Schultereckgelenksprengung

Zusammenfassung

  • Definition:Verletzung des Schultereckgelenks (AC-Gelenk), die abhängig vom Ausmaß der Luxation der Klavikula und der verletzten Bandstrukturen nach Rockwood in 6 Typen eingeteilt wird.
  • Häufigkeit:Häufige Verletzung bei jungen, sportlich aktiven Patient*innen, vor allem bei Kontaktsportarten.
  • Symptome:Schulterschmerzen nach direktem Anpralltrauma gegen die Schulter oder Sturz auf den ausgestreckten Arm.
  • Befunde:Pathognomonischer Klavikulahochstand bei höhergradiger Luxation. Druckschmerz über dem AC-Gelenk und Kompressionsschmerz beim Cross-Body-Test.
  • Diagnostik:Röntgen im Seitenvergleich zur Bestimmung des Verletzungsgrads.
  • Therapie:Verletzungen vom Typ I und II werden konservativ behandelt, höhergradige Luxationen operativ. Bei Typ III ist die Entscheidung abhängig von der Instabilität.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Verletzung des Schultereckgelenks (AC-Gelenk)
  • Synonyme: ACG-Luxation, Schultereckgelenksverrenkung

Einteilung nach Rockwood1

  • Siehe Abbildungen in Acute Shoulder Injuries (Am Fam Physician 2004).
  • Die Einteilung erfolgt nach den verletzten Bändern und der Stellung der Klavikula nach der Verletzung.
  • Typ I
    • Verletzung des Kapselapparates ohne Dislokation
    • Typ I kommt auch nach körperlicher Überlastung und Arthrose vor.
  • Typ II
    • wie I, aber mit kranialer Subluxation der Klavikula durch Ruptur des akromioklavikulären Bands
    • Klavikula jedoch nicht höher als Oberkante des Akromions
  • Typ III
    • komplette kraniale Luxation der Klavikula mit Zerreißung der Gelenkkapsel und korakoklavikulären Bänder
    • korakoklavikulärer Abstand < 25 mm
  • Typ IV
    • wie III, aber mit posteriorer Luxation in den M. trapezius
  • Typ V
    • ausgeprägte kraniale Luxation der Klavikula
    • korakoklavikulärer Abstand > 25 mm
  • Typ VI
    • kaudale Luxation, sehr selten

Häufigkeit

  • Eine der häufigsten Verletzungen des Schultergürtels (Anteil von 4–12 %) mit einer Inzidenz von 3–4:100.000 in der Allgemeinbevölkerung2
  • Eine geringgradige Sprengung des Schultereckgelenks (Typ I und II) kommt doppelt so häufig vor wie höhergradige Luxationen.3
  • 44 % der Fälle bei sportlich aktiven Patient*innen zwischen 20–30 Jahren.4
  • Männer sind 5-mal so häufig betroffen wie Frauen.4

Klinische Anatomie

  • Das Gelenk ist die einzige knöcherne Verbindung zwischen Klavikula und Skapula und überträgt sämtliche auf die obere Extremität einwirkende Kräfte auf den Körperstamm.
    • Der Großteil der Menschen entwickelt daher in diesem Gelenk eine Arthrose.
  • Der Faserknorpel im Gelenkspalt (Discus acromioclavicularis) gleicht Inkongruenz zwischen den beiden Gelenkpartnern teilweise aus.
  • Das Gelenk erhält seine Stabilität vor allem durch die AC-Ligamente und das Ligamentum coracoacromiale.

Ätiologie und Pathogenese

Verletzungsmechanismen

  • Direktes Anpralltrauma gegen das Schultereckgelenk
    • Die häufigste Ursache einer Schultereckgelenksprengung ist ein direktes Anpralltrauma gegen die Schulter, während sich der Humerus in adduzierter Position befindet.5
    • klassisch: „Bodycheck" beim Sport
  • Sturz auf ausgestreckten Arm
    • Humeruskopf drückt dabei so gegen das Acromion, dass eine axialen Stauchung entsteht.2
    • klassisch: Fahrradsturz

Prädisponierende Faktoren

  • Kontaktsportarten, z. B. Hockey oder American Football5

ICPC-2

  • L81 Verletzung muskuloskelettär NNB

ICD-10

  • S43.1 Luxation des Akromioklavikulargelenks
  • S43.5 Verstauchung und Zerrung des Akromioklavikulargelenkes

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Pathognomischer Hochstand der Klavikula
  • Klassifikation der Verletzung mittels Röntgen

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Genaue Beschreibung des Verletzungsmechanismus
    • Aus welcher Richtung kam die Krafteinwirkung?
    • Wie stark war die Kraft?

