Harninkontinenz im Alter

Zusammenfassung

  • Definition:Unwillkürlicher Harnabgang.
  • Häufigkeit:Über 80 % der multimorbiden, geriatrischen Patient*innen. Männer sind seltener betroffen.
  • Symptome:Unterteilung in Stressinkontinenz, Überlauf- sowie überaktive Blase.
  • Befunde:Bei Stressinkontinenz Urinabgang bei Belastung, bei Überlaufinkontinenz unbemerkter Urinabgang, bei überaktiver Blase ständiger Harndrang.
  • Diagnostik:Anamnese, körperliche und Urinuntersuchung sowie Miktionstagebuch und sonografische Restharnbestimmung.
  • Therapie:Abhängig von der Art der Inkontinenz spezifische konservative Therapie, ggf. mit medikamentöser Unterstützung.

Allgemeine Informationen

Definition

Häufigkeit

  • Zwischen 17 und 57 % bei zu Hause lebenden älteren Frauen und über 80 % bei multimorbiden, pflegebedürftigen älteren Patient*innen1
  • Frauen sind mehr als doppelt so häufig betroffen.2
  • Es liegen kaum wissenschaftliche Arbeiten zur Harninkontinenz bei geriatrischen Patient*innen vor, vor allem nicht zu multimorbiden, multimedizierten, vulnerablen und von Chronifizierung sowie Autonomieverlust bedrohten geriatrischen Patient*innen.
  • Harninkontinenz ist für viele ältere Menschen ein sehr wichtiges Problem – das zugleich den behandelnden Ärzt*innen oft nicht bekannt ist.3

Ätiologie und Pathogenese

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1

Faktoren im Urogenitalbereich

  • Harnwegsinfektionen, Tumoren, Ansammlungen von Kotballen im Enddarm
  • Verwirrungszustand oder Delir
  • Atrophische Urethritis oder Vaginitis
  • Depression
  • Polyurie, z. B. bei Hyperglykämie
  • Hyponatriämie
  • Eingeschränkte Mobilität
  • Chronische Schmerz- und Irritationszustände im Bereich des kleinen Beckens
  • Medikamentennebenwirkungen, die zu einer Störung der Blasenmuskelfunktion oder der urethralen Verschlussfunktion führen können.
    • alpha-adrenerge Substanzen
    • Alphablocker
    • ACE-Hemmer
    • Anticholinergika
    • Kalziumkanalblocker
    • Acetylcholinesterase-Hemmer
    • Diuretika
    • Lithium
    • Opioide
    • SSRI
    • psychotrope Substanzen (Benzodiazepine, Neuroleptika, Hypnotika)
    • Gabapentin
    • Glitazone
    • NSAR
  • Genuss von Alkohol und Kaffee
  • Strukturelle Veränderungen im Bereich der Harnblase und der Urethra
  • Strukturelle Veränderungen im Bereich des Beckenbodens

Neuronale und zerebrale Störungen

Alternsabhängige Faktoren und alterstypische Erkrankungen

  • Multimorbidität, kardiale Dekompensation, pulmonale Erkrankungen, Rauchen, Schlafapnoe, chronischer Husten, Diabetes mellitus
  • Muskeldegenerative Erkrankungen
  • Polypharmazie
  • Funktionelle Inkontinenz
    • beeinträchtigte Mobilität („Ich schaffe es nicht")
    • kognitive Beeinträchtigung („Ich kann die Toilette nicht finden oder weiß nicht, wie man sie benutzt")
    • Umgebungsfaktoren (schwer erreichbare Toiletten, fehlende Beleuchtung oder fehlende Handgriffe, unpassende Kleidung)

ICPC-2

  • U04 Harninkontinenz

ICD-10

  • R32 Nicht näher bezeichnete Harninkontinenz

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Aus hausärztlicher Sicht das Wichtigste: Direkte Ansprache des Problems, um Betroffenen das Schamgefühl zu nehmen.1
  • Symptomfragebögen können Hinweise auf eine vorliegende Harninkontinenzform liefern.4
  • Zusätzlich zur strukturierten Anamneseerhebung bietet ein validiertes Assessment den Vorteil der Vollständigkeit, standardisierten Terminologie, Vergleichbarkeit im zeitlichen Verlauf und Unabhängigkeit vom Untersucher (Validität und Reliabilität).4

