Kompartmentsyndrom, orbitales

Zusammenfassung

  • Definition:Druckanstieg intraorbital mit Komprimierung der Nerven und Gefäße.
  • Häufigkeit:Sehr selten.
  • Symptome:Leitsymptom ist Visusverlust, Schmerzen, Schwellungen.
  • Befunde:Lidschwellung, Chemosis, Exopthalmus.
  • Diagnostik:Als ergänzende Untersuchungen kommen ggf. CT oder MRT infrage, meist bleibt dafür nicht genug Zeit.
  • Therapie:Die primäre Therapie ist rasche Druckentlastung durch laterale Kanthotomie oder Kantholyse zum Erhalt der Sehkraft.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Das orbitale Kompartmentsyndrom ist eine Notfallsituation, bei der es zu einem unphysiologisch hohen Druckanstieg innerhalb der Orbita mit Komprimierung der neurovaskulären Versorgung des Auges und Verlust der Sehfähigkeit kommen kann.1-2

Häufigkeit

  • Ein orbitales Kompartmentsyndrom ist sehr selten, aber aufgrund seiner schwerwiegenden Folgen als absoluter Notfall zu betrachten!
  • Nach einer US-amerikanischen Studie kommt es in 2–5 % aller orbitalen Traumata zur Entwicklung eines orbitalen Kompartmentsyndroms.3

Ätiologie und Pathogenese

  • Der häufigste Auslöser eines orbitalen Kompartments stellt eine akute intraorbitale Blutung dar, meist nach direktem Trauma, seltener nach iatrogener Manipulation (z. B. Operation, Lokalanästhesie).4-5
  • Ebenso können entzündliche Prozesse und Tumoren zu einem intraorbitalen Druckanstieg führen.6
  • Durch die engen Lagebeziehungen steigt in der Folge der Druck auf den Nervus opticus sowie die Gefäßversorgung des Auges, was zu Funktionseinschränkungen bis hin zur Erblindung führen kann.5
  • Außerdem kann es zu einer Proptosis, also zum Vorfall des Augapfels führen.
  • Bleibende ischämische Komplikationen sind ab einer Dauer des erhöhten Drucks von 2 Stunden zu erwarten.5

Prädisponierende Faktoren

  • Stumpfes oder penetrierendes Trauma der (Peri-)Orbitalregion
  • Operative Eingriffe
  • Retrobulbäre Anästhesie
  • Antikoagulation4-5

ICPC-2

  • F79 Augenverletzung, andere

ICD-10

  • S05 Verletzung des Auges und der Orbita
    • S05.1 Prellung des Augapfels und des Orbitagewebes
    • S05.2 Rissverletzung und Ruptur des Auges mit Prolaps oder Verlust intraokularen Gewebes
    • S05.3 Rissverletzung des Auges ohne Prolaps oder Verlust intraokularen Gewebes
    • S05.4 Penetrierende Wunde der Orbita mit oder ohne Fremdkörper
    • S05.5 Penetrierende Wunde des Augapfels mit Fremdkörper
    • S05.6 Penetrierende Wunde des Augapfels ohne Fremdkörper
    • S05.8 Sonstige Verletzungen des Auges und der Orbita
    • S05.9 Verletzung des Auges und der Orbita, nicht näher bezeichnet

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Die Diagnose mit dem Leitsymptom „Visusminderung“ nach periorbitalem Trauma oder periorbitaler Infektion sollte klinisch ggf. auch ohne vorangehende Bildgebung erfolgen, um eine rasche Intervention zu ermöglichen und so einem irreversiblen Visusverlust vorzubeugen.1,6
  • Zur Diagnosesicherung kann bei Bedarf eine MRT- oder CT-Untersuchung durchgeführt werden, dafür ist aber meist nicht genügend Zeit vorhanden.

Differenzialdiagnosen

  • Endophthalmitis
  • Bulbusruptur
  • Arteriovenöse Fistel
  • Orbitaphlegmone
  • Sinusthrombose

Anamnese

  • Meist bestehen einseitige Schmerzen und Sehstörungen bis hin zur Erblindung.
  • Ggf. treten Doppelbilder auf.

Klinische Untersuchung

  • Lidschwellung, Chemosis und konjunktivale Enblutungen sind möglich.6
  • In fortgeschritteneren Stadien kann es zu einer Protrusio bulbi kommen.
  • Eingeschränkte Okulomotorik bis hin zur Ophthalmoplegie4
  • Afferente Pupillenstörung, es zeigt sich ipsi- und kontralateral keine Pupillenreaktion auf Lichteinfall.4
  • Stauungspapille, später ggf. blasse Papille

Ergänzende Untersuchungen

  • Eine CT- oder MRT-Untersuchung kann Hinweise auf die Ursache der Druckerhöhung liefern oder die Diagnose bestätigen, ist aber aufgrund des Zeitdrucks im Notfall meist nicht durchführbar.

