Idiopathischer Kleinwuchs

Zusammenfassung

  • Definition:Kleinwuchs mit Körperhöhe < 3. Perzentile bei normal großen Eltern, ohne Anhalt für endokrine, metabolische oder andere Ursachen.
  • Häufigkeit:Per definitionem sind 3 % aller Kinder betroffen. Jungen werden öfter aufgrund dieser Problematik überwiesen als Mädchen.
  • Symptome:Kleinwuchs, ohne weitere Krankheitszeichen.
  • Befunde:Die Wachstumskurve dieser Kinder verläuft unterhalb, aber parallel zum Wachstum unauffälliger Kinder.
  • Diagnostik:Ausschlussdiagnose mit unauffälliger körperlicher Untersuchung und Labor.
  • Therapie:Beim idiopathischen Kleinwuchs handelt es sich um eine Normvariante des kindlichen Wachstums. Eine endokrinologische Therapie ist nur beim progredienten Kleinwuchs (Abknicken der Wachstumskurve) indiziert.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Kleinwuchs mit Körperhöhe < 3. Perzentile, dabei Größe der Eltern im Normbereich, ohne Anhalt für endokrine, metabolische oder andere Ursachen1
    • Ausschlussdiagnose
  • Abzugrenzende andere Normvarianten von Kleinwuchs1
    • konstitutionelle Verzögerung von Wachstum und Entwicklung
      • Wachstumsgeschwindigkeit normal bis zum erwarteten Pubertätswachstumsschub, Knochenwachstum verzögert
    • familiärer Kleinwuchs
      • Eltern mit geringer Körperhöhe

Häufigkeit

  • Per definitionem sind 3 % aller Kinder von Kleinwuchs betroffen, die häufigste Ursache ist der idiopathische Kleinwuchs.2
  • Die Problematik niedriger Körpergröße stellt sich häufiger bei Jungen als bei Mädchen.3

Ätiologie und Pathogenese

  • Idiopathischer Kleinwuchs lässt sich nicht auf endokrine, metabolische oder sonstige Diagnosen zurückführen.
  • Die Kinder weisen altersentsprechende Wachstumsraten (oft im unteren Bereich der Perzentilkurve) und keinerlei biochemische oder andere Anzeichen einer spezifischen pathologischen Wachstumshemmung auf.
  • Ebenfalls im Normbereich ist der Serumspiegel des insulinähnlichen Wachstumsfaktors IGF-1 (Insulin-like Growth Factor 1) und des IGF-Bindungsproteins IGFBP-3 sowie die Reaktion der Wachstumshormone auf Medikamente, die die Freisetzung von Wachstumshormonen stimulieren.
  • Die Heterogenität dieser Diagnose lässt darauf schließen, dass es wahrscheinlich verschiedene zugrunde liegende Mechanismen gibt, die für die Wachstumsstörung verantwortlich sind.

Normales Größenwachstum

  • Das Größenwachstum ist ein kontinuierlicher, wenn auch nicht linearer Prozess.4
  • Drei Wachstumsphasen lassen sich unterscheiden:
    1. Infantile Phase
      • Ist durch ein schnelles, jedoch abnehmendes Wachstum in den ersten beiden Lebensjahren gekennzeichnet.
      • Insgesamt beträgt das Wachstum in diesem Zeitraum 30–35 cm.
      • Die Kinder wechseln in dieser Phase oft die Perzentile, da sie ihrem genetischen Potenzial entgegenwachsen und sich von den Beschränkungen der intrauterinen Phase entfernen.
    2. Phase der Kindheit
      • Ist durch eine relativ gleichmäßige Wachstumsrate von 5,7 cm pro Jahr gekennzeichnet.
      • Tendenziell nimmt die Wachstumsrate im Laufe der Kindheit ab.
    3. Phase der Pubertät
      • Ist durch einen Wachstumsschub von 6–14 cm pro Jahr gekennzeichnet, der durch synergistische Effekte der zunehmenden gonadalen Produktion von Steroid- und Wachstumshormonen bewirkt wird.

ICPC-2

  • L82 Angeb. Anomalie muskuloskelet.

ICD-10

  • E34.3 Kleinwuchs, anderenorts nicht klassifiziert

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Idiopathischer Kleinwuchs ist eine Ausschlussdiagnose und bedeutet, dass systemische Erkrankungen wie Wachstumshormonmangel, intrauterine Wachstumsretardierung, genetische Ursachen, Syndrome und andere Faktoren, die das Wachstum beeinflussen, wie Depression oder psychosoziale Deprivation, ausgeschlossen werden können.5-6
  • Die Wachstumskurve dieser Kinder verläuft in der Regel unterhalb, aber parallel zum Wachstum unauffälliger Kinder.

