Zusammenfassung
- Definition:Leberschädigung in unterschiedlicher Ausprägung durch Arzneimittel, wobei auch frei verkäufliche und pflanzliche Produkte als Verursacher infrage kommen.
- Häufigkeit:Inzidenz wird auf 14–19/100.000 geschätzt.
- Symptome:Häufig asymptomatisch, mögliche Symptome sind Müdigkeit, Übelkeit, Ikterus, abdominelle Beschwerden, Fieber.
- Befunde:Laborchemisch unterschiedliche Enyzmmuster (hepatozellulär, cholestatisch, gemischt) mit Anstieg von GPT und/oder AP und/oder Bilirubin.
- Diagnostik:Ausführliche Medikamentenanamnese, Labor und Sonografie. Ausschluss anderer Ursachen für einen Leberschaden.
- Therapie:Absetzen des verursachenden Medikaments führt meist zur Normalisierung der Leberwerte. Im Einzelfall Entwicklung eines Leberversagens mit Notwendigkeit der Lebertransplantation.
Allgemeine Informationen
Definition
- Durch Arzneimittel verursachte Schäden der Leber (Drug-Induced Liver Injury, DILI) mit folgenden Charakteristika:1
- akut oder mit zeitlichem Abstand auftretend
- leichter/reversibler bis hin zu tödlichem Verlauf
- rezeptpflichtige und frei verkäufliche Substanzen (einschließlich Heilkräuter und Nahrungsergänzungsmittel) als mögliche Auslöser1
Häufigkeit
- Die Inzidenz von DILI wird auf 14–19/100.000 geschätzt.2
- Die tatsächliche Anzahl liegt wahrscheinlich deutlich höher, da nur ein kleinerer Teil gemeldet wird.1
- DILI sind für ca. 10 % der unerwünschten Arzneimittelwirkungen verantwortlich.1
- In den westlichen Industrieländern häufigste Ursache für ein akutes Leberversagen (> 50 % der Fälle)2
- insbesondere bei älteren Patient*innen3
- Ursache für ca. 2–5 % der Krankenhauseinweisungen wegen Gelbsucht4-5
- Ca. 10–20 % der Fälle von DILI werden durch pflanzliche Substanzen/diätetische Ergänzungsmittel ausgelöst.6-7
Ätiologie und Pathogenese
Ätiologie
- Von mehr als 1.000 Substanzen ist derzeit eine potenziell leberschädigende Wirkung bekannt.1
- Eine Recherche auf leberschädigende Substanzen kann über die Datenbank Livertox des National Institute of Health durchgeführt werden.
- Livertox enthält Informationen (einschließlich klinischem Bild, Produktinformation, ggf. Fallberichte und weiterführende Literatur) zu:8
- rezeptpflichtigen Arzneimittel
- OTC-Arzneimitteln
- Phytopharmaka
- Nahrungsergänzungsmitteln.
Synthetische Arzneimittel
- Am häufigsten führen Antibiotika zu DILI, folgende Medikamente wurden in prospektiven Studien besonders häufig als Ursache für DILI identiifziert:9
- Amoxicillin-Clavulansäure10
- Isoniazid
- Nitrofurantoin
- Azathioprin
- Trimethoprim/Sulfamethoxazol
- Flutamid
- Infliximab
- Diclofenac
- Ibuprofen
- Minocyclin.
Phytopharmaka und Nahrungsergänzungsmittel
- Steigende Tendenz von Leberschädigungen durch komplementärmedizinische Produkte11
- Das leberschädigende Potenzial „natürlicher“ Substanzen wird von Patient*innen und manchmal auch Ärzt*innen unterschätzt.12
- meist frei verkäuflich, weniger strenge Regulierung hinsichtlich des Nachweises von Wirksamkeit und Sicherheit12
- Beispiele für potenziell leberschädigende Präparate sind u. a.:
Pathogenese
- Pathogenetisch werden vor allem zwei Mechanismen der Leberschädigung unterschieden: direkte toxische und idiosynkratische.
- Direkte toxische Leberschädigungen sind:1,3,8,15
- häufig
- vorhersehbar
- im Tiermodell reproduzierbar
- dosisabhängig (hohe therapeutische Dosen oder versehentliche Überdosierung)
- rasches Auftreten (1–5 Tage)
- Schädigung direkt durch die Substanz oder durch ein toxisches Zwischenprodukt der Substanz
- Typisches Beispiel für eine Substanz mit direkter toxischer Leberschädigung ist Paracetamol.
- Idiosynkratische Leberschädigungen sind:1,3,8,15
- selten
- nicht vorhersehbar
- im Tiermodell nicht reproduzierbar
- nicht dosisabhängig (tritt auch bei normaler Dosis auf)
- Auftreten nach Latenz (1–5 Wochen, bei Reexposition schneller).
