Zusammenfassung
- Definition:Angeborene Anomalie des Herzens, bei der die Aortenklappe lediglich aus 2 statt der üblichen 3 Taschen besteht.
- Häufigkeit:Die Prävalenz beträgt ca. 1–2 %.
- Symptome:Eine bikuspide Aortenklappe verursacht zunächst keine Symptome, im weiteren Verlauf evtl. Symptome einer Aortenklappenstenose und/oder -insuffizienz.
- Befunde:Auskultatorisch durch bikuspide Klappe Ejektionsklick und systolisches Austreibungsgeräusch; ggf. klinische Befunde einer höhergradigen Aortenklappenstenose und/oder -insuffizienz.
- Diagnostik:Diagnosestellung erfolgt durch Echokardiografie. Neben Erfassung und Quantifizierung eines Klappenvitiums ermöglicht diese auch den Nachweis einer häufig assoziierten Dilatation der A. ascendens.
- Therapie:Bei symptomatischem Vitium Klappenersatz, Ersatz der A. ascendens bei Aneurysma.
Allgemeine Informationen
Definition
- Angeborene Anomalie des Herzens, bei der die Aortenklappe lediglich aus 2 statt der üblichen 3 Taschen besteht.
- In ca. 80 % der Fälle Fusion von rechts- und linkskoronarer Tasche, in ca. 20 % Fusion von rechts- und akoronarer Tasche1
Häufigkeit
- Häufigste angeborene Herzfehlbildung
- Betroffen sind ca. 1–2 % der Bevölkerung2
- In Deutschland sind gegenwärtig zwischen 800.000 und 1.600.000 Menschen betroffen.3
- Verhältnis Männer zu Frauen ca. 3:14-5
- Die Inzidenz bei Patienten mit operationspflichtigen Aortenklappenvitien liegt bei ca. 30 %.3
Ätiologie und Pathogenese
Ätiologie
- Ausbildung des Defekts erfolgt bereits in der Embryogenese.2
- Meist sind ursprünglich noch 3 Sinus und Kommissuren angelegt, 2 der 3 Taschen bleiben im weiteren Verlauf der Entwicklung miteinander verschmolzen.6
- Genetische Faktoren
- Es wurden verschiedene Genmutationen festgestellt, die mit bikuspiden Aortenklappen assoziiert sind.2
- Bikuspide Aortenklappen können familiär gehäuft auftreten mit autosomal-dominantem Erbgang.7-9
- Vorkommen auch bei genetischen Syndromen wie z. B. Turner-Syndrom8
- Bei ca. 20 % der Fälle ist die bikuspide Aortenklappe mit weiteren Herzfehlern vergesellschaftet, z. B. Aortenisthmusstenose oder persistierender Ductus arteriosus5
Pathogenese
- Nur bei 20 % der Individuen mit bikuspider Aortenklappe bleibt die Klappenfunktion lebenslang normal.3
- Die Mehrheit der Patienten entwickelt bis zum 70. Lebensjahr valvuläre oder vaskuläre Komplikationen.3
- Am häufigsten entwickeln sich eine Aortenklappenstenose und eine Aortenklappeninsuffizienz.
- Die Flussdynamik durch die veränderte Klappe führt zu einer Verdickung und schließlich Verkalkung der Klappentaschen.5
- Aortenklappenstenosen entstehen bei ca. 70 % der Patienten mit einem Gipfel der Manifestation in der 5. und 6. Dekade.5
- Die seltenere höhergradige Aortenklappeninsuffizienz wird meist jenseits des 50. Lebensjahrs symptomatisch.6
- Es besteht aber auch ein erhöhtes Risiko für Aortenaneurysmen und Aortendissektionen.10
- Ca. 25–50 % der Patienten entwickeln eine Dilatation der Aorta ascendens11-12
- Für die Entwicklung des Aneurysmas spielen nicht nur genetische Faktoren, sondern auch das veränderte Auftreffen des Blutstroms auf die Aortenwand eine Rolle.13
- Eine Erweiterung der Aorta kann bereits auftreten, wenn noch kein höhergradiges Vitium vorliegt.14
- Das Endokarditis-Risiko ist erhöht (intermediäres Risiko).15
Prädisponierende Faktoren
- Andere bekannte Fälle innerhalb der Familie
ICPC-2
- K83 Herzklappenerkrankung NNB
ICD-10
- Q23.1 Bikuspidale Aortenklappe
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Die Diagnose erfolgt ganz überwiegend durch Echokardiografie.
