Spontane vaginale Geburt

Allgemeine Informationen

Definition

  • Die normale, spontane, vaginale Geburt zum Termin ist die physiologische und auch häufigste Form der Geburt; sie ist gekennzeichnet durch:1
    • Zeitpunkt: Schwangerschaftswoche (SSW) 37+0 bis 41+6
    • Einling
    • Das Kind wird aus Schädellage geboren.
    • spontaner Beginn
    • spontane vollständige Geburt der Nachgeburt
    • Blutverlust der Mutter max. 500 ml.
  • Davon abzugrenzen ist u. a. der vorzeitige Blasensprung.
    • Blasensprung vor Geburtsbeginn am Termin (≥ 37+0 SSW), d. h. ohne Wehen1
      • Es soll keine vaginale Untersuchung (Palpation, Spekulum) erfolgen, wenn sicher ist, dass die Fruchtblase gesprungen ist.1
    • Ein Vorteil durch einen Liegendtransport in die Geburtsklinik, um einem Nabelschnurvorfall entgegenzuwirken, ist nicht erwiesen, wird aber mehrheitlich empfohlen.2
  • Hausärzt*innen sind selten in Geburten involviert, a. e. präklinisch im Rahmen des Notdienstes.
    • Wenn die Geburt zu weit fortgeschritten ist, ist u. U. ein Transport in eine Klinik nicht mehr möglich, und das Kind muss vor Ort geboren werden.

Häufigkeit

  • Die Mehrheit der Geburten sind spontane vaginale Geburten am Termin.
    • Die überwiegende Mehrheit findet in der Geburtsklinik statt.
  • In der hausärztlichen Tätigkeit kommen Geburten sehr selten vor.

Kontraindikationen für eine vaginale Geburt

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.3
  • Vollständige Placenta praevia
  • Herpes-simplex-Virus-Infektion mit aktiven Genitalläsionen oder Prodromalsymptomen
  • Z. n. Uterusruptur
  • Vorausgegangene Operationen am Corpus uteri
    • je nach OP, erhöhtes Risiko eines Aufreißens der Narbe
  • Vorausgegangener Kaiserschnitt mit einer Längsinzision
  • Unbehandelte HIV-Infektion
  • Querlage
  • Nabelschurvorfall
  • Absolutes Kopf-Becken-Missverhältnis

Geburt – Ablauf

  • Der gesamte Abschnitt basiert, soweit nicht anders gekennzeichnet, auf dieser Referenz.1

Geburtsbeginn

  • Beginn regelmäßiger, schmerzhafter und progressiver Wehentätigkeit
  • Traditionell wird die Geburt in drei Stadien eingeteilt:
    1. Eröffnungsphase
      • Zeitraum vom Beginn der Wehen bis zur vollständigen Erweiterung des Gebärmutterhalses
    2. Austreibungsphase
      • Beginnt bei vollständiger Öffnung des Muttermunds und endet mit der Geburt des Kindes.
    3. Nachgeburtsphase, endet mit der Geburt der Plazenta.

Stadium I der Geburt: Eröffnungsphase

  • Latenzphase (frühe Eröffnungsphase)
    • Die Zeitspanne von Geburtsbeginn bis zu einer Muttermundöffnung von 4–6 cm.
  • Aktive Eröffnungsphase
    • die Zeitspanne von einer Muttermundöffnung von etwa 4–6 cm bis zur vollständigen Muttermundöffnung
    • Am Ende der Eröffnungsphase kommt es bei regelgerechtem Geburtsablauf zum Blasensprung.
    • Schmierblutungen, ein sog. „Zeichnen“, kann auftreten.
  • Durchschnittliche Dauer
    • latente Phase: bei Erstgebärenden etwa 6 Stunden; bei Zweit- oder Mehrgebärenden etwa 4 Stunden
    • aktive Phase: im Median 3,7–5,9 h bei normalen Geburten ohne Risikofaktoren4
  • Die häufigste Intervention, die in Stadium I erfolgt, ist die Schmerzlinderung.
    • nichtpharmakologische Maßnahmen
      • Beispiele sind eine bequeme Liegeposition, ggf. das Umherlaufen, eine Aromatherapie und die Akupressur, Atemübungen, ein Bad und eine Massage
    • pharmakologische Schmerzhemmung
      • Mittel der 1. Wahl ist die Epiduralanästhesie.
      • Alternativ systemische Opioide – Cave: vorsichtige Dosierung wegen Risiko der Atemdepression bei Mutter und Kind; präklinisch äußerste Zurückhaltung!