- Bei den Substanzen mit idiosynkratischer Schädigung wird eine immunologische Gruppe mit Zeichen der Allergie/Hypersensitivität (Fieber, Eosinophilie, Autoantikörper) von einer metabolisch-toxischen Gruppe unterschieden.15
- Typisches Bespiel für eine Substanz mit potenzieller idiosynkratischer Leberschädigung ist Amoxicillin-Clavulansäure.
Klinisches und laborchemisches Bild
- Variables Bild, das primär nicht von anderen Lebererkrankungen unterschieden werden kann.1
- Häufig keine eine oder nur wenige Beschwerden, möglich sind:1
- Übelkeit
- Müdigkeit
- Schmerzen im Bereich der Leber
- Ikterus (5 %)
- Fieber
- Hautausschlag.
Enzymatische Muster
- Grundsätzlich kann DILI mit jedem Muster an Leberenzymveränderungen einhergehen, folgende Grundmuster der Leberschädigung können unterschieden werden:1,15-17
- hepatozellulär
- cholestatisch
- GPT normal, AP erhöht, GPT/AP niedrig (≤ 2)
- Auslösende Substanzen z. B. Amoxicillin-Clavulansäure, Erythromycin, anabole Steroide, Kontrazeptiva
- Mischtyp
- GPT erhöht, AP erhöht, GPT/AP 2–5
- auslösende Substanzen z. B. Clindamycin, Azathioprin, Phenytoin, Carbamazepin, Nitrofurantoin.
- Zudem liegt ein Leberschaden vor, wenn das Gesamtbilirubin mehr als 2-fach erhöht ist.17
- Ein Bilirubinanstieg zeigt eine ernstzunehmende Situation an.18
Klassifikation des Schweregrades
- Die International DILI Expert Working Group schlägt zur Beurteilung des Schweregrades folgende Klassifikation vor (ULN = Upper Limit of Normal):19
- Mild
- GPT ≥ 5 ULN oder AP ≥ 2 ULN und Gesamtbilirubin < 2 ULN
- Moderat
- GPT ≥ 5 ULN oder AP ≥ 2 ULN und Gesamtbilirubin ≥ 2 ULN oder
- symptomatische Hepatitis
- Schwer
- Fatal
- Notwendigkeit zur Lebertransplantation oder Tod
Prädisponierende Faktoren
Patientenbezogene Faktoren19-20
- Alter
- Zunahme mit dem Alter (möglicherweise nur Ausdruck der häufigeren Einnahme von Medikamenten)
- Geschlecht
- ähnliche Zahlen für Frauen und Männer, höheres Risiko bei Frauen für Progress zum Leberversagen
- Vorbestehende Lebererkrankung
- Nicht-alkoholische Fettleber (NAFLD)21 ist ein potenzieller Faktor für ein erhöhtes DILI-Risiko.
- höhere Rate an schweren Verläufen von DILI bei Lebererkrankung
- Genetik
- Assoziation mit bestimmten HLA-Genotypen
Substanzbezogene Faktoren19-20
- Dosis
- 70–80 % der Fälle bei täglichen Dosen einer Substanz ≥ 50 mg
- Metabolismus
- gehäuftes Auftreten bei Substanzen mit > 50 % hepatischem Metabolismus
- Lipophilität
- erhöhtes Risiko bei stark lipophilen Substanzen
ICPC-2
- D97 Lebererkrankung NNB
ICD-10
- K71 Toxische Leberkrankheit
- K71.0 Toxische Leberkrankheit mit Cholestase
- K71.1 Toxische Leberkrankheit mit Lebernekrose
- K71.2 Toxische Leberkrankheit mit akuter Hepatitis
- K71.3 Toxische Leberkrankheit mit chronisch-persistierender Hepatitis
- K71.4 Toxische Leberkrankheit mit chronischer lobulärer Hepatitis
- K71.5 Toxische Leberkrankheit mit chronisch-aktiver Hepatitis
- K71.6 Toxische Leberkrankheit mit Hepatitis, anderenorts nicht klassifiziert
- K71.7 Toxische Leberkrankheit mit Fibrose und Zirrhose der Leber
- K71.8 Toxische Leberkrankheit mit sonstigen Affektionen der Leber
- K71.9 Toxische Leberkrankheit, nicht näher bezeichnet
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Die wichtigsten diagnostischen Elemente sind:4
- genaue Anamnese
- Kenntnis des hepatotoxischen Potentials einer Substanz
- Erfassung des Phänotyps (enzymatisches Muster, klinische Beschwerden)
- Ausschluss anderer Ursachen eines Leberschadens.