Anamnese

Ein unterdiagnostiziertes Problem

  • Eine gezielte Anamnese ist wichtig, da Harninkontinenz meist ein Tabuthema ist und oft nicht aktiv von den Betroffenen geäußert wird.4

Typische Symptome

  • Bei älteren Menschen kommt häufig eine Mischung aus Stressinkontinenz und überaktiver Blase vor.
  • Stress-/Belastungsinkontinenz
    • Charakterisiert durch Harnverlust bei Husten, Niesen und anderen Aktivitäten, die den intraabdominellen Druck erhöhen.
    • oft nur geringe Mengen Harnverlust
  • Überaktive Blase (früher Dranginkontinenz)
    • Charakterisiert durch plötzlichen starken Harndrang, der häufig zu Harnverlust führt.
    • oft größere Harnmengen
  • Chronische Harnretention mit Harninkontinenz/Überlaufinkontinenz
    • Typisches Symptom ist Harnträufeln ohne spürbaren Harndrang.
    • Mögliche Ursachen sind entweder Obstruktion (z. B. Prostatahyperplasie) oder bei fehlender Obstruktion:
      • Altersumbauvorgänge der Harnblase
      • neurogene Schäden (z. B. im Rahmen einer diabetischen Zystopathie oder einer intestinalen Polyneuropathie)
      • Nebenwirkungen von Medikamenten, die die Detrusorkontraktilität herabsetzen und eine Restharnbildung begünstigen.4

Leitlinie: Basisdiagnostik bei geriatrischen Patient*innen4

  • Ausführliche Anamnese mit gezielter Erfassung von:
    • Ausmaß der Harninkontinenz
    • Art der Inkontinenz (Stressinkontinenz, überaktive Blase, Überlaufinkontinenz bei chronischer Harnretention)
      • zeitliche und tätigkeitsbezogene Zuordnung
    • Leidensdruck
    • persönliche Lebenssituation (Sozialanamnese)
    • Funktionseinschränkungen
      • mentale und körperliche Leistungsfähigkeit 
    • Komorbiditäten
    • Operationen
      • Eingriffe im kleinen Becken können durch Denervierung oder Verletzung des unteren Harntraktes die Ursache sowohl für Harnblasenentleerungsstörungen als auch für eine Harnspeicherstörung darstellen.
    • gynäkologische Anamnese
      • einschließlich der Anzahl und Art der Geburten und Schwangerschaften bzw. mögliche Komplikationen
    • Sexualanamnese
    • aktuelle Medikamenteneinnahme
    • Stuhlanamnese
      • u. a. Frequenz, Vorwarnzeit, Inkontinenz, Entleerungsschwierigkeiten
      • Blasenentleerungsstörungen und Harninkontinenz sind oft mit einer Defäkationsstörung vergesellschaftet.
        • Stuhlmassen im Rektum können die Blasenentleerung erschweren, die Blasenkapazität verkleinern und damit eine Inkontinenzsymptomatik hervorrufen.
        • Obstipation kann durch eine reduzierte Trinkmenge und Immobilität verstärkt werden, ständiges Pressen bei der Defäkation kann den Beckenboden schwächen.
    • Trinkanamnese 
      • Trinkmenge und Zeit – auch unter Berücksichtigung der Schlafzeit
    • bisherige Therapie der Inkontinenz
      • vorausgegangene Therapieversuche und Angaben über den bisherigen Gebrauch an Hilfsmitteln
  • Klinische Untersuchung
    • Untersuchung des äußeren Genitales
    • rektale Untersuchung (Sphinktertonus, Prostata bei Männern)
    • neurologische Untersuchung, insbesondere Dermatom S2–S5 (Reithosenanästhesie)
    • Einschätzung mentaler und physischer Leistungsfähigkeit
    • Stresstest zur Objektivierung von unwillkürlichem Urinverlust
      • Patient*in bei gefüllter Blase husten und/oder pressen lassen.
        • Falls Urin abgeht: Stresstest positiv.
        • Ggf. den Stresstest im Stehen wiederholen.
    • Vorlagenwiegetest
      • Objektivierung und Quantifizierung des Harnverlustes besonders im Hinblick auf den Therapieverlauf
      • Gewichtsdifferenz zwischen den nassen Windeln/Vorlagen eines Tages oder einer Nacht zum Trockengewicht der gleichen Anzahl von Windeln und Vorlagen
  • Urinuntersuchung
    • Infektausschluss mittels Teststreifen im Rahmen der Erstuntersuchung
    • Mikrohämaturie abklärungsbedürftig (Tumoren, Steine)
  • Miktionstagebuch
    • an 2–3 Tagen über 24 h
    • ggf. durch Unterstützung der Angehörigen bzw. des medizinischen Personals
    • Erfassung von:
      • Miktionsfrequenz
      • Miktionsvolumen
      • Häufigkeit des Harnverlustes
      • Harndranggefühl
      • Vorlagenverbrauch
      • Trinkmenge
      • Schlaf-Wach-Rhythmus.
  • Sonografische Restharnbestimmung
    • Bei etwa 1/3 der älteren Patient*innen eingeschränkte Kontraktionsfähigkeit des Detrusors, was zu relevantem Restharn führen kann.
      • hierdurch erhöhtes Infektionsrisiko und erhöhte Miktionsfrequenz