Stadium II der Geburt: Austreibungsphase

  • Latente/passive Austrittsphase
    • vollständige Muttermundöffnung und (noch) ohne Pressdrang
  • Aktive/späte Austrittsphase
    • Kind sichtbar und/oder reflektorischer Pressdrang bei vollständig eröffnetem Muttermund bzw. aktives Pressen ohne reflektorischen Pressdrang
      • Die Gebärende sollte sich von ihrem eigenen Pressdrang leiten lassen Es gibt keine Evidenz guter Qualität dafür, dass „angeleitetes Pressen“ einen positiven Effekt auf das Geburts-Outcome hat.
    • Die Harnblase sollte möglichst entleert sein.
    • Fundusdruck soll möglichst nicht ausgeübt werden. Nur unter strenger Indikationsstellung kann diese Maßnahme erwogen werden.
    • Sowohl die „Hands-on“- („Dammschutz“) als auch die „Hands-off“-Technik (kein „Dammschutz“: die Hände der Hebamme berühren weder den Damm der Gebärenden noch den kindlichen Kopf, die Hebamme kann aber jederzeit eingreifen) können bei der Geburt des Kindes angewandt werden.
      • Dammschutz: dem Druck des austreibenden kindlichen Kopfes wird mit der einen Hand entgegengewirkt. Dabei kann die andere Hand den Damm umgreifen.2
    • Der Fetus wird durch das Becken der Mutter gepresst und geboren.

Stadium III der Geburt: Nachgeburtsphase

  • Die Nachgeburtsphase umfasst den Zeitpunkt von der Entwicklung des Neugeborenen bis zum vollständigen Vorliegen der Plazenta und der Eihäute.
  • In dieser Phase zieht sich die Uterusmuskulatur zusammen, wodurch der Blutverlust der Mutter begrenzt wird, sobald sich die Plazenta von der Gebärmutterwand löst.5
  • Durchschnittliche Dauer
    • Sowohl bei Erst- als auch bei Mehrgebärenden dauert diese Phase 5–10 min.
    • Ist sie nach 30 min noch nicht abgeschlossen, kann eine Intervention erforderlich werden.
  • Es erfolgt die Durchtrennung der Nabelschnur.
  • Der Apgar-Wert soll 1, 5 und 10 min nach der Geburt erhoben und dokumentiert werden.
  • Um das Neugeborene warm zu halten, soll es mit einer warmen, trockenen Decke oder Handtuch abgetrocknet und bedeckt werden, während der Haut-zu-Haut-Kontakt zur Mutter aufrechterhalten wird.

Praktisches Vorgehen bei bevorstehender Geburt

  • In der hausärztlichen Tätigkeit kommt man selten in die Situation, zu einer Geburt zu Hilfe gerufen zu werden.
  • Ist dies jedoch der Fall, gilt es zunächst festzustellen, ob ein Transport ins Krankenhaus (noch) möglich ist oder ob die Geburt vor Ort durchgeführt werden muss.

Anamnese

  • Bei der Erstbeurteilung einer Gebärenden sollen folgende Informationen erhoben werden:1
    • Schwangerschaftswoche
    • Schwangerschaftsverlauf
    • Dauer, Stärke und Frequenz der Wehen
    • vaginale Blutung, Schleim- oder Fruchtwasserabgang
    • Kindsbewegungen in den letzten 24 Stunden.
  • Dem Mutterpass können die folgenden relevanten Angaben entnommen werden:
    • Schwangerschaftswoche
    • Lage des Kindes6
    • Schädellage (SL): Geburt vor Ort möglich
    • Beckenendlage (BEL) oder Querlage (QL): keine Geburt vor Ort möglich
    • Parität (wievieltes Kind) Erstgebärende oder Mehrgebärende?
    • Vorerkrankungen
    • Komplikationen vorangegangener Geburten
    • Geburtsmodus vorangegangener Geburten
    • Verlauf von Schwangerschaft und Kindsentwicklung
    • Risikofaktoren

Klinische Untersuchung

  • Maternale Herzfrequenz, Blutdruck, Temperatur
  • Vaginale Untersuchung zur Beurteilbarkeit des kindlichen Köpfchens7
    • Kontraindikation: stärkere Blutung (v. a. Placenta praevia)
    • Kopf und nichts Weiches tastbar: Geburt vor Ort
    • nichts tastbar: Zeit für den Transport ins Krankenhaus
    • „etwas Weiches“ tastbar (Fehllage oder sehr selten Nabelschnurvorfall)
      • Geburt unmöglich, Transport ins Krankenhaus mit notärztlicher Begleitung!
  • Kindliche Herztöne
    • Für Ungeübte schwierig zu eruieren, zeitraubend.
    • Bei schlechten Herztönen ergibt sich präklinisch keine Konsequenz.
    • Daher präklinisch nicht sinnvoll.7

Zeichen einer einsetzenden Geburt

  • Der Geburtsvorgang ist so weit vorangeschritten, dass eine Entbindung vor Ort sinnvoll ist:6
    • regelmäßige Wehen < 2 min
    • Presswehen, Pressdrang
    • Kindskopf in der Vulva sichtbar oder tastbar7
    • Klaffen des Anus
    • Abgang von Blut („Zeichnen“)
    • Die Fruchtblase ist (rechtzeitig) geplatzt.