Differenzialdiagnosen
- Andere Ursachen für eine Aortenklappenstenose und/oder Aortenklappeninsuffizienz:
- degenerativ
- rheumatisch
- infektiöse Endokarditis.
- Andere Ursachen für Aortenaneurysma/-dissektion
- hypertensiv
- Bindegewebserkrankungen.
Anamnese
- Meistens lange asymptomatisch
- Bei Entwicklung einer hochgradigen Aortenklappenstenose klassische Symptomtrias:
- Symptome bei Aortenklappeninsuffizienz:
- Dyspnoe
- Leistungsintoleranz, schnelle Ermüdbarkeit
- Angina pectoris
- Palpitationen.
Klinische Untersuchung – Auskultation
- Typisch bei bikuspider Aortenklappe ist ein systolischer Ejektionsklick kombiniert mit einem systolischen Austreibungsgeräusch.
- Im Verlauf ggf. klinische Befunde eines höhergradigen Vitiums; zu Details siehe auch die Artikel Aortenklappenstenose, Aortenklappeninsuffizienz und Herzgeräusche bei Erwachsenen.
Auskultationsbefund einer Aortenklappenstenose
- Systolisches Crescendo-Decrescendo-Geräusch
- Punctum maximum links parasternal (Erb) oder 2. ICR rechts parasternal
- Fortleitung des Geräusches in die Karotiden
- Lautstärke des Geräuschs korreliert nicht mit dem Schweregrad der Stenose.16
- Abgeschwächter 2. Herzton
- evtl. paradox gespaltener 2. Herzton durch verzögerten Schluss der Aortenklappe
- 4. Herzton: Ausdruck des betonten enddiastolischen Einstroms durch starke atriale Kontraktion
Auskultationsbefund einer Aortenklappeninsuffizienz
- Hochfrequentes diastolisches Decrescendo-Herzgeräusch („hauchend oder gießend“)
- Punctum maximum 2. ICR rechts („Aorta“) oder 3. ICR links („Erb“)
- Manchmal apikal mitt- und spätdiastolisches Rumpeln („Austin-Flint-Geräusch“) durch den Aufprall des Insuffizienzjets auf das vordere Mitralsegel
- Häufig auch Systolikum über Erb und Aorta auskultierbar durch die systolische Flussbeschleunigung aufgrund des erhöhten Schlagvolumens (DD Aortenklappenstenose)
Klinische Untersuchung – Palpation
- „Pulsus parvus et tardus“ bei Aortenklappenstenose
- verminderte Pulsamplitude
- verzögerter Anstieg des Pulses
- Die Palpation des Pulses ist eine einfache, aber diagnostisch wertvolle Methode: Ein normaler Pulsanstieg mit normaler Amplitude schließt eine hochgradige Aortenklappenstenose weitgehend aus.
- „Pulsus celer et altus“ bei Aortenklappeninsuffizienz
- Puls mit hoher Amplitide („Wasserhammerpuls“)
- Sinustachykardie
Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis
EKG
- Veränderungen erst, wenn sich ein relevantes Vitium entwickelt hat:
- Linksabweichung der elektrischen Herzachse
- Zeichen der LV-Hypertrophie (positiver Sokolow-Lyon-Index, siehe auch Checkliste EKG)
- Endstreckenveränderungen (ST-Senkungen, T-Negativierungen) (siehe auch Veränderungen von P-Welle, QRS-Komplex und ST-T-Segment)
Rö-Thorax
- Veränderungen erst, wenn sich ein relevantes Vitium und/oder eine Aortendilatation entwickelt hat:
- Nachweis von Kalzifikationen im Bereich von Aortenklappenring/-klappe
- Vergrößerung des linken Ventrikels (bei Aortenklappeninsuffizienz)
- Zeichen der Lungenstauung
- Dilatation der Aorta ascendens
Labor
- NT-proBNP bzw. BNP als Marker der Herzinsuffizienz
Diagnostik beim Spezialisten
Echokardiografie
- Die Echokardiografie kann eine bikuspide Aortenklappe mit hoher Zuverlässigkeit nachweisen und ist der Goldstandard in der Bildgebung.17
- 2D-Echokardiografie
- morphologische Beurteilung der Klappe
- Feststellung der Bikuspidie (selten können auch uni- oder quadrikuspide Klappen vorkommen)
- Verdickungen, Kalzifikationen der Klappe
- Durchmesser der A. ascendens
- Doppler-/Farbdopplerechokardiografie
- Quantifizierung einer Aortenklappenstenose
- Darstellung und Quantifizierung einer Aortenklappeninsuffizienz
- Transösophageale Echokardiografie (2D und 3D)
- routinemäßig nicht erforderlich, im Einzelfall zur detaillierten und ggf. räumlichen Darstellung der Strukturen von Klappenapparat und throrakaler Aorta
- Nachweis einer Aortendissektion bei entsprechendem klinischem Verdacht (Methode der Wahl hierfür ist aber CT)
