Zusammenfassung
- Definition:Lebensbedrohliche Komplikation des Diabetes mellitus (insbesondere Typ 2) mit Hyperglykämie, Hyperosmolarität und Dehydrierung. In Abgrenzung zur diabetischen Ketoazidose (DKA) jedoch ohne Ketoazidose.
- Häufigkeit:Gehäuft bei älteren Patient*innen mit Typ-2-Diabetes. Insgesamt aber selten, weniger als 1 % aller diabetesbedingten stationären Einweisungen.
- Symptome:Polyurie, Polydipsie, Schwäche, Sehstörungen, kognitive Einschränkungen, z. B. Konzentrationsschwierigkeiten.
- Befunde:Exsikkose, Hypotonie, Tachykardie, Bewusstseinseintrübung bis Koma, Nierenversagen, fokale oder generalisierte Krampfanfälle.
- Diagnostik:Diagnostische Kriterien sind Plasma-Glukose > 600 mg/dl, Osmolalität > 320 mosm/kg und Abwesenheit einer Ketoazidose.
- Therapie:Intensivmedizinische stationäre Therapie. Intravenöse Rehydrierung erste und wichtigste Maßnahme. Zudem Ausgleich von Elektrolytstörungen, ggf. Insulingabe und Diagnostik und Therapie von auslösenden Ursachen.
Allgemeine Informationen
Definition
- Obsoletes Synonym: hyperosmolares hyperglykämisches nicht-ketotisches Koma1
- Koma tritt nur bei < 20 % der Betroffenen auf, daher wurde die Bezeichnung geändert.
- Abkürzung für hyperglykämisches hyperosmolares Syndrom: HHS
- Lebensbedrohliche Komplikation des Diabetes mellitus, vor allem beim Typ 22
- Charakterisiert durch Hyperglykämie, Hyperosmolarität und Dehydrierung; in Abgrenzung zur diabetischen Ketoazidose (DKA) jedoch ohne Ketoazidose1
Häufigkeit
- Weniger als 1 % aller diabetesbedingten Einweisungen sind auf HHS zurückzuführen.3
- Durchschnittliches Alter: 60 Jahre1
- bei Kindern mit Diabetes sehr selten4
- Typisch für HHS: ältere Patient*innen mit Typ-2-Diabetes5
- typisch für DKA: jüngere Patient*innen mit Typ-1-Diabetes
Ätiologie und Pathogenese
- Ursächlich für HHS sind Insulinmangel und erhöhte blutzuckersteigernde Hormone wie Glukagon, Katecholamine und Kortisol.5
- Im Gegensatz zur DKA kein absoluter Insulinmangel, sodass Insulinmenge zwar noch hoch genug ist, um Lipolyse und Ketogenese zu verhindern, aber eine ausgeprägte Hyperglykämie auftreten kann.1
- Häufigster Auslöser der Erkrankung sind Infektionen (50–60 %). Weitere Ursachen:2
- Medikamente, z. B. Thiazide, Betablocker, Glukokortikoide oder atypische Antipsychotika
- kardiovaskuläre Ereignisse wie Schlaganfall oder Herzinfarkt
- Incompliance bezüglich der antidiabetischen Medikation1
- Drogen wie Alkohol oder Kokain.1
- Ab Überschreiten der Nierenschwelle von 180 mg/dl ist keine weitere Reabsorption von Glukose im proximalen Tubulus möglich.1
- Einsetzen osmotischer Diurese mit massivem Flüssigkeitsverlust durch Polyurie
- durch Wasserverlust Anstieg der Serumosmolalität
- Exsikkose und Hyperosmolalität können mentale Störungen verursachen.
Prädisponierende Faktoren
- Typ-2-Diabetes2
- Hohes Alter2
- Nieren- und Herzinsuffizienz1
- Fieberhafte Infekte und andere Stressereignisse für den Körper
- Einnahme von gewissen Medikamenten
ICPC-2
- T89 Diabetes mellitus, primär insulinabhängig
- T90 Diabetes mellitus, insulinunabhängig
ICD-10
- E10.0 Diabetes mellitus, Typ 1: Mit Koma
- E11.0 Diabetes mellitus, Typ 2: Mit Koma
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Kriterien der American Diabetic Association6
- Plasma-Glukose > 600 mg/dl
- effektive Osmolalität > 320 mosm/kg
- Abwesenheit einer Ketoazidose
Differenzialdiagnose
Anamnese
- In der Regel ältere Patient*innen mit (ggf. noch nicht bekanntem) Diabetes mellitus Typ 2
- Oft alleinstehende oder in einer Pflegeeinrichtung lebende Patient*innen, die sich nicht eigenständig um ihre Bedürfnisse und Medikamente kümmern können.