Indikationen zur Klinikeinweisung

  • Bei Verdacht auf ein orbitales Kompartmentsyndrom sollte eine sofortige Einweisung erfolgen.

Therapie

Therapieziele

  • Druckentlastung und Begrenzung des Sehkraftverlusts

Allgemeines zur Therapie

  • Meist ist eine umgehende chirurgische Intervention notwendig.
  • Bei rascher und richtiger Durchführung des Eingriffs kann die Sehkraft erhalten werden.3-4

Medikamentöse Therapie

Rascher Behandlungsbeginn!

  • Bei milderen Fälle mit nur geringer intraorbitaler Druckerhöhung und erhaltener Sehkraft oder unterstützend vor geplanter OP kann eine medikamentöse Therapie erwogen werden.4,7
    • Antiglaukomatosa wie Betablocker oder auch Carboanhydrasehemmer (z. B. Azetazolamid)
    • systemische Glukokortikoidgabe (z. B. 250 mg Prednisolon als Kurzinfusion) zur Ödemreduktion
    • Um durch Osmose die Flüssigkeitsmenge im Auge zu reduzieren und damit den intraokulären Druck zu senken, empfiehlt sich die intravenöse Gabe von Mannitol.
  • Bei bakteriell-entzündlichen Geschehen erfolgt eine antibiotische Therapie.

Operative Therapie

Kanthotomie

  • Bei einer Kanthotomie wird der laterale Lidwinkel eingeschnitten, um den intraorbitalen Druck entlasten zu können.4
  • Anschließend kann zudem eine Kantholyse notwendig werden, bei der das untere und ggf. auch das obere Lidbändchen gelöst werden, was weitere Druckentlastung ermöglicht.
  • Dieser Eingriff wird meist unter Lokalanästhesie durchgeführt.
  • Bei weiterhin erhöhtem Druck stehen weitere Verfahren wie eine knöcherne Dekompression der Orbita zur Verfügung.5

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Je nach Ursache kann die intraorbitale Druckerhöhung schnell oder langsam auftreten, eine zügige Diagnosestellung und Therapieeinleitung ist aber in jedem Fall essenziell.

Komplikationen

  • Blutungen, mechanische Schädigung des Augapfels, intraokuläre Infektion

Prognose

  • Das orbitale Kompartmentsyndrom mit beeinträchtigtem Sehvermögen geht mit einer schlechten Prognose einher.
  • Wenn nicht unverzüglich die richtigen Maßnahmen eingeleitet werden, kommt es zur dauerhaften Erblindung.
  • Schon nach 2 Stunden steigt das Risiko für einen dauerhaften Sehverlust deutlich.5

Quellen

Literatur

  1. Voss J, Hartwig S, Doll C, et al. The “tight orbit”: Incidence and management of the orbital compartment syndrome, Journal of Cranio-Maxillo-Facial Surgery (2016). www.ncbi.nlm.nih.gov
  2. Peak DA. Acute orbital compartment syndrome. eMedicine, 2015; www.emedicine.com. emedicine.medscape.com
  3. Magarakis M, Mundinger GS, Kelamis JA, et al. Ocular injury, visual impairment, and blindness associated with facial fractures: a systematic literature review. Plast Reconstr Surg 2012; 129 (01) 227-233. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  4. McCallum E, Keren S, Lapira M, et al. Orbital Compartment Syndrome: An Update With Review Of The Literature. Clin Ophthalmol. 2019 Nov 7;13:2189-2194. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  5. Zogheib S, Sukkarieh G, Mjaess G, et al. Displaced Orbital Fractures with Concurrent Orbital Compartment Syndrome: A Case-Based Systematic Review. Facial Plast Surg. 2022 Jun;38(3):274-278. eref.thieme.de
  6. Adolphs N, Raguse J, Menneking H. Das orbitale Kompartment-Syndrom – ein seltener MKG-Chirurgischer Notfall mit zweifelhafter Prognose. Deutsche Gesellschaft für Chirurgie. 130. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. München, 30.04.-03.05.2013. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2013. www.egms.de
  7. Zorn M, Liekfeld A, Bode-Hofmann M, et al. Trauma der Orbita, Klin Monbl Augenheilkd. 2021 Dec;238(12):1345-1360. eref.thieme.de

Autor*innen

  • Bonnie Stahn, Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin, Hamburg
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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