Zum erneuten Nachdenken über interkulturelle Kommunikationsschwierigkeiten hat mich ein junger afghanischer Patient gebracht, bei dem ich fälschlicherweise zuerst von einer sexuellen Funktionsstörung, einer erektilen Dysfunktion, ausgegangen bin. Er hatte berichtet, dass er keinen Sex mit Frauen haben könne, dass das nicht „funktioniere". Erst nach einem längeren Gespräch zeigte sich, dass er aber sehr gerne Sex mit Männern haben würde. Aufgrund seiner Herkunft und seines kulturellen Hintergrunds habe er das noch nie jemandem erzählt. Seine Familie würde ihn verstoßen, wenn das bekannt würde, und in ein paar Monaten müsste er heiraten. Tragischerweise kann ihm kein Arzt dabei helfen, dass es mit der Frau „funktionieren" wird.
Dass bei der Kommunikation mit Patientinnen und Patienten aus unterschiedlichen Herkunftsländern und mit unterschiedlichem sozialen Hintergrund sensibel vorgegangen werden sollte, ist eine tägliche Herausforderung in der Praxis. So werden in vielen Kulturen psychische Erkrankungen, wie z.B. PTBS, Angststörung oder Depression, als stigmatisierend empfunden und auch bei solchen Problemen nur körperliche Symptome (z. B. diffuse Schmerzen in Rücken und Nacken) berichtet. Dass hier auch oft ein Mischbild, kombiniert mit einer somatoformen Störung, vorliegt, ist keine Seltenheit. Auch von schambehafteten gesundheitlichen Problemen, wie z.B. Hämorrhoiden, sexuell übertragbaren Erkrankungen (z.B. Kondylomen) oder sogar nur von den Symptomen eines Harnwegsinfekts zu berichten, fällt vielen Patienten schwer. Hier sind ebenfalls Missverständnisse vorprogrammiert und oft längere Gespräche notwendig, um zum Kern der Sache vorzudringen. In vielen Kulturen wird auch eine ganz andere Rolle und ein anderer Kommunikationsstil als hierzulande üblich von uns Ärzten erwartet: Ärzte sollen lieber paternalistisch für die Patienten entscheiden, als die Patienten in Entscheidungsprozesse mit einzubeziehen.
Im Bemühen, auf solche Besonderheiten einzugehen und den Patientinnen und Patienten in ihrem gesamten sozialen und kulturellen Kontext gerecht zu werden, kann man allerdings auch mal über das Ziel hinausschießen. Das zeigt das Beispiel einer türkischstämmigen Patientin, die sich aufgrund eines starken Hustens bei einer Pneumonie in Kombination mit einer bekannten Osteoporose mehrere Rippen gebrochen hatte. Sie wurde im Krankenhaus von den Ärzten regelrecht bekniet: Sie solle doch zugeben, dass ihr Ehemann sie misshandle, man wolle ihr so gerne helfen. Dass die Patientin eine berufstätige unverheiratete Akademikerin ist, passte nicht ins Bild.
Marlies Karsch, Chefredakteurin
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