- Meist weitere Vorerkrankungen und Einnahme von Medikamenten, die die Erkrankung aggravieren können, z. B. Diuretika.
- Akute Erkrankung, meist febriler Infekt, als Trigger für HHS
- Im Gegensatz zur DKA entwickeln sich die Symptome schleichend über Tage bis Wochen.
- Geäußerte Beschwerden:5
- Polyurie
- Polydipsie
- Schwäche
- Sehstörungen
- kognitive Einschränkungen, z. B. Konzentrationsschwierigkeiten.
Klinische Untersuchung
- Vitalparameter erheben.1
- Hypotension
- Tachykardie
- Fieber (bei Infekt)
- Anzeichen der Dehydrierung
- meist ausgeprägt
- verminderter Hautturgor
- trockene Schleimhäute
- Neurologische Veränderungen
- Von unauffälliger Neurologie über Verwirrtheit hin zu Krampfanfällen und Koma sind verschiedene Grade möglich.
- Koma in der Regel ab Serumosmolalität > 340 mosm/kg6
Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis
- Blutzucker
- Siehe auch TrainAMed Blutzuckermessung (Uni Freiburg).
Diagnostik in der Klinik
- Serumosmolalität
- > 320 mosm/kg Wasser
- Arterieller Säure-Base-Status
- pH > 7,30
- Ketone?
- Bei HHS per definitionem keine Ketonkörper nachweisbar
- HbA1c
- insbesondere, wenn bislang kein Diabetes bekannt
- Anionenlücke?
- die Hälfte der Patient*innen mit schwacher Anionenlücke (10‒12)6
- Bei Anionenlücke > 12 Differenzialdiagnosen wie Laktatazidose oder Kombination mit DKA in Betracht ziehen.
- Weitere Untersuchungen
- Kreatinin, Harnstoff und Hämatokrit, fast immer erhöht
- Elektrolyte, häufig erniedrigt durch Polyurie
- bei Fieber Blutkulturen
- Urin-Stix und ggf. Urinkultur
- Weitere Untersuchungen nach Bedarf, um auslösende Ursache festzustellen.
- Röntgenthorax
- Bei ausgeprägten neurologischen Auffälligkeiten, insbesondere bei Persistenz nach Einleitung adäquater Therapie des HHS, ggf. Bildgebung vom Schädel
Indikationen zur Klinikeinweisung
- Bei Verdacht auf HHS sofortige stationäre Einweisung
Therapie
Therapieziele
- Überleben der Patient*innen
- Verhindern von Komplikationen, u. a. durch Bewusstseinsstörungen oder Elektrolytentgleisungen
Allgemeines zur Therapie
- Erfordert Überwachung auf der Intensivstation.7
- Behandlung fußt auf 4 Ansätzen:6
- intravenöse Rehydrierung
- Ausgleich von Elektrolytstörungen
- Insulingabe
- Diagnostik und Therapie von auslösenden Ursachen.
Intravenöse Rehydrierung
- Erste und wichtigste Maßnahme der Behandlung6
- Flüssigkeitsdefizit meist 100–200 ml pro kg Körpergewicht
- initial Gabe von etwa 1 Liter 0,9 % Kochsalz-Lösung pro Stunde
- Cave: Volumenmanagement bei Herz- und Niereninsuffizienz!
Ausgleich von Elektrolytstörungen
- Elektrolyte sollten initial alle 1–2 Stunden kontrolliert werden.6
- Meist durch Polyurie ausgeprägte Elektrolytdefizite
- Insbesondere Kalium und Natrium überwachen.
- Durch simultane Insulingabe ist die Aufnahme von Kalium in Zellen mit resultierender Hypokaliämie möglich.
- Kontinuierliches EKG-Monitoring empfohlen, um Herzrhythmusstörungen sofort zu erkennen.6
- Natrium-Konzentration sollte nicht mehr als 180 mg/dl (10 mmol/l) in 24 h verändert werden (Gefahr zentraler pontiner Myelinolyse bei zu schnellem Ausgleich einer Hyponatriämie).7
- Insbesondere Kalium und Natrium überwachen.
Insulingabe
- Deutsche Leitlinie empfiehlt zunächst keine Insulingabe, da Volumenersatz mit 0,9 % Kochsalzlösung in der Regel bereits zu Blutzuckersenkung führt.7
- Blutzucker sollte nicht mehr als 90 mg/dl (5 mmol/l) pro h fallen.
- Fällt Blutzucker nicht mehr durch i. v. Flüssigkeitsgabe oder wenn Ketonämie > 18 mg/dl (1 mmol/l) vorliegt, soll mit einer 0,05 IE/kg/h Insulininfusion begonnen werden.