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf dieser Referenz.4
  • Labor
    • Serumkreatinin
      • zur Abklärung einer Überlaufinkontinenz
      • zur Abschätzung des Ausmaßes der Schädigung bzw. der Rehabilitationsfähigkeit der oberen Harnwege
    • Serumnatrium
      • zur Abklärung einer möglichen zu Inkontinenz führenden Hyponatriämie – nicht selten infolge einer Behandlung mit Thiazid-Diuretika und/oder Antidepressiva oder Antikonvulsiva
    • PSA-Wert
      • bei V. a. prostatabedingte Miktionsbeschwerden

Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf dieser Referenz.4
  • Invasive Diagnoseverfahren sollten bei geriatrischen Patient*innen nur in Ausnahmefällen zur Anwendung kommen.
  • Perinealsonografie
    • Konfiguration des Blasenhalses in Ruhe und unter Stressbedingungen
    • bei V. a. Stressinkontinenz
  • Ausscheidungsurogramm
    • bei detektierter Harnstauung
    • Information über die seitengetrennte Nierenfunktion und das Ausmaß sowie die Lokalisation der Stauungsursache
  • Urethrozystoskopie
    • bei V. a. intravesikale Raumforderungen
  • Urodynamische Untersuchung
    • Stellenwert im Hinblick auf die Vorhersage des Therapieerfolges ist umstritten, sollte jedoch beim geriatrischen Patient*innen erwogen werden.
      • bei Therapieversagen
      • vor jeder geplanten operativen Intervention
      • bei komplexer Vorgeschichte, insbesondere bei neurologischen Erkrankungen
    • Ziel
      • Objektivierung der Symptome
      • Quantifizierung der Fehlfunktionen des unteren Harntraktes
      • Risikoabschätzung im Hinblick auf die Prävention von Schäden des oberen Harntraktes bei neurogenen Blasenstörungen

Indikationen zur Überweisung

  • Bei persistierender Mikrohämaturie weitere Abklärung durch Urolog*in
  • Patient*innen, die mehr als ein halbes Jahr ohne Besserung behandelt wurde, sollten ebenfalls zur Urologie überwiesen werden.

Therapie

Therapieziele

  • Auslösende oder provozierende Faktoren (insbes. Medikamentennebenwirkungen) identifizieren und korrigieren.
  • Lebensqualität verbessern.
    • Kontrolle über die Beschwerden
    • Inkontinenzepisoden verringern.