MRT oder CT Thorax
- Für die Diagnostik einer bikuspiden Klappe und Quantifizierung eines Vitiums im Vergleich zur Echokardiografie von untergeordneter Bedeutung
- Wichtig für die Darstellung der thorakalen Aorta und Quantifizierung eines Aortenaneurysmas
- Diagnosestellung bei V. a. Aortendissektion
- Präoperative Erfassung von Kalzifikationen der Aorta mittels CT
- Vor kathetergestützten Aortenklappenimplantationen (TAVI) CT-gestützte Ausmessung des Klappenrings
Screening
- Ein Screening auf Erweiterung der A. ascendens kann erwogen werden bei Angehörigen 1. Grades von Patienten mit bikuspider Aortenklappe.18
Indikationen zur Überweisung
- Bei Herzgeräusch und klinischem V. a. auf relevantes Vitium
- Bei Patienten mit bekannter bikuspider Aortenklappe sollte echokardiografisch der Durchmesser der Aortenwurzel und der aszendierenden Aorta bestimmt werden.18
Therapie
Therapieziele
- Die Prognose bei höhergradigem Klappenvitium und/oder Aortenaneurysma verbessern.
- Komplikationen (z. B. kardiale Dekompensation/Aortendissektion) vermeiden.
Allgemeines zur Therapie
- Eine bikuspide Aortenklappe ist per se keine OP-Indikation.
- Bei symptomatischen Vitien besteht die Indikation zu Klappenersatz oder -rekonstruktion.
- Desweiteren ergibt sich eine OP-Indikation bei Aneurysma der A. ascendens, wobei der Cut-off für die Indikation zum Ascendensersatz durch das Vorliegen einer bikuspiden Aortenklappe beeinflusst wird (s. u.).
Medikamentöse Therapie
- Die medikamentöse Behandlung einer Aortenklappenstenose ist rein symptomorientiert, d. h. ggf. Therapie einer Herzinsuffizienz entsprechend den aktuellen Leitlinien.19
- Bei Aortenklappeninsuffizienz beruht die medikamentöse Therapie auf Nachlastreduktion und dadurch Verminderung des Regurgitationsvolumens
- Verwendet werden vor allem Ca-Antagonisten (Dihydropyridine) und ACE-Hemmer.
- Bei Patienten mit bikuspider Aortenklappe und Dilatation der A. ascendens werden üblicherweise Betablocker und/oder Losartan verabreicht (allerdings keine eindeutige Evidenz).20
Operative Therapie
Klappenersatz
- Die Indikation zum Klappenersatz ergibt sich aus den Leitlinien für das Management von Klappenerkrankungen.20
- Siehe hierzu auch die Artikel Aortenklappenstenose und Aortenklappeninsuffizienz.
- Neben dem operativen Klappenersatz ist neuerdings auch der kathetergestützte Klappenersatz (TAVI) eine Option.21
Rekonstruktion der Klappe
- Bei Patienten mit dominierender Aortenklappeninsuffizienz kann bei einem Teil der Patienten eine Rekonstruktion der Klappe durchgeführt werden, ggf. kombiniert mit Aortenersatz.22-24
Ersatz der Aorta ascendes bei Aortenaneurysma
- Neuere Daten weisen darauf hin, dass auch Parameter wie Dicke, Steifheit und Wandstress der Aorta für die Risikostratifikation Bedeutung haben, derzeit beruht die Entscheidung zur OP aber überwiegend auf der Messung des Diameters.25
- Insbesondere bei älteren, komorbiden Patienten mit bikuspider Aortenklappenstenose und erweiterter A. ascendens ist wahrscheinlich auch der isolierte Klappenersatz eine sichere Option.11
- Vom simultanen Aortenersatz profitieren vor allem jüngere Patienten mit niedrigem OP-Risiko und überwiegender Aortenklappeninsuffizienz.11
- Die aktuellen Guidelines stellen folgende Indikationen zur operativen Versorgung eines Aneurysmas der A. ascendens unter spezieller Berücksichtigung auch des Vorliegens einer bikuspiden Klappe:20
Leitlinie: Indikation zur Operation bei Erkrankung der Aortenwurzel20
- Die Operation sollte erwogen werden bei Patienten mit Aortenwurzelerkrankung mit einem maximalen Diameter der Aorta ascendens von (IIa/C):
- ≥ 45 mm bei Marfan-Syndrom und zusätzlichen Risikofaktoren (z. B. familiär gehäufte Dissektionen, Zunahme des Diameters > 3 mm/Jahr)
- ≥ 50 mm bei Vorliegen einer bikuspiden Klappe mit zusätzlichen Risikofaktoren (z. B. familiär gehäufte Dissektionen, Zunahme des Diameters > 3 mm/Jahr)
- ≥ 55 mm für alle anderen Patienten.