Klinische Untersuchung

Inspektion2

  • Prellmarken, Abschürfungen, Schwellungen?
  • Pathognomischer Klavikulahochstand
  • Schonhaltung des betroffenen Armes, wird adduziert an Körper gehalten.

Palpation

  • Druckschmerz über dem AC-Gelenk

Funktionstests

  • Schmerzhafte Bewegungseinschränkung der betroffenen Schulter, vor allem bei einer Flexion und Abduktion über 90 Grad2
  • Cross-Body-Test
    • Arm wird auf Schulterhöhe angehoben und dann passiv adduziert.
    • dadurch Kompression des AC-Gelenks
    • positiv: Schmerzen
  • Klaviertasten-Phänomen – bei ausgeprägter Luxation positiv
    • Klavikula kann wie Klaviertaste vorsichtig runtergedrückt werden und federt anschließend zurück nach oben.
  • Prüfung der horizontalen Verschieblichkeit (anteroposteriore Translation) 2
    • Kann hilfreich zur Diagnostellung sein bei nur geringer kranialer Subluxation.
  • Periphere Durchblutung (Radialispuls), Motorik und Sensibilität

Diagnostik bei Spezialist*innen

Röntgen

  • Standard2
    • bilaterale, belastete Zanca-Aufnahme (10 kg, „Wasserträger-Aufnahme", )
    • axiale Aufnahme
    • Alexander-Aufnahme (Outlet-Aufnahme mit Cross-Body-Manöver) beidseits zur Bestimmung der horizontalen Instabilität

MRT

  • Kein Standard-Diagnostikum
  • Kann allerdings zur genauen Beurteilung der Rissformen des Bandapparates oder zum Ausschluss von Begleitverletzungen herangezogen werden.2

 

Indikationen zur Überweisung

  • Bei V. a. Schultereckgelenksprengung ist immer eine Überweisung für die obligate Röntgendiagnostik nötig.
  • Bei Verletzung Typ III–VI nach Rockwood Überweisung zu Spezialist*in (Unfallchirurgie) für Abklärung einer OP-Indikation2

Therapie

Therapieziele

  • Schmerzfreiheit und Wiederherstellung der Funktion

Allgemeines zur Therapie

  • Es herrscht Einigkeit darüber, dass Verletzungen von Typ I und II konservativ und Verletzungen von Typ IV und VI chirurgisch behandelt werden sollten.2
  • Über die Therapie von Verletzungen von Typ III besteht kein Konsens.
    • Daten systematischer Reviews und Metaanalysen zur Behandlung der Typ-III-Verletzung favorisieren die konservative gegenüber der operativen Therapie bei vergleichbaren funktionellen, allerdings schlechteren kosmetischen und radiologischen Ergebnissen.6
    • Bei der Indikationsstellung zur operativen Therapie spielt die horizontale Instabilität neben der vertikalen Instabilität eine zunehmende Rolle.6

Konservative Therapie

  • Verletzung von Typ I und II
    • Akuttherapie besteht aus Kühlung sowie ggf. Verabreichung von NSAR-Präparaten oder Paracetamol.
    • Schlingenverband für max. 2 Wochen2
      • Armschlinge zur Entlastung des Arms
      • Sorgt auch für besseren Komfort und kann zur Schmerzlinderung beitragen.
  • Verletzung von Typ III
    • Bei Verletzungen von Typ III erfolgt beim Entschluss zur konservativen Therapie die gleiche Behandlung wie bei Verletzungen von Typ I und II.
  • Rehabilitationsprogramm2
    • Ab der 3. Woche beginnt die aktive Beübung des Schultergelenkes.
    • Die Bewegungsumfänge werden schrittweise und schmerzadaptiert gesteigert, wobei während der ersten 6 Wochen ein Abduktionslimit von 90 Grad in der Skapulaebene eingehalten werden sollte.
    • Vermehrte Belastungen und insbesondere Hebetätigkeiten sollten während der ersten 3 Monate vermieden werden.
    • Ab dem 3. Monat kann der kontrollierte Aufbau von Schultergürtelmuskulatur und -belastung beginnen.