Allgemeines zur Therapie

  • Die Inkontinenz abhängig von ihrer Ursache und angepasst an den subjektiven Leidensdruck behandeln.
  • Es ist sinnvoll, die betroffenen geriatrischen Patient*innen zunächst empirisch konservativ zu behandeln.4
  • Invasive Operationsverfahren sollten bei geriatrischen Patient*innen nur in Ausnahmefällen zur Anwendung kommen.4

Leitlinie: Konservative Therapiemaßnahmen4

  • Verhaltensintervention
  • Toilettentraining
    • bei überaktiver Blase und Stressinkontinenz
    • kontraindiziert bei Überlaufinkontinenz
    • besonders bei mobilen, kognitiv nicht eingeschränkten geriatrischen Patient*innen effektiv
  • Physiotherapie
    • Beckenbodentraining der willkürlichen periurethralen und paravaginalen Muskeln
    • Elektrostimulation mit nichtimplantierten Elektroden
      • Bei geriatrischen Patient*innen, die ein aktives Beckenbodentraining primär nicht durchführen können.
  • Hilfsmittel
    • körpernahe Hilfsmittel 
      • aufsaugende Vorlagen noninvasive und nahezu nebenwirkungsfreie Therapiemöglichkeit
      • Kondom-Urinale als Alternative für männliche Patienten mit ausreichender Penislänge
    • körperferne Hilfsmittel
      • keine Studien zu Urinflaschen verfügbar
      • Urinflaschen besitzen jedoch gerade bei Männern große Bedeutung.
    • Umgebungsanpassung
      • Es existieren keine kontrollierten Studien.
      • Anpassung im Rahmen eines diagnostischen Hausbesuchs sinnvoll
        • Toilettensitzerhöhung
        • Haltegriffe
        • Toilettenstuhl
        • Gehhilfen
        • Beleuchtung
        • Anpassung der Kleidung (Anti-Rutsch-Socken, Klettverschluss)
  • Qualifizierte Pflegekräfte, die strukturiert im Umgang mit Inkontinenz ausgebildet wurden.

Medikamentöse Therapie verschiedener Inkontinenzformen

Überaktive Blase

  • Anticholinergika können bei älteren Patient*innen den unfreiwilligen Urinverlust um die Hälfte reduzieren.5
  • Wirkmechanismus ist die Reduktion der Aktivität des Detrusors.
    • Cave: potenzielle Nebenwirkungen!
      • Störungen der Kognition bis zur Verwirrtheit, Glaukom, Mundtrockenheit, Delirinduktion und Verstopfung schränken die Anwendbarkeit von Anticholinergika deutlich ein und sollten als mögliche Kontraindikationen vor der Therapieeinleitung überprüft werden.4
      • Bei Einnahme starker CYP3A4-Inhibitoren (Protease-Hemmstoffe, Ketoconazol oder Itraconazol) sind viele Anticholinergika kontraindiziert bzw. eine Dosisreduktion notwendig.
  • Verfügbare Substanzen laut Leitlinie (Dosierung jeweils der Fachinformation entnommen):4
    • Oxybutynin6 als Medikament der 1. Wahl; relevante Vorteile der übrigen, teureren Substanzen konnten nicht belegt werden.
      • Initialdosis 2 x/d 2,5 mg oral
      • Steigerung auf 5 mg 2 x/d möglich
      • alternativ als – allerdings erheblich teureres – Pflaster 3,9 mg/24 h, Wechsel alle 3–4 Tage7
    • Darifenacin8
      • Initialdosis 7,5 mg 1 x/d oral
      • Steigerung auf 15 mg 1 x/d möglich
      • Kontraindikation u. a. bei gleichzeitiger Anwendung von starken CYP3A4-Hemmern
    • Fesoterodin9
      • Initialdosis 4 mg 1 x/d oral
      • Steigerung auf 8 mg 1 x/d möglich (Tageshöchstdosis)
      • Kontraindikation u. a. gleichzeitige Anwendung von starken CYP3A4-Hemmern (s. o.) bei Patient*innen mit mäßiger bis schwerer Einschränkung der Leber- oder Nierenfunktion
    • Propiverin10
      • Initialdosis 15 mg 2 x/d oral
      • Steigerung auf 15 mg 3 x/d möglich (Tageshöchstdosis)
      • Kontraindikationen u. a. Tachyarrhythmien und moderate bis schwere Leberfunktionsstörungen
    • Solifenacin11
      • 5 mg 1 x/d oral
      • Steigerung auf 10 mg 1 x/d möglich
      • Kontraindikation u. a. Einnahme starker CYP3A4-Inhibitoren (s. o.)
    • Tolterodin12
      • 2 mg 2 x/d oral
      • Reduktion auf 1 mg 2 x/d bei Unverträglichkeiten oder GFR < 30
    • Trospiumchlorid13
      • 20 mg 2 x/d oral
      • Reduktion auf 20 mg 1 x/d bei GFR < 30.
  • Bei einem Einsatz von Antimuskarinika sollte eine sorgfältige Überwachung der Therapie erfolgen (insbes. Restharnbestimmung).4
  • Ein Zusatznutzen von Mirabegron konnte beim Zulassungsverfahren nach dem AMNOG (Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz) nicht belegt werden. Es kommt nur infrage bei Patient*innen, die Anticholinergika nicht vertragen.4
    • nicht-anticholinerger Wirkmechanismus
    • Gefahr der Auslösung oder Verschlimmerung einer arteriellen Hypertonie
      • nur bei gut eingestellten Patient*innen oder solchen ohne Hypertonie unter fortwährender Blutdruckkontrolle
      • Dosisempfehlung 50 mg 1 x/d14
        • Dosisreduktion bei Nierenfunktionseinschränkung oder Einnahme starker CYP3A4-Inhibitoren
  • Injektionen mit Botulinumtoxin stellen eine operative, hochwirksame Maßnahme mit limitierter Invasivität in Fällen einer therapierefraktären überaktiven Blase dar.4
    • als Reserveverfahren auch bei geriatrischen Patient*innen möglich
    • Dosierungsschemata und Injektionstechnik sind nicht standardisiert und unterscheiden sich je nach angewendetem Präparat.4