- Eine amerikanische Leitlinie empfiehlt Insulintherapie. Beginn jedoch erst nach Flüssigkeitsgabe, da sonst Hypotension aggraviert werden kann.6
- Mögliches i. v. Schema für Erwachsene nach amerikanischer Leitlinie:6
- 0,1 Einheiten pro kg Körpergewicht als initialer Bolus
- Anschließend kontinuierliche Infusion von 0,1 Einheiten pro kg Körpergewicht pro Stunde, bis der Blutzuckerspiegel zwischen 250–300 mg/dl liegt.
- Sobald Patient*in bewusstseinsklar ist und essen kann, Umstellung auf subkutane Insulingabe mit lang- und kurzwirksamen Insulinpräparaten.1
Diagnostik und Therapie von auslösenden Ursachen
- Bei Infektzeichen Fokussuche und kalkulierte antibiotische Therapie
- Überprüfung der Medikation und Absetzen von Medikamenten, die das Krankheitsbild auslösen oder aggravieren können.
Prävention
- Schulung von Patient*innen mit Diabetes mellitus
- selbstständige Kontrolle der Blutzuckerwerte
- Anpassung der Dosierung in Stresssituationen
- Frühzeitig ärztliche Hilfe suchen bei entgleisten Blutzuckerwerten.
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
- HHS entwickelt sich häufig über Tage bis Wochen.
Komplikationen
- Ausgeprägte Exsikkose
- Hypoglykämie durch zu schnelle und nicht ausreichend kontrollierte Blutzuckersenkung
- Thrombembolische Ereignisse
- Rhabdomyolyse mit akutem Nierenversagen5
- Trias aus Myalgie, Schwäche und dunklem Urin
- Elektrolytstörungen, insbesondere Hypokaliämie durch Insulingabe
- Herzrhythmusstörungen
- Zentrale pontine Myelinolyse bei zu schneller Anhebung des Natriums6
- Hirnödem bei zu schneller Senkung des Blutzuckers2
Prognose
- Sterblichkeit 5–16 % und somit deutlich höher als bei DKA5
- Alter, Grad der Dehydrierung, hämodynamische Instabilität, auslösende Ursache des HHS und Grad der Bewusstlosigkeit Prädiktoren für letalen Ausgang.8-9
Patienteninformationen
Worüber sollten Sie die Patient*innen informieren?
- Sorgfältige Einhaltung der Behandlungsanweisungen und regelmäßige Blutzuckerkontrolle, insbesondere bei Stresssituationen und Einnahme von neuen Medikamenten mit Einfluss auf Blutzucker.
Patienteninformationen in Deximed
Video
- TrainAMed Blutzuckermessung (Universität Freiburg)
Quellen
Leitlinie
- Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG). Therapie des Typ-1-Diabetes. AWMF-Leitlinie Nr. 057-013. S3, Stand 2018. www.awmf.org
Literatur
- Avichal D. Hyperosmolar Hyperglycemic State. Medscape, last updated Jan 05, 2021. emedicine.medscape.com
- Adeyinka A, Kondamudi NP. Hyperosmolar Hyperglycemic Nonketotic Coma. StatPearls 2021. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Pasquel FJ, Umpierrez GE. Hyperosmolar Hyperglycemic State: A Historic Review of the Clinical Presentation, Diagnosis, and Treatment. Diabetes Care 2014; 37(11): 3124-3131. care.diabetesjournals.org
- Agrawal S, Baird GL, Quintos JB, et al. Pediatric Diabetic Ketoacidosis With Hyperosmolarity: Clinical Characteristics and Outcomes. Endocr Pract 2018; 24(8): 726-32. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Fayfman Maya, Pasquel FJ, Umpierrez PE. Management of Hyperglycemic Crises: Diabetic ketoacidosis and hyperglycemic hyperosmolar state. Med Clin North Am 2017; 101(3): 587-606. www.ncbi.nlm.nih.gov
- Stoner GD. Hyperosmolar Hyperglycemic State. Am Fam Physician 2017; 96(11): 729-36. www.aafp.org
- Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG). Therapie des Diabetes mellitus Typ 1, Stand 2018. AWMF-Leitlinie Nr. 057-013, www.awmf.org
- MacIsaac RJ, Lee LY, McNeil KJ, Tsalamandris C, Jerums G. Influence of age on the presentation and outcome of acidotic and hyperosmolar diabetic emergencies. Intern Med J 2002; 32: 379-85. PubMed
- Ting JY. Hyperosmolar diabetic non-ketotic coma, hyperkalaemia and an unusual near death experience. Eur J Emerg Med 2001; 8: 57-63. PubMed
Autor*innen
- Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Frankfurt a. M.
- Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).