Psychopathologischer Befund

Definition

  • Der Bereich Psychopathologie umfasst Erkennen und Beschreiben abweichenden Erlebens und Verhaltens.
  • Der psychopathologische Befund ergänzt die Anamnese und klinische Untersuchung bei psychischen Begleitsymptomen, Syndromen oder Diagnosen.
  • Die psychopathologische Befunderhebung sollte möglichst standardisiert erfolgen (psychopathologische Fachsprache), um eine Untersucherabhängigkeit bestmöglich zu vermeiden.1-2
  • Beispiele wichtiger und häufiger psychiatrischer Syndrome bzw. Krankheitsbilder:1

Allgemeines zur Befunderhebung

  • Umfassende psychopathologische Beurteilung benötigt eine ruhige Umgebung und ausreichend Zeit.
    • in der ambulanten Behandlungssituation oft nicht umsetzbar3
    • z. T. mangelnde Kooperationsfähigkeit/-bereitschaft bei der Befunderhebung1
    • Nichtsdestotrotz können einzelne Aspekte beurteilt werden.
  • Anamnese- und Befunderhebung in Akutsituationen oft nur unvollständig möglich
    • in Notfallsituationen Befund mit Fokus auf wesentliche Kernfragen:1
      • vitale Gefährdung (insbesondere Eigen- oder Fremdgefährdung)
      • somatische oder psychiatrische Behandlungsnotwendigkeit
      • stationäre oder ambulante Behandlungsnotwendigkeit
  • In vielen Fällen erfolgt die Beurteilung durch nicht psychiatrisch ausgebildete Ärzt*innen.
  • Faktoren, die in die Beurteilung einbezogen werden sollten:
    • Kultur
    • Muttersprache
    • Bildungsstand
    • sozioökonomischer Status
    • außergewöhnliche Belastungssituationen

Psychopathologischer Befund nach AMDP-System

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf dieser Referenz.2

AMDP-System

  • Die Arbeitsgemeinschaft für Dokumentation und Methodik in der Psychiatrie (AMDP) erarbeitet internationale Standards zur methodischen Dokumentation psychiatrischer Befunde.2
    • Das Manual zur Dokumentation des psychischen Befundes ist 2023 in der 11. Auflage erschienen.
  • Psychopathologische Befunderhebung und Dokumentation in Deutschland meist anhand des AMDP-Systems1-2
    • Das Manual umfasst:
      • Anamnese
      • psychopathologischer Befund (100 Merkmale)
      • somatische Symptome (40 Symptome)

Anamnese

  • Geschlecht und Geburtsdatum
  • Wohnsituation
  • Zusammenleben
  • Schulbildung
  • Erwerbstätigkeit
  • Setting (ambulant, stationär, Begutachtung)
  • Untersuchungsgrund
  • Krankheitsverlauf
  • Psychische Störungen in der Familie
  • Schweregrad der Erkrankung
  • (Vor-)Diagnosen

Psychopathologischer Befund

  • Fremdbeurteilungsverfahren (Beurteilung aller Merkmale durch Untersucher*in)
  • Die erhobenen Merkmale basieren auf verschiedenen Quellen:
    • S (= Selbst): Selbstaussage; Datenquelle Patient*in
    • F (= Fremd): Fremdbeobachtung; Datenquelle Untersucher*in, Pflegepersonal, Angehörige und andere
    • SF (= Selbst/Fremd): beide Datenquellen

Bewusstsein

  • Bewusstseinsverminderung (F)
  • Bewusstseinstrübung (F)
    • qualitative Störung der Bewusstseinsklarheit
    • z. B. bei Delir
  • Bewusstseinseinengung (SF)
    • Einengung des Erlebens, reduziertes Ansprechen auf Außenreize
  • Bewusstseinsverschiebung (S)
    • intensiveres oder klareres Erleben als üblich
    • z. B. bei Schizophrenie

Orientierung

  • Zeitliche Orientierungsstörung (S)
  • Örtliche Orientierungsstörung (S)
  • Situative Orientierungsstörung (S)
  • Orientierungsstörung über die eigene Person (S)

Aufmerksamkeit und Gedächtnis

  • Auffassungsstörungen (SF)
    • Einschränkung beim Verständnis von Äußerungen und Texten
  • Konzentrationsstörungen (SF)
    • Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit gestört
    • z. B. bei ADHS
  • Merkfähigkeitsstörungen (SF)
    • Einschränkung der kurzzeitigen Merkfähigkeit (ca. 10 min)
  • Gedächtnisstörungen (SF)
    • Einschränkung des Abrufes von Gedächtnisinhalten (> 10 min)
    • z. B. bei Demenz
  • Konfabulationen
    • Wechselnde, erfundene Einfälle, die Gedächtnislücken füllen.
    • z. B. bei Korsakow-Syndrom
  • Paramnesien
    • Erinnerungsverfälschungen oder -täuschungen, gesteigerte Erinnerungsfähigkeit
    • falsches Wiedererkennen („Déjà-vu“)
    • Ekmnesien: Störungen des Zeiterlebens
    • Hypermnesien: gesteigerte Erinnerungsfähigkeit
    • Flashbacks: intrusive Nachhallerinnerungen
    • Pseudoerinnerungen: falsche Erinnerungen, „False Memory Syndrome“