Stressinkontinenz

  • Duloxetin
    • wirksam in der Reduktion von Inkontinenzepisoden bei mittelschwerer Belastungsinkontinenz funktionell nicht eingeschränkter, gesunder Frauen im Alter zwischen 20 und 85 Jahren.4
      • Daten bei multimorbiden, hochbetagten Patientinnen liegen nicht vor.
    • effektive Dosen in randomisierten Studien waren 40 mg 2 x/d oral.4
      • ausschleichendes Beendigen der Medikation
    • cave: hohe Nebenwirkungsrate bei eher geringem Therapieeffekt, sodass kritische Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen sollte, insbesondere bei Patientinnen mit psychischen Komorbiditäten (erhöhtes Risiko für Suizidalität) 15
  • Kombination der Gabe von Duloxetin mit Beckenbodentraining vermutlich der alleinigen medikamentösen Therapie überlegen. 4

Chronische Harnretention mit Überlaufinkontinenz

  • Falls medikamentös bedingt:
    • Verursachendes Medikament absetzen oder die Dosis reduzieren.
  • Alpharezeptorenblocker
    • Senkung des Blasenauslasswiderstands, sowohl bei Männern als auch Frauen4
    • Nach Harnverhalt und Katheterisierung sollte ein Alpharezeptorenblocker-unterstützter Katheterauslassversuch unternommen werden, um die Spontanmiktion wieder zu restituieren.4
  • Parasympathomimetika (Bethanechol, Distigminbromid) bei Detrusoratonie
  • Ggf. intermittierende Katheterisierung notwendig

Allgemeines

  • Eine symptomatische Therapie aller Harninkontinenzformen ist mit der Gabe von synthetischem antidiuretischem Hormon (DDAVP) denkbar.4
    • Cave: hämostyptische Eigenschaften (Ischämien) sowie Nebenwirkung der Hyponatriämie!