- Wenn die Operation primär wegen der Aortenklappe indiziert ist, sollte ein Ersatz der Aortenwurzel oder tubular Aorta ascendens erwogen werden, falls ≥ 45 mm, insbesondere bei Vorliegen einer bikuspiden Klappe (IIa/C).
Endokarditis-Prophylaxe
- Die bikuspide Aortenklappe zählt zu den Veränderungen mit intermediärem Endokarditis-Risiko, hier wird eine antibiotische Endokarditis-Prophylaxe derzeit nicht empfohlen.26
- Patienten sollten auf die Notwendigkeit einer guten Zahnhygiene hingewiesen werden.26
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Komplikationen
- Komplikationen hochgradiger Aortenklappenstenosen und -insuffizienzen
- progrediente Herzinsuffizienz27
- ventrikuläre Arrhythmien, supraventrikuläre Arrhythmien
- Synkopen
- plötzlicher Herztod
- Aortendilatation/Aortendissektion
- In einer retrospektiven Analyse wurde bei bikuspider Aortenklappe eine mittlere Zunahme des Diameters der A. ascendens von 0,4 mm/Jahr gefunden.28
- Das relative Risiko für eine Aortendissektion ist im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung 8-fach erhöht.29
- Eine bikuspide Aortenklappe findet sich bei ca. 7 % der Fälle mit Aortendissektion.14
- Infektiöse Endokarditis
- Patienten mit bikuspider Klappe gehören zur Gruppe mit intermediärem Risiko.26
Verlauf und Prognose
- Die Prognose wird durch im Wesentlichen durch ein hämodynamisch relevantes Vitium und/oder die Erkrankung der thorakalen Aorta bestimmt.
Sporttauglichkeit
- Wettkampfsport
- bei bikuspider Aortenklape ohne relevante Stenose oder Insuffizienz und ohne Dilatation der Aorta (< 40 mm) keine Einschränkungen für Wettkampfsport30
- Bei bikuspider Aortenklappe und Aortendilatation zwischen 40 und 45 mm ist Wettkampfsport bis zu mittleren statischen und dynamischen Belastungen möglich.30
- bei biskuspider Aortenklappe und Aortendilatation > 45 mm nur Wettkampfsportarten mit niedrigen statischen und dynamischen Belastungen (z. B. Golf, Schießen, Billard)30
- Freizeitsport
- Geeignet für Patienten mit bikuspider Aortenklappe und Aortendilatation sind ausdauerorientierte Belastungen mit niedrigen Intensitäten und geringem Krafteinsatz (z. B. moderater Dauerlauf, Radfahren in ebenem Gelände, Nordic-Walking oder Walking).30
Verlaufskontrolle
- Bei relevantem Vitium oder Dilatation der Aorta jährliche Verlaufskontrollen
- Auch bei asymptomatischer bikuspider Aortenklappe sind systematische Verlaufskontrollen in größeren Abständen sinnvoll (z. B. nach 5 Jahren) zur Erfassung eines beginnend relevanten Vitiums oder einer Erweiterung der Aorta.
Patienteninformationen
Worüber sollten Sie die Patienten informieren?
- Die Erkrankung entwickelt sich häufig zu einer behandlungsbedürftigen Herzklappenerkrankung und/oder Erkrankung der Hauptschlagader.
- Wenn Symptome vorliegen, sind regelmäßige Kontrolluntersuchungen erforderlich, um die Notwendigkeit einer Intervention zu evaluieren.
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Leitlinien
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Autoren
- Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.
- Ingard Løge, spesialist allmennmedisin, universitetslektor, institutt for sammfunsmedisinske fag, NTNU, redaktør NEL