Kontraindikationen für eine präklinische Geburt

Geburt Durchführung

  • Für eine ruhige und warme Umgebung sollte gesorgt werden.
  • Die werdende Mutter sollte sich in eine für sie angenehme Position begeben.1
    • Die Rückenlage sollte wegen der Gefahr des V.-cava-Kompressionssyndroms vermieden werden.1
    • Ausreichend Platz sollte vorhanden sein.
    • Reichlich saugfähige Unterlagen, nach Möglichkeit auch sterile Unterlagen bereithalten.2
      • Ein Stuhlabgang ist in der Pressphase nicht ungewöhnlich.
    • Die Harnblase sollte möglichst entleert sein.
    • I. v. Zugang legen.1
  • Geburt des Kopfes
    • Abwartend, geht meist von selbst.
    • Es darf nicht am Kopf des Kindes gezogen werden.
    • bei stockender Geburt7
      • ggf. Kristeller-Handgriff bei stockender Geburt: starker Druck durch Arm oder Hand von Geburtshelfer*in auf den Fundus uteri
      • mediolaterale Episiotomie bei Weichteilsperre7
      • Der Winkel zur Vertikalen soll zum Zeitpunkt der Durchführung (→ am gespannten Damm) 60 Grad zur Vertikalen betragen und nicht unmittelbar in der Medianlinie beginnen. Die Länge soll der Scherenbranche entsprechen.7
    • In der Regel wird schaut das Kind beim Austritt des Kopfes in Richtung Rücken der Mutter und der Kopf des Kindes dreht sich von selbst in seitliche Richtung.7
    • Wenn der Kopf geboren ist, ist ein Eingreifen der Helfer*innen nun notwendig, der Körper sollte innerhalb der nächsten 2 Wehen geboren werden.7
  • Geburt des kindlichen Körpers6-7
    • Fassen des kindlichen Kopfes
    • Zur Entwicklung der vorderen Schulter den seitlich schauenden Kopf senken, bis Oberarm des Kindes sichtbar.
    • Zur Entwicklung der hinteren Schulter den Kopf anheben (nicht ziehen).
  • Erstversorgung des Kindes
    • Freimachen der Atemwege durch Abwischen von Nase und Mund
    • Abtrocknen und Wärmeerhalt des Kindes, am besten mit trockenen Tüchern und Lage auf der Brust der Mutter1
    • Uhrzeit notieren (Geburtszeit = vollständiger Austritt des Kindes aus dem Mutterleib).
    • APGAR-Score erheben nach 1, 5 und 10 min.8
    • Hautkolorit (blau oder weiß/Stamm rosig, Extremitäten blau/rosig)
    • Herzfrequenz (keine/< 100 pro min/> 100 pro min)
    • Reflexe (keine/Grimassieren/Husten, Niesen, Würgen, Schreien)
    • Tonus (schlaff/mittel, Flexion/Spontanbewegung)
    • Atmung (keine/Schnappatmung, Tachypnoe, Einziehungen etc./regelmäßig kräftiges Schreien)
    • Vergabe von 0, 1 oder 2 Punkten je Parameter
    • Siehe auch Untersuchung des Neugeborenen.
  • Überprüfung der kindlichen Herztöne
  • Überwachung der Mutter
  • Abnabelung
    • 2 sterile Klemmen, sterile Schere oder Skalpell, 2 sterile Kompressen
    • frühestens 1 min nach vollständiger Geburt, aber möglichst innerhalb von 5 min1
    • Ca. 20 cm vom Kind entfernt die Klemmen im Abstand von 3 cm setzen und dazwischen durchtrennen.6
  • Krankentransport organisieren und die aufnehmende Klinik kontaktieren.
    • Die Nachgeburt sollte nicht abgewartet werden.6-7
    • Falls die Plazenta geboren wurde, Überprüfung auf Vollständigkeit.
    • Bei geringer Expertise nicht einfach, alternativ mitnehmen in die Geburtsklinik zur dortigen Überprüfung.