Formen des Toilettentrainings

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf dieser Referenz.4
  • Blasentraining (Bladder Drill)
    • Betroffene sollen selbständig zu bestimmten Zeiten zur Toilette gehen.
      • Beginnt meist mit 1- bis 2-stündlichen Intervallen.
      • wenn erfolgreich, allmähliche Steigerung der Intervalle (z. B. um 30 Minuten)
      • Angestrebt werden 3- bis 4-stündliche Intervalle.
    • Voraussetzung
      • Systematische Fähigkeit, die Miktion zu verzögern durch Unterdrückung des Harndranges.
      • Kognitiv kompetente, motivierte, lernfähige Betroffene, die ein Miktionsprotokoll selbst führen können.
      • hohes Maß an Eigeninitiative
      • Fähigkeit, Toilette selbständig oder mit Hilfe aufzusuchen.
    • nicht empfohlen bei organischer Gehirnerkrankung
    • Blasentraining ist fast so effektiv wie eine medikamentöse Behandlung.
    • Die meisten Patient*innen, die auf diese Weise tagsüber kontinent werden, erreichen dies auch in der Nacht.
  • Angebotener Toilettengang (Prompted Voiding)
    • Vorgehensweise
      • In regelmäßigen Abständen (z. B. alle 2 Stunden) wird durch die Frage: „Nass oder trocken?" die Aufmerksamkeit der Betroffenen auf die Blase gelenkt.
      • Überprüfen Sie, ob nass oder trocken, und geben Sie Rückmeldung.
      • Bieten Sie anschließend einen Toilettengang an und ermuntern Sie bis zu 3-mal dazu, wenn die Patientin/der Patient dies initial ablehnt.
      • Zur Toilette wird nur begleitet, wenn dies gewünscht bzw. nicht abgelehnt wird.
      • Bei erfolgreichem Toilettengang oder wenn trocken: Geben Sie eine positive verbale Rückmeldung.
      • Bieten Sie Getränke an.
      • Nennen Sie den Zeitpunkt des nächsten Toilettenganges mit der Aufforderung, die nächste Miktion bis dahin zu verzögern.
    • Kommt infrage bei nicht ausreichenden kognitiven Fähigkeiten für komplexere Verhaltensinterventionen.
    • Voraussetzungen
      • Funktionell fähige Patient*innen, die die Toilette/den Toilettenstuhl nutzen können.
      • Fähigkeit, Harndrang zu verspüren und auf die Aufforderung zum Toilettengang zu reagieren.
      • motivierte Pflegeperson
  • Festgelegte Entleerungszeiten (Timed Voiding, Scheduled Toiletting)
    • Die Betroffenen werden regelmäßig nach einem festen Zeitplan (z. B. tagsüber alle 2 Stunden) von einer Pflegeperson zur Toilette begleitet.
    • Kommt infrage bei kognitiv eingeschränkten Betroffenen, funktionell abhängigen Betroffenen.
    • Vorteil: Einfach für die Pflegenden umzusetzen.
    • Voraussetzung: Motivierte Pflegeperson vorhanden.
    • Für Patient*innen empfohlen, die nicht selbstständig zur Toilette gehen können.
  • Individuelle Entleerungszeiten (Habit Training)
    • wie „Festgelegte Entleerungszeiten“, jedoch mit individuell erstelltem Toilettenplan
    • Kommt infrage bei kognitiv eingeschränkten Betroffenen, funktionell abhängigen Betroffenen.
    • Vorteil: Einfach für die Pflegenden umzusetzen.
    • Voraussetzung: Motivierte Pflegeperson vorhanden, und ein Miktionsmuster kann festgestellt werden.
    • Für Patient*innen zu empfehlen, bei denen ein Miktionsmuster festgestellt werden kann.

Instrumentelle Harnblasen-Langzeitdrainage

  • Die Indikation für die Anlage eines Harnblasenkatheters ist primär die Blasenentleerungsstörung und nicht die Harninkontinenz.4
  • Bei einer Inkontinenzbehandlung stellt die instrumentelle lebenslange Dauerableitung der Harnblase durch Katheter allenfalls in ausgewählten Fällen einer symptomatischen, quasi palliativen Maßnahme bei Versagen, Ablehnung oder Nichtanwendbarkeit aller anderen Therapieformen eine Behandlungsoption dar.4
  • Sofern Harnblasen-Langzeitdrainage unumgänglich, sollte besonders bei männlichen Patienten der suprapubischen Katheterdrainage der Vorzug gegeben werden.4

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Ist oft ein wachsendes Problem mit zunehmendem Alter.