Leitlinie: Kleinwuchs – korrekte Messung der Körperlänge2

  • Die Diagnose Kleinwuchs (< 3. Perzentile) setzt die korrekte Messung der Körperlänge voraus.
    • < 2 Jahre
      • im Liegen in einer Messschale oder mit einem Messstab
      • Das erfordert 2 Personen: Eine hält den Kopf des Kindes in gerader Stellung, während die andere die Beine des Kindes in Streckung bringt, die Füße rechtwinklig anbeugt und die Messung am Fußende ausführt.
    • > 2 Jahre
      • im Stehen mit einem fest an der Wand angebrachten Stadiometer auf festem Untergrund
      • Fersen, Gesäß und Schulter berühren die Wand, die Beine sind durchgestreckt, die Füße berühren in voller Länge den Boden, der Kopf ist gerade ausgerichtet und wird am Kinn vom Untersucher unterstützend gehalten.
  • Die Messwerte sollen zur Beurteilung in aktuelle populationsspezifische und geschlechtsbezogene Perzentilkurven eingetragen werden.

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Körperhöhe der Eltern und Geschwister, Berechnung der familiären Zielgröße2
    • Mittelwert der Körpergrößen beider Elternteile + 6,5 cm für Jungen bzw. – 6,5 cm für Mädchen. 1
  • Pubertätsentwicklung der Eltern und Geschwister
  • Ernährung des Kindes
  • Sozialanamnese und Interaktion von Kind und Eltern2 

Klinische Untersuchung

  • Proportionen passend?
  • Größenmessung und Aufzeichnung von Wachstumskurven
    • Eine einzelne Größenmessung ist weniger wichtig als die Beurteilung der Wachstumskurve über einen längeren Zeitraum.
  • Beim idiopathischen Kleinwuchs kommt es zu keiner Progression des Minderwuchses, d. h. die Wachstumsgeschwindigkeit bleibt konstant.
  • Entwicklung sekundärer Geschlechtsmerkmale1
  • Auffälligkeiten, die auf syndromalen Kleinwuchs, z. B. bei Turner-Syndrom, hinweisen?2

Wachstumskurven

Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Nur notwendig, wenn eines der folgenden Kriterien vorliegt.

Leitlinie: Diagnostik Wachstumshormonmangel7

  • Kinder sollen weiter untersucht werden, wenn
    • a) die Körperhöhe nach anfänglich normalem perzentilparallelem Wachstum unter den Perzentilbereich der Zielgröße abfällt oder
    • b) die Körperhöhe bei fehlenden früheren Wachstumsdaten unterhalb des Perzentilbereichs der Zielgröße liegt und sich bei nachfolgenden Untersuchungen weiter von dem Perzentilbereich der Zielgröße und/oder des zuletzt erreichten Perzentils entfernt oder
    • c) die gemessene Wachstumsgeschwindigkeit unterhalb der 25. Wachstumsgeschwindigkeitsperzentile liegt.
  • Sich anschließende Untersuchungen umfassen Bildgebung und Labordiagnostik.

Bildgebung

  • Bestimmung des Skelettalters nach Greulich/Pyle oder nach Tanner/Whitehouse zum Nachweis einer Reifungsverzögerung gegenüber dem chronologischen Alter.7
    • Vergleicht die Ossifikationszentren in der linken Hand mit Referenzwerten.

Labor

  • Bestimmung folgender Parameter empfohlen:2
  • Vor der Durchführung invasiver und aufwändiger Wachstumshormonstimulationstests soll die Messung der Konzentrationen von Insulin-like Growth Factor-1 (IGF-1) und/oder vor allem im Säuglings- und frühen Kleinkindalter von Insulin-like Growth Factor Binding Protein-3 (IGFBP-3) im Serum oder Plasma erfolgen.7

Indikationen zur Überweisung

  • Überweisung an Kinderendokrinolog*in
    • bei Verdacht auf eine andere Form als den idiopathischen Kleinwuchs oder bei progredientem Kleinwuchs mit Abfall der Wachstumsgeschwindigkeit

Therapie

Therapieziele

  • Bei idiopathischem Kleinwuchs Akzeptanz der verminderten Körperlänge
  • Ggf. erhöhtes Längenwachstum bei progredientem Kleinwuchs

Allgemeines zur Therapie

Leitlinie: Kleinwuchs – Therapie2

  • Im Einzelfall kann eine kinderpsychologische Mitbetreuung eine Hilfestellung für die betroffenen Kinder und deren Eltern darstellen.
    •  Ziele
      • Adaptationsprozess mit dem Merkmal Kleinwuchs unterstützen.
      • Persönliche Ressourcen bei der merkmalsbedingten Stressbewältigung verbessern.
  • Bei progredientem Kleinwuchs, d. h. pathologischem Abfall der Wachstumsgeschwindigkeit, ist eine spezifische Therapie nötig.
  • Bei nachgewiesenem Wachstumshormonmangel erfolgt die Substitution mit rekombinantem Wachstumshormon.
  • Die endokrinologische Therapie des Kleinwuchses sollte von pädiatrischen Endokrinolog*innen durchgeführt werden.

Therapie mit Wachstumshormonen

  • Eine Therapie mit Wachstumshormonen bei Kindern mit idiopathischem Kleinwuchs steigert, soweit bekannt, die Körpergröße im Erwachsenenalter um etwa 3–6 cm.8
    • Erfordert eine langwierige Injektionsbehandlung im Alter von 4–7 Jahren.9-12
    • Dies stellt hohe Anforderungen an die Therapietreue (Compliance) und führt somit ein hohes Risiko für ein Misslingen der Therapie mit sich.5
  • Es gibt individuelle Unterschiede bezüglich der Wachstumsreaktion, und bei einigen Kindern zeigt die Therapie nur geringen oder gar keinen Nutzen.13-14
  • Wird in der Leitlinie nur bei progredientem Kleinwuchs empfohlen.2
  • Ethische Fragestellung: Ist Kleinwuchs eine Krankheit, die behandelt werden sollte?

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Selbsthilfe

  • Bundesverband Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien e. V. (BKMF

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie. Diagnostik des Wachstumshormonmangels im Kindes- und Jugendalter. AWMF-Leitlinie Nr. 174-002. S2e, 2. Revision, Stand 2022. www.awmf.org
  • Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und - diabetologie. Kleinwuchs. AMWF-Leitlinie 174-004. S1, Stand 2016. www.awmf.org

Literatur

  1. Nitsche EM. Das (zu) kleine oder (zu) große Kind: Abklärung von Wachstumsstörungen. Pädiatrie up2date 2019; 14: 227-60. www.thieme-connect.com
  2. Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie. Kleinwuchs. AWMF-Leitlinie 174-004. Stand 2016. www.awmf.org
  3. Grimberg A, Kutikov JK, Cucchiara AJ. Sex differences in patients referred for evaluation of poor growth. J Pediatr 2005; 146: 212. PubMed
  4. Tanner JM, Whitehouse RH. Clinical longitudinal standards for height, weight, height velocity, weight velocity and stages of puberty. Arch Dis Child 1976; 51(3): 170-9. www.ncbi.nlm.nih.gov
  5. Lee MM. Idiopathic short stature. N Engl J Med 2006; 354: 2576-82. New England Journal of Medicine
  6. Gubitosi-Klug RA, Cuttler L. Idiopathic short stature. Endocrinol Metab Clin North Am 2005; 34: 565-80. PubMed
  7. Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie. Diagnostik des Wachstumshormonmangels im Kindes- und Jugendalter. AWMF-Leitlinie Nr. 174-002. S2e, 2. Revision, Stand 2022. www.awmf.org
  8. Deodati A, Cianfarani S. Impact of growt hormone therapy on adult height of children with idiopathic short stature: systematic review. BMJ 2011; 342: c7157. BMJ (DOI)
  9. Finkelstein BS, Imperiale TF, Speroff T, Marrero U, Radcliffe DJ, Cuttler L. Effect of growth hormone therapy on height in children with idiopathic short stature: a meta-analysis. Arch Pediatr Adolesc Med 2002; 156: 230-40. PubMed
  10. Leschek EW, Rose SR, Yanovski JA, et al. Effect of growth hormone treatment on adult height in peripubertal children with idiopathic short stature: a randomized, double-blind, placebo-controlled trial. J Clin Endocrinol Metab 2004; 89: 3140-8. PubMed
  11. Wit JM, Rekers-Mombarg LTM, Cutler GB, et al. Growth hormone (GH) treatment to final height in children with idiopathic short stature: evidence for a dose effect. J Pediatr 2005; 146: 45-53. PubMed
  12. Bryant J, Baxter L, Cave CB, Milne R. Recombinant growth hormone for idiopathic short stature in children and adolescents. Cochrane Database of Systematic Reviews 2007, Issue 3. Art. No.: CD004440. DOI: 10.1002/14651858.CD004440.pub2 DOI
  13. Kamp GA, Waelkens JJJ, de Muinck Keizer-Schrama SM, et al. High dose growth hormone treatment induces acceleration of skeletal maturation and an earlier onset of puberty in children with idiopathic short stature. Arch Dis Child 2002; 87: 215-20. PubMed
  14. Kemp SF, Kuntze J, Attie KM, et al. Efficacy and safety results of long-term growth hormone treatment of idiopathic short stature. J Clin Endocrinol Metab 2005; 90: 5247-53. PubMed

Autor*innen

  • Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Münster
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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