Vor allem ältere Frauen versuchen aus Scham, ihre Symptome zu verharmlosen, sodass diese routinemäßig und direkt auf eine mögliche Inkontinenz angesprochen werden sollten.1
Häufigkeit
Zwischen 17 und 57 % bei zu Hause lebenden älteren Frauen und über 80 % bei multimorbiden, pflegebedürftigen älteren Patient*innen1
Frauen sind mehr als doppelt so häufig betroffen.2
Es liegen kaum wissenschaftliche Arbeiten zur Harninkontinenz bei geriatrischen Patient*innen vor, vor allem nicht zu multimorbiden, multimedizierten, vulnerablen und von Chronifizierung sowie Autonomieverlust bedrohten geriatrischen Patient*innen.
Harninkontinenz ist für viele ältere Menschen ein sehr wichtiges Problem – das zugleich den behandelnden Ärzt*innen oft nicht bekannt ist.3
Ätiologie und Pathogenese
Der gesamte Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1
Faktoren im Urogenitalbereich
Harnwegsinfektionen, Tumoren, Ansammlungen von Kotballen im Enddarm
Aus hausärztlicher Sicht das Wichtigste: Direkte Ansprache des Problems, um Betroffenen das Schamgefühl zu nehmen.1
Symptomfragebögen können Hinweise auf eine vorliegende Harninkontinenzform liefern.4
Zusätzlich zur strukturierten Anamneseerhebung bietet ein validiertes Assessment den Vorteil der Vollständigkeit, standardisierten Terminologie, Vergleichbarkeit im zeitlichen Verlauf und Unabhängigkeit vom Untersucher (Validität und Reliabilität).4
Erkrankungen mit potenzieller Auswirkung auf den unteren Harntrakt (z. B. Diabetes mellitus, Z. n. Apoplex, Arteriosklerose, M. Parkinson, Enzephalitiden, Rückenmarksläsionen, Demenz, Radiatio, Depression, andere psychische Erkrankungen u. a.)
Operationen
Eingriffe im kleinen Becken können durch Denervierung oder Verletzung des unteren Harntraktes die Ursache sowohl für Harnblasenentleerungsstörungen als auch für eine Harnspeicherstörung darstellen.
gynäkologische Anamnese
einschließlich der Anzahl und Art der Geburten und Schwangerschaften bzw. mögliche Komplikationen
Sexualanamnese
Hinweise z. B. auf ein Östrogendefizit (bei Dyspareunie), neurologische Störungen oder Stoffwechselkrankheiten (bei erektiler Dysfunktion)
aktuelle Medikamenteneinnahme
Stuhlanamnese
u. a. Frequenz, Vorwarnzeit, Inkontinenz, Entleerungsschwierigkeiten
Blasenentleerungsstörungen und Harninkontinenz sind oft mit einer Defäkationsstörung vergesellschaftet.
Stuhlmassen im Rektum können die Blasenentleerung erschweren, die Blasenkapazität verkleinern und damit eine Inkontinenzsymptomatik hervorrufen.
Obstipation kann durch eine reduzierte Trinkmenge und Immobilität verstärkt werden, ständiges Pressen bei der Defäkation kann den Beckenboden schwächen.
Trinkanamnese
Trinkmenge und Zeit – auch unter Berücksichtigung der Schlafzeit
bisherige Therapie der Inkontinenz
vorausgegangene Therapieversuche und Angaben über den bisherigen Gebrauch an Hilfsmitteln
Klinische Untersuchung
Untersuchung des äußeren Genitales
rektale Untersuchung (Sphinktertonus, Prostata bei Männern)
neurologische Untersuchung, insbesondere Dermatom S2–S5 (Reithosenanästhesie)
Einschätzung mentaler und physischer Leistungsfähigkeit
Stresstest zur Objektivierung von unwillkürlichem Urinverlust
Patient*in bei gefüllter Blase husten und/oder pressen lassen.
Falls Urin abgeht: Stresstest positiv.
Ggf. den Stresstest im Stehen wiederholen.
Vorlagenwiegetest
Objektivierung und Quantifizierung des Harnverlustes besonders im Hinblick auf den Therapieverlauf
Gewichtsdifferenz zwischen den nassen Windeln/Vorlagen eines Tages oder einer Nacht zum Trockengewicht der gleichen Anzahl von Windeln und Vorlagen
Urinuntersuchung
Infektausschluss mittels Teststreifen im Rahmen der Erstuntersuchung
zur Abschätzung des Ausmaßes der Schädigung bzw. der Rehabilitationsfähigkeit der oberen Harnwege
Serumnatrium
zur Abklärung einer möglichen zu Inkontinenz führenden Hyponatriämie – nicht selten infolge einer Behandlung mit Thiazid-Diuretika und/oder Antidepressiva oder Antikonvulsiva
Anticholinergika können bei älteren Patient*innen den unfreiwilligen Urinverlust um die Hälfte reduzieren.5
Wirkmechanismus ist die Reduktion der Aktivität des Detrusors.
Cave: potenzielle Nebenwirkungen!
Störungen der Kognition bis zur Verwirrtheit, Glaukom, Mundtrockenheit, Delirinduktion und Verstopfung schränken die Anwendbarkeit von Anticholinergika deutlich ein und sollten als mögliche Kontraindikationen vor der Therapieeinleitung überprüft werden.4
Bei Einnahme starker CYP3A4-Inhibitoren (Protease-Hemmstoffe, Ketoconazol oder Itraconazol) sind viele Anticholinergika kontraindiziert bzw. eine Dosisreduktion notwendig.
Verfügbare Substanzen laut Leitlinie (Dosierung jeweils der Fachinformation entnommen):4
Oxybutynin6 als Medikament der 1. Wahl; relevante Vorteile der übrigen, teureren Substanzen konnten nicht belegt werden.
Initialdosis 2 x/d 2,5 mg oral
Steigerung auf 5 mg 2 x/d möglich
alternativ als – allerdings erheblich teureres – Pflaster 3,9 mg/24 h, Wechsel alle 3–4 Tage7
Steigerung auf 8 mg 1 x/d möglich (Tageshöchstdosis)
Kontraindikation u. a. gleichzeitige Anwendung von starken CYP3A4-Hemmern (s. o.) bei Patient*innen mit mäßiger bis schwerer Einschränkung der Leber- oder Nierenfunktion
Bei einem Einsatz von Antimuskarinika sollte eine sorgfältige Überwachung der Therapie erfolgen (insbes. Restharnbestimmung).4
Ein Zusatznutzen von Mirabegron konnte beim Zulassungsverfahren nach dem AMNOG (Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz) nicht belegt werden. Es kommt nur infrage bei Patient*innen, die Anticholinergika nicht vertragen.4
Dosisreduktion bei Nierenfunktionseinschränkung oder Einnahme starker CYP3A4-Inhibitoren
Injektionen mit Botulinumtoxin stellen eine operative, hochwirksame Maßnahme mit limitierter Invasivität in Fällen einer therapierefraktären überaktiven Blase dar.4
als Reserveverfahren auch bei geriatrischen Patient*innen möglich
Dosierungsschemata und Injektionstechnik sind nicht standardisiert und unterscheiden sich je nach angewendetem Präparat.4
wirksam in der Reduktion von Inkontinenzepisoden bei mittelschwerer Belastungsinkontinenz funktionell nicht eingeschränkter, gesunder Frauen im Alter zwischen 20 und 85 Jahren.4
Daten bei multimorbiden, hochbetagten Patientinnen liegen nicht vor.
effektive Dosen in randomisierten Studien waren 40 mg 2 x/d oral.4
ausschleichendes Beendigen der Medikation
cave: hohe Nebenwirkungsrate bei eher geringem Therapieeffekt, sodass kritische Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen sollte, insbesondere bei Patientinnen mit psychischen Komorbiditäten (erhöhtes Risiko für Suizidalität) 15
Kombination der Gabe von Duloxetin mit Beckenbodentraining vermutlich der alleinigen medikamentösen Therapie überlegen. 4
Chronische Harnretention mit Überlaufinkontinenz
Falls medikamentös bedingt:
Verursachendes Medikament absetzen oder die Dosis reduzieren.
Alpharezeptorenblocker
Senkung des Blasenauslasswiderstands, sowohl bei Männern als auch Frauen4
Nach Harnverhalt und Katheterisierung sollte ein Alpharezeptorenblocker-unterstützter Katheterauslassversuch unternommen werden, um die Spontanmiktion wieder zu restituieren.4
Parasympathomimetika (Bethanechol, Distigminbromid) bei Detrusoratonie
Die Betroffenen werden regelmäßig nach einem festen Zeitplan (z. B. tagsüber alle 2 Stunden) von einer Pflegeperson zur Toilette begleitet.
Kommt infrage bei kognitiv eingeschränkten Betroffenen, funktionell abhängigen Betroffenen.
Vorteil: Einfach für die Pflegenden umzusetzen.
Voraussetzung: Motivierte Pflegeperson vorhanden.
Für Patient*innen empfohlen, die nicht selbstständig zur Toilette gehen können.
Individuelle Entleerungszeiten (Habit Training)
wie „Festgelegte Entleerungszeiten“, jedoch mit individuell erstelltem Toilettenplan
Kommt infrage bei kognitiv eingeschränkten Betroffenen, funktionell abhängigen Betroffenen.
Vorteil: Einfach für die Pflegenden umzusetzen.
Voraussetzung: Motivierte Pflegeperson vorhanden, und ein Miktionsmuster kann festgestellt werden.
Für Patient*innen zu empfehlen, bei denen ein Miktionsmuster festgestellt werden kann.
Instrumentelle Harnblasen-Langzeitdrainage
Die Indikation für die Anlage eines Harnblasenkatheters ist primär die Blasenentleerungsstörung und nicht die Harninkontinenz.4
Bei einer Inkontinenzbehandlung stellt die instrumentelle lebenslange Dauerableitung der Harnblase durch Katheter allenfalls in ausgewählten Fällen einer symptomatischen, quasi palliativen Maßnahme bei Versagen, Ablehnung oder Nichtanwendbarkeit aller anderen Therapieformen eine Behandlungsoption dar.4
Sofern Harnblasen-Langzeitdrainage unumgänglich, sollte besonders bei männlichen Patienten der suprapubischen Katheterdrainage der Vorzug gegeben werden.4
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
Ist oft ein wachsendes Problem mit zunehmendem Alter.
Durch einfache Therapiemaßnahmen sind in der Regel gute Erfolge zu erzielen.2
Verlaufskontrolle
Erstellen Sie nach individueller Beurteilung der Betroffenen einen Behandlungsplan.
Nicht alle Ärzt*innen haben Erfahrungen mit allen Maßnahmen, sollten aber die Behandlung koordinieren (gleichgültig, ob die Patient*innen zu Hause, bei Physiotherapeut*innen oder fachärztlich behandelt werden).
Eine Adressenliste der interdisziplinären Kontinenz- und Beckenboden-Zentren in Deutschland ist auf der Homepage der Deutschen Kontinenz Gesellschaft zu finden.
Patienteninformationen
Worüber sollten Sie die Patient*innen informieren?
Über Hilfsmittel
Über konservative und medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten
Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG). Harninkontinenz bei geriatrischen Patienten, Diagnostik und Therapie. AWMF-Leitlinie Nr. 084-001. S2e, Stand 2019. www.awmf.org
Literatur
Talasz H. Harninkontinenz geriatrischer Patientinnen. Z Gerontol Geriat 2014; 47: 57-68. doi.org
Junius-Walker U, Wrede J, Schleef T et al. What is important, what needs treating? How GPs perceive older patients‘ multiple health problems: a mixed method research study. BMC Research Notes 2012:5:443. bmcresnotes.biomedcentral.com
Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG). Harninkontinenz bei geriatrischen Patienten, Diagnostik und Therapie. AWMF-Leitlinie Nr. 084-001, Stand 2019. www.awmf.org
Samuelsson E, Odeberg J, Stenzelius K, et al. Effect of pharmacological treatment for urinary incontinence in the elderly and frail elderly: A systematic review. Geriatr Gerontol Int 2015; 15: 521-34. doi:10.1111/ggi.12451 onlinelibrary.wiley.com
Fachinformation Oxybutynin Stadapharm. Stand März 2015. Letzter Zugriff 25.05.2020. fachinformation.srz.de
Fachinformation Kentera Recordati Pharma. Stand 17.09.2019. Letzter Zugriff 25.05.2020. info.diagnosia.com
Fachinformation Toviaz Pfizer. Stand Juli 2019. Letzter Zugriff 25.05.2020. www.pfizermed.de
Fachinformation Propiverin 1 A Pharma. Stand Oktober 2017. Letzter Zugriff 25.05.2020. s3.eu-central-1.amazonaws.com
Fachinformation Solifenacin Glenmark. Stand Dezember 2018. Letzter Zugriff 25.05.2020. www.glenmark.de
Fachinformation Detrusitol Pfizer. Stand Juni 2016. Letzter Zugriff 25.05.2020. www.pfizermed.de
Fachinformation Trospiumchlorid Glenmark. Stand März 2015. Letzter Zugriff 25.05.2020. www.glenmark.de
Fachinformation Betmiga FD Pharma. Stand 17.09.2019. Letzter Zugriff 25.05.2020. info.diagnosia.com
Belastungsinkontinenz: Duloxetin ist nur für psychisch gesunde Patienten geeignet, Dienstag, 22. November 2016, aerzteblatt.de (02.09.2020). www.aerzteblatt.de
Autor*innen
Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung, Innere Medizin, Frankfurt
Günther Egidi, Dr. med., Facharzt für Allgemeinmedizin, Bremen (Review)
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
R32
urinlekkasje; inkontinens; urgeinkontinens; inkontinens; urinläckage; urininkontinens hos eldre; Harninkontinenz im Alter
Definition:Unwillkürlicher Harnabgang. Häufigkeit:Über 80 % der multimorbiden, geriatrischen Patient*innen. Männer sind seltener betroffen. Symptome:Unterteilung in Stressinkontinenz, Überlauf- sowie überaktive Blase.