Komplikationen

Prognose

  • Durch einfache Therapiemaßnahmen sind in der Regel gute Erfolge zu erzielen.2

Verlaufskontrolle

  • Erstellen Sie nach individueller Beurteilung der Betroffenen einen Behandlungsplan.
  • Nicht alle Ärzt*innen haben Erfahrungen mit allen Maßnahmen, sollten aber die Behandlung koordinieren (gleichgültig, ob die Patient*innen zu Hause, bei Physiotherapeut*innen oder fachärztlich behandelt werden).
    • Eine Adressenliste der interdisziplinären Kontinenz- und Beckenboden-Zentren in Deutschland ist auf der Homepage der Deutschen Kontinenz Gesellschaft zu finden.

Patienteninformationen

Worüber sollten Sie die Patient*innen informieren?

  • Über Hilfsmittel
  • Über konservative und medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten

Patienteninformationen in Deximed

Weitere Informationen

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG). Harninkontinenz bei geriatrischen Patienten, Diagnostik und Therapie. AWMF-Leitlinie Nr. 084-001. S2e, Stand 2019. www.awmf.org

Literatur

  1. Talasz H. Harninkontinenz geriatrischer Patientinnen. Z Gerontol Geriat 2014; 47: 57-68. doi.org
  2. Vasavada SP. Urinary Incontinence. Medscape, last updated Sep 23, 2019. emedicine.medscape.com
  3. Junius-Walker U, Wrede J, Schleef T et al. What is important, what needs treating? How GPs perceive older patients‘ multiple health problems: a mixed method research study. BMC Research Notes 2012:5:443. bmcresnotes.biomedcentral.com
  4. Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG). Harninkontinenz bei geriatrischen Patienten, Diagnostik und Therapie. AWMF-Leitlinie Nr. 084-001, Stand 2019. www.awmf.org
  5. Samuelsson E, Odeberg J, Stenzelius K, et al. Effect of pharmacological treatment for urinary incontinence in the elderly and frail elderly: A systematic review. Geriatr Gerontol Int 2015; 15: 521-34. doi:10.1111/ggi.12451 onlinelibrary.wiley.com
  6. Fachinformation Oxybutynin Stadapharm. Stand März 2015. Letzter Zugriff 25.05.2020. fachinformation.srz.de
  7. Fachinformation Kentera Recordati Pharma. Stand 17.09.2019. Letzter Zugriff 25.05.2020. info.diagnosia.com
  8. Fachinformation Emselex Merus Labs Luxco. Letzter Zugriff 25.05.2020. s3.eu-central-1.amazonaws.com
  9. Fachinformation Toviaz Pfizer. Stand Juli 2019. Letzter Zugriff 25.05.2020. www.pfizermed.de
  10. Fachinformation Propiverin 1 A Pharma. Stand Oktober 2017. Letzter Zugriff 25.05.2020. s3.eu-central-1.amazonaws.com
  11. Fachinformation Solifenacin Glenmark. Stand Dezember 2018. Letzter Zugriff 25.05.2020. www.glenmark.de
  12. Fachinformation Detrusitol Pfizer. Stand Juni 2016. Letzter Zugriff 25.05.2020. www.pfizermed.de
  13. Fachinformation Trospiumchlorid Glenmark. Stand März 2015. Letzter Zugriff 25.05.2020. www.glenmark.de
  14. Fachinformation Betmiga FD Pharma. Stand 17.09.2019. Letzter Zugriff 25.05.2020. info.diagnosia.com
  15. Belastungs­inkontinenz: Duloxetin ist nur für psychisch gesunde Patienten geeignet, Dienstag, 22. November 2016, aerzteblatt.de (02.09.2020). www.aerzteblatt.de

Autor*innen

  • Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung, Innere Medizin, Frankfurt
  • Günther Egidi, Dr. med., Facharzt für Allgemeinmedizin, Bremen (Review)
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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