Komplikationen

Nabelschnurvorfall2

  • (Prävalenz: 0,1–0,6 %)
  • Nabelschnur im Geburtskanal sicht- oder tastbar
  • Die Geburt darf nicht fortgeführt werden.
    • Sofortiges Hinlegen der Mutter, Becken hoch lagern.
    • medikamentöse Tokolyse mit regelhaft mit Beta-2-Sympathomimetika, z. B.  Fenoterol oder Salbutamol 2–5 Hübe p. i.9
    • Kind zurück schieben und zurückgeschoben halten.
    • sofortiger Transport in die Geburtsklinik mit notärztlicher Begleitung

Schulterdystokie2

  • Geburt des kindlichen Köpfchens bei hinter der Symphyse feststehenden Schultern
    • Turtle-Phänomen (Kopf zieht sich leicht zurück)
    • Die anteriore Schulter kann nicht entwickelt werden.
    • akut bedrohliche Situation für das Kind
      • Gefahr des Plexus-brachialis-Schadens mit Armlähmung
      • Nabelschnurversorgung kann unterbrochen sein. Gefahr der Asphyxie.
  • Maßnahmen
    • Mc-Roberts-Manöver
      • Zwei Helfer*innen strecken zuerst die Beine der Gebärenden – am besten sogar überstrecken.
      • Dann werden die Beine in Hüfte und Knie gebeugt und schnell zum Bauch geführt.
      • Ggf. gleichzeitig etwas Druck oberhalb der Symphyse ausüben.
      • Kann mehrfach durchgeführt werden.
      • Meist gelingt dann die Entwicklung der Schulter.
    • alternativ Wechsel der mütterlichen Position in den Vierfüßlerstand

Postpartale Blutung7

  • Ein Blutverlust bis 500 ml im Rahmen der Nachgeburt ist normal.
  • Bei mehr Blutverlust – Maßnahmen zur Blutstillung
    • Entfernung der Plazenta durch leichten Zug an der Nabelschnur
    • zwei großlumige Zugänge, Volumensubstitution
    • straffe Tamponade der Scheide, z. B. durch ein Handtuch
    • Fritsche-Lagerung: Lagerung mit übereinandergeschlagenen Beinen
    • manuelle Kompression des Fundus uteri zur Reduktion der Blutung
  • Schnellstmöglicher Transport in die Klinik mit notärztlicher Begleitung

Quellen

Leitlinie

  • Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e. V. (DGGG), Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaft e. V. Die vaginale Geburt am Termin. AWMF-Register Nr. 015-083. S3, Stand 2020. www.awmf.org

Literatur

  1. Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e. V. (DGGG), Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaft e. V. Die vaginale Geburt am Termin. AWMF-Register Nr. 015-083. S3, Stand 2020. register.awmf.org
  2. Pecks U, Bauerschlag DO. Notfälle in Gynäkologieund Geburtshilfe. Teil 2: Notfälle in der späten Schwangerschaft und Geburt. Frauenheilkunde up2date 2·2017 11 (2): 139–153. d-nb.info
  3. Keiner F. Facharztwissen Geburtsmedizin. Elsevier Verlag, 4. Ausgabe 2021, S. 807.
  4. Abalos E, Oladapo OT, Chamillard M, Díaz V, Pasquale J, Bonet M, Souza JP, Gülmezoglu AM. Duration of spontaneous labour in 'low-risk' women with 'normal' perinatal outcomes: A systematic review. Eur J Obstet Gynecol Reprod Biol. 2018 Apr;223:123-132. www.ncbi.nlm.nih.gov
  5. Begley CM, Gyte GML, Devane D, McGuire W, Weeks A. Active versus expectant management for women in the third stage of labour. Cochrane Database of Systematic Reviews 2015, Issue 3. Art. No.: CD007412. DOI: 10.1002/14651858.CD007412.pub4. DOI
  6. Kuhnke R, Meißner W. Geburt im Rettungsdienst – Das sollten sie wissen für die Ergänzungsprüfung. retten! 2018; 07(02): 96-103. www.thieme-connect.de
  7. Mallmann P. Geburt im Rettungsdienst - Wann müssen Sie handeln? Der Allgemeinarzt, 2013; 35 (13) Seite 38-40. www.doctors.today
  8. Gortner L, Meyer S. Duale Reihe Pädiatrie. Stuttgart. Georg Thieme Verlag KG, 2018.
  9. Secci A, Ziegenfuß T. Checkliste Nofallmedizin. Thieme Verlag, 4. Auflage 2009, S. 361. shop.thieme.de

Autor*innen

  • Franziska Jorda, Dr. med., Fachärztin für Viszeralchirurgie, Ärztin in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Kaufbeuren
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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