange Zeit treten keine Symptome auf.
- Im weiteren Verlauf entwickelt sich eine Sehschwäche.
Klinische Untersuchung
- Funduskopie (Spiegelung des Augenhintergrundes) durch den Augenarzt
- Durchführung der Funduskopie nach Gabe pupillenerweiternder Tropfen
- verminderte Sehschärfe für einige Stunden (keine Teilnahme am Straßenverkehr!)
- Glaukomanfall als seltene Nebenwirkung bei prädisponierten Patienten
Untersuchungen in der Hausarztpraxis
- Diagnosestellung und Klassifikation der arteriellen Hypertonie
Indikationen zur Überweisung
- Kein allgemeiner Konsens über Indikationsstellung zur Funduskopie im Rahmen der Hypertonieabklärung und -behandlung5
- Entscheidung durch den Hausarzt über die Notwendigkeit einer weitergehenden Diagnostik in Abhängigkeit vom Grad der Hypertonie, den klinischen Hinweisen für Endorganschäden und der Sicherheit der Diagnose arterielle Hypertonie
- Bei Hypertonie Grad 2–3 und Hypertonikern mit Diabetes mellitus wird eine Fundoskopie zur Feststellung und Graduierung einer Retinopathie empfohlen.6
- für die Erkennung und Verlaufsbeurteilung früher hypertensiver Schädigungen Fundoskopie eher nicht geeignet:
- Im Einzelfall kann aber bei uneindeutiger Situation eine ophtalmologische Untersuchung zusätzliche Hinweise auf einen Hypertonus geben, z. B. bei:
- grenzwertiger Hypertonie
- inkonsistenten Blutdruckmessungen
- Weißkittelhypertonie/maskierter Hypertonie.
Schwangerschaftsinduzierte Hypertonie
- 40–100 % der Patientinnen mit schwangerschaftsinduzierter Hypertonie weisen Zeichen der hypertensiven Retinopathie auf.9
- Symptome (verschwommenes Sehen, Photopsien, Gesichtsfeldausfälle) allerdings nur bei 25–50 %9
- Retinale Veränderungen korrelieren mit der Schwere der schwangerschaftsinduzierten Hypertonie:9
- Bei Prä-/Eklampsie liegen dementsprechend die schwersten Veränderungen vor bis zur Netzhautablösung.
Indikation zur Krankenhauseinweisung – hypertensiver Notfall
- Bei einem hypertensiven Notfall besteht eine Hypertonie Grad 3 (systolisch ≥ 180 und/oder diastolisch ≥ 110–120 mmHg) in Verbindung mit einem – möglicherweise lebensbedrohlichen – hypertoniebedingtem Organschaden und Notwendigkeit zur sofortigen blutdrucksenkenden Therapie.6
- Eine stationäre Einweisung ist erforderlich.
- Im Rahmen der Diagnostik und Behandlung eines hypertensiven Notfalls sollte eine Funduskopie durchgeführt werden.6
- Valides Instrument zur Diagnosestellung einer hypertensiven Enzephalopathie7
- Netzhauteinblutungen und/oder Papillenödem als typische Befunde
Therapieziel
- Progression der hypertensiven Retinopathie vermeiden oder verlangsamen.
Allgemeines zur Therapie
- Leitliniengerechte Therapie der arteriellen Hypertonie6,10
- Schwangerschaft: Bei schweren Veränderungen an der Netzhaut wird eine Entbindung bei ausreichender Kindsreife empfohlen.9
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Komplikationen
- Einblutungen, Sehstörung und Erblindung
- Erhöhtes Komplikationsrisiko bei Operationen am Auge
Verlauf und Prognose
- Die Mehrzahl der Patienten ist asymptomatisch.
- Bei unbehandelter Hypertonie kann die Erkrankung zu einer progredienten Sehschwäche führen.
- Die frühe Erkennung von hypertensiven Endorganschäden bietet die Möglichkeit zur adäquaten Behandlung, wenn die Organschäden noch in einem reversiblen Stadium sind.7
- Risikostratifizierung
- Es gibt eine Beziehung zwischen einer hypertensiven Retinopathie und dem Schlaganfallrisiko.11-12
- Schwere retinale Veränderungen sind mit einer erhöhten Mortalität verbunden.6
- Der prognostische Wert von initialen Veränderungen (Grad I–II) ist hingegen gering.1,6
Verlaufskontrolle
- Verlaufskontrollen bei manifester hypertensiver Retinopathie sollten gemäß der Deutschen Ophtalmologischen Gesellschaft in folgenden Intervallen erfolgen:13
- Stadium I oder II: ca. 1 x jährlich
- Stadium III oder IV: engmaschige Kontrollen je nach allgemeinem und augenärztlichem Befund
- bei Schwangerschaftsgestose: kurzfristige Kontrollen je nach allgemeinem und augenärztlichem Befund
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Leitlinien
- Deutsche Ophtalmologische Gesellschaft. Fundus hypertonicus. Stand 2011. www.dog.org
- Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Hausärztliche Risikoberatung zur kardiovaskulären Prävention. Stand 2016. AWMF-Nr. 053-024. S3, Stand 2016. www.awmf.org
- European Society of Cardiology. Guidelines for the management of arterial hypertension. Stand 2018. www.escardio.org
Literatur
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- Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Hausärztliche Risikoberatung zur kardiovaskulären Prävention. Stand 2016. AWMF-Nr. 053-024. www.awmf.org
- Henderson A, Bruce B, Newman N, et al. Hypertension-related eye abnormalities and the risk of stroke. Rev Neurol Dis 2011; 8: 1-9. pmid:21769065 PubMed
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- Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft. Fundus hypertonicus. Stand 2011. www.dog.org
Autoren
- Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin. Freiburg i. Br.
- Johan H. Seland, professor emeritus, Universitetet i Bergen