Formale Denkstörungen

  • Gehemmt (S)
    • als blockiert oder gebremst empfundenes Denken
  • Verlangsamt (F)
    • verlangsamter, schleppender Denkprozess
  • Umständlich (F)
    • ausschweifendes Erzählen ohne Trennung von Wichtigem und Unwichtigem
  • Eingeengt (F)
    • Beschränkung der Gedanken auf wenige Themen
  • Perseverierend (F)
    • Haftenbleiben an Worten oder Angaben
  • Grübeln (S)
    • Gedankenkreisen, anhaltende Beschäftigung mit unangenehmen Gedanken
  • Gedankendrängen (S)
    • bedrückende Last durch ständig neue Gedanken
  • Ideenflüchtig (F)
    • vermehrte Einfälle ohne Führung, Ziel des Denkens häufig wechselnd
  • Vorbeireden (F)
    • Antworten verfehlen die ursprüngliche Frage.
  • Gesperrt/Gedankenabreißen (SF)
    • plötzlicher, unerklärter Abbruch eines Gedankenganges
  • Inkohärent/zerfahren (F)
    • Unzusammenhängende Gedanken bzw. Gedankenbruchstücke, die nicht nachvollziehbar sind.
  • Neologismen (F)
    • Wortneubildungen und Wortneuschöpfungen, oft unverständlich

Befürchtungen und Zwänge

  • Misstrauen (SF)
  • Hypochondrie (S)
  • Phobien (S)
  • Zwangsdenken (S)
    • repetitiv sich aufdrängende Gedanken
  • Zwangsimpulse (S)
    • Repetitiv sich aufdrängende Gedanken, bestimmte Handlungen auszuführen.
  • Zwangshandlungen (S)
    • unsinnige oder übertriebene repetitive Handlungen

Wahn

  • Siehe Artikel Wahnvorstellungen.
  • Wahnstimmung (S)
    • Gefühl einer bedrohlichen Situation ohne Ursache
  • Wahnwahrnehmung (S)
    • wahnhafte Umdeutung eines realen Ereignisses
  • Wahneinfall (S)
    • plötzliche, wahnhafte Überzeugung ohneAnlass
  • Wahngedanken (S)
    • anhaltende wahnhafte Überzeugungen
  • Systematisierter Wahn (S)
    • Verknüpfungen mehrerer wahnhafter Ideen und Elemente
  • Wahndynamik (SF)
    • Ausmaß Affekte im Zusammenhang mit dem Wahn
  • Beziehungswahn (S)
    • Ereignisse und Beobachtungen werden auf die eigene Person bezogen.
  • Beeinträchtigungs- und Verfolgungswahn (S)
    • Wahrnehmung der Umgebung als feindselig, bedrohend, beleidigend
  • Eifersuchtswahn (S)
    • Wahnhafte Überzeugung, betrogen oder hintergangen zu werden.
  • Schuldwahn (S)
    • Wahnhafte Überzeugung, sich schuldig gemacht zu haben.
  • Verarmungswahn (S)
    • wahnhafte Überzeugung einer finanziellen Notsituation bzw. Verschuldung
  • Hypochondrischer Wahn (S)
    • Wahnhafte Überzeugung, schwer krank zu sein.
  • Größenwahn (S) 
    • wahnhafte Selbstüberschätzung bzw. -überhöhung
    • z. B. bei Manie
  • Andere Wahninhalte (S)

Sinnestäuschungen

  • Siehe Artikel Halluzinationen.
  • Illusionen (S)
    • verfälschte Wahrnehmung der Realität (Gegenstände, Geräusche, Personen)
  • Stimmenhören (S)
  • Andere akustische Halluzinationen (S)
  • Optische Halluzinationen (S)
  • Körperhalluzinationen (S)
    • taktile Halluzinationen
    • Störungen des Leibempfindens (Zönästhesien)
  • Geruchs- und Geschmackshalluzinationen (S)

Ich-Störungen

  • Derealisation (S)
    • Fremdheitsgefühl gegenüber der Umgebung oder dem Zeiterleben
  • Depersonalisation (S)
    • Erleben der eigenen Person als fremd, unwirklich, verändert
  • Gedankenausbreitung (S)
    • Gefühl, dass sich Gedanken über den eigenen Körper in der Umgebung ausbreiten.
    • z. B. bei paranoider Schizophrenie
  • Gedankenentzug (S)
    • Gefühl, dass Gedanken von anderen entnommen werden können.
  • Gedankeneingebung (S)
    • Gefühl, dass Gedanken von der Umwelt beeinflusst, aufgedrängt, gelenkt, gesteuert werden können.
  • Andere Fremdbeeinflussungserlebnisse (S)
    • Gefühl, dass Gefühle, Intentionen, Verhalten oder Körperfunktionen fremdbestimmt werden.

Störungen der Affektivität

  • Ratlos (F)
    • Affekt der Ratlosigkeit
  • Gefühl der Gefühllosigkeit (S)
    • Reduktion/Verlust erlebter Gefühle
  • Affektarm (F)
    • Spektrum gezeigter Affekte reduziert
  • Störung der Vitalgefühle (S)
    • Empfindung einer verminderten Energie und Lebendigkeit
  • Deprimiert (SF)
  • Hoffnungslos (S)
  • Ängstlich (SF)
  • Euphorisch (SF)
  • Dysphorisch (SF)
    • missmutige Verstimmtheit
  • Gereizt (SF)
  • Innerlich unruhig (S)
  • Klagsam/Jammerig (F)
  • Insuffizienzgefühle (S)
  • Gesteigertes Selbstwertgefühl (S)
  • Schuldgefühle (S)
  • Verarmungsgefühle (S)
  • Ambivalent (SF)
    • Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Gefühle
  • Parathymie