Operative Therapie

  • Ein operativer Eingriff wird bei Patient*innen mit Verletzungen von Typ IV–VI, d. h. mit ausgeprägten Luxationen sowie bei Patient*innen mit Verletzungen vom Typ III, die ausgesprochen instabil sind oder bei denen persistierende Beschwerden trotz konservativer Therapie auftreten, durchgeführt.
  • Ziel der operativen Versorgung ist die anatomische Rekonstruktion und Wiederherstellung der Stabilität des AC-Gelenks in vertikaler sowie horizontaler Ebene.6

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Komplikationen

  • Schädigungen von Nerven, Gefäßen oder Weichteilen durch massive Luxation
  • Skapuladyskinesie
  • ACG-Arthrose
  • Chronische Instabilität des AC-Gelenks

Prognose

  • Verletzung von Typ I und II
    • Die meisten Sportler*innen können ihre Karriere fortsetzen, klagen aber in einigen Fällen über Beschwerden wie Knacken oder Schmerzen bei unterschiedlichen Formen der körperlichen Belastung.
    • Bei Patient*innen, die einer schweren körperlichen Arbeit nachgehen, bei der die Arme häufig über Schulterhöhe verwendet werden, kann es zu chronischen Beschwerden kommen.
  • Verletzung von Typ III
    • Die Prognose ist in der Regel gut, bei chronischen Beschwerden kann ein späterer chirurgischer Eingriff helfen.
    • Etwa die Hälfte der konservativ behandelten Patient*innen entwickelt eine Skapuladyskinesie.7
      • Diese kann durch ein entsprechendes physiotherapeutisches Übungsprogramm über 6 Wochen in knapp 80 % der Fälle erfolgreich behandelt werden.7
  • Verletzung von Typ IV–VI
    • Durch operativen Eingriff kann im Großteil der Fälle ein gutes bis exzellentes Ergebnis erzielt werden.8
    • Ein arthroskopischer Eingriff erlaubt dabei in der Regel eine schnellere Rückkehr zu körperlichen Aktivitäten als ein offener Eingriff.8

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Illustrationen

Normales Frontalbild der rechten Schulter 1 = Humerus 2 = Caput humeri 3 = Acromion 4 = Gelenkspalt 5 = Clavicula 6 = Costa 7 = Scapula
Normales Frontalbild der rechten Schulter 1 = Humerus 2 = Caput humeri 3 = Acromion 4 = Gelenkspalt 5 = Clavicula 6 = Costa 7 = Scapula

Quellen

Literatur

  1. Williams GR, Ngyuen VD, Rockwood CA. Williams GR, Nguyen VD, A. RC: Classification and radiographic analysis of acromioclavicular dislocations. Applied Radiology 1989; 18(2): 29-34. scholars.uthscsa.edu
  2. Martetschläger F, Kraus N, Scheibel M, et al. Diagnostik und Therapie der akuten Luxation des Acromio­clavicular­gelenks. Dtsch Arztebl Int 2019; 116: 89-95. www.aerzteblatt.de
  3. Lemos MJ. The evaluation and treatment of the injured acromioclavicular joint in athletes. Am J Sports Med 1998; 26: 137-44. PubMed
  4. Mazzocca AD, Arciero RA, Bicos J. Evaluation and treatment of acromioclavicular joint injuries. Am J Sports Med 2007; 35: 316-29. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  5. Gorbaty JD, Hsu JE, Gee AO. Classifications in Brief: Rockwood Classification of Acromioclavicular Joint Separations. Clinical Orthopaedics and Related Research 2017; 475: 283-7. link.springer.com
  6. Tauber M, Hradecky K, Martetschläger F. Verletzungen des Akromioklavikulargelenks. Obere Extremität 2020; 15: 71-76. link.springer.com
  7. Carbone S, Postacchini R, Gumina S. Scapular dyskinesis and SICK syndrome in patients with a chronic type III acromioclavicular dislocation. Results of rehabilitation. Knee Surgery, Sports Traumatology, Arthroscopy 2015; 23: 1473-80. link.springer.com
  8. Owen BD. Acromioclavicular Joint Injury. Medscape, last updated Oct 22, 2018. emedicine.medscape.com

Autor*innen

  • Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung, Innere Medizin, Frankfurt
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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