- Es gibt keinen spezifischen diagnostischen Marker für DILI.4
Differenzialdiagnosen
- Virushepatitis
- Autoimmune Hepatitis
- Alkoholhepatitis
- Nicht-alkoholische Fettleber
- Hypoxische/ischämische Hepatopathie (z. B. bei chronischer Herzinsuffizienz)
- Genetische Hepatopathien
- Hämochromatose
- M. Wilson
- Alpha-1-Antitrypsinmangel
- Cholangiopathien
- Gallensteinleiden
- primär-biliäre Zirrhose
- primär sklerosierende Cholangitis
- Vaskulopathien
- Pfortaderthrombose
- Budd-Chiari-Syndrom
- sinusoidales Obstruktionssyndrom
- Neubildungen
- fokale noduläre Hyperplasie
- Leberzelladenom
- Leberzellkarzinom
- Cholangiokarzinom
Anamnese
- Genaue Anamnese nach potenziell hepatotoxischen Substanzen (evtl. länger zurückliegende und nur zwischenzeitliche Einnahme)
- synthetische Medikamente
- Phytopharmaka
- Nahrungsergänzungsmittel
- Beginn der Einnahme
- Dauer der Einnahme
- Dosierung
- Alkoholkonsum?
- Erhöhtes Risiko für infektiöse Hepatitis? (Reise-, Drogen-, Sexualanamnese)
- Vorbestehende Lebererkrankung, Gallengangserkrankung?
Untersuchungsbefunde
- Mögliche Befunde sind:
- erhöhte Temperatur
- Ikterus
- Hautausschlag
- schmerzhaft palpable Leber
- dunkel gefärbter Urin.
Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis
Labor
- Bis jetzt sind noch keine spezifischen Biomarker im Blut für die Diagnose von DILI definiert.11
- Basislabor
- Ggf. serologische Untersuchungen zum Ausschluss anderer akuter oder chronischer Lebererkrankungen (siehe Differenzialdiagnosen)
Sonografie
- Eine Sonografie des Abdomens ist bei allen Patient*innen mit V. a. DILI empfohlen.19
- Ausschluss anderer Leber- und Gallengangserkrankungen
Diagnostik bei Spezialist*innen
Bildgebung
- CT/MRT im Einzelfall zum Ausschluss anderer Ätiologien
Leberbiopsie
- Kann im Einzelfall im Rahmen der Abklärung indiziert sein.19
- Histopathologische Schädigungsmuster sind nicht spezifisch für eine medikamentös induzierte Leberschädigung.15
- Klinische und histopathologische Schädigung korrelieren nur bedingt.15
Genetische Untersuchung
- Keine generelle Empfehlung, HLA-Genotypisierung für spezielle Fragestellungen19
Indikationen zur Überweisung/Klinikeinweisung
- Klinische und/oder laborchemische Zeichen einer höhergradigen Leberschädigung
- V. a. Leberversagen
Therapie
Therapieziel
- Normalisierung der Leberfunktion
Allgemeines zur Therapie
- Die entscheidende therapeutische Maßnahme ist das Absetzen der auslösenden Substanz.1
- Ein Rückgang erhöhter Leberwerte erfolgt meist innerhalb von Tagen bis Wochen.2
Spezielle Therapie
Medikamentöse Therapie
- Im Allgemeinen besteht keine Indikation für eine spezifische medikamentöse Therapie.
- Im Einzelfall können abhängig von der auslösenden Substanz erwogen werden:19
- N-Acetyl-Cystein (z. B. bei Paracetamol)
- Cholestyramin (z. B. bei Leflunomid)
- Carnitin (z. B. bei Valproat).
Lebertransplantation
- Ultima Ratio bei akutem Leberversagen22
Prävention
- Gemäß der DEGAM-Leitlinie „Medikamentenmonitoring“ sollen bei folgenden Medikamenten Kontrollen der Leberwerte (Gamma-GT) durchgeführt werden:23
- Azathioprin, Leflunomid, Mesalazin/Sulfasalazin, Methotrexat, Dronedaron, NOAK, Phenytoin, Valproat, Carbamazepin, Primidon, Agomelatin, Phenprocoumon.
- Ist es schon einmal zu einer arzneimittelbedingten Leberschädigung gekommen, sollte dies dokumentiert werden.
Verlauf, Komplikationen, Prognose
Komplikationen
- Akutes Leberversagen
- Leberzirrhose
- Portale Hypertonie
- Vanishing Bile Duct Syndrome
Prognose
- Die meisten Patient*innen erholen sich ohne Langzeitschäden.24
- Mit längerer Dauer der Einnahme einer Substanz scheint das Risko für chronische Verläufe zuzunehmen.24
- Bei Fällen mit Cholestase sind prolongierte Verläufe häufiger.5
- Die ungünstigste Prognose haben Patient*innen mit hepatozellulärem Schadensmuster (keine Cholestase) und Ikterus, hier beträgt die Letalität um 10 %.4
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Leitlinie
- Deutsche Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten. Nicht-alkoholische Fettlebererkrankungen. AWMF-Leitlinie Nr. 021-025. S2k, Stand 2022. www.awmf.org
- Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Medikamentenmonitoring. AWMF-Leitlinie 053-037. S1, Stand 2013. www.awmf.org
Literatur
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Autor*innen
- Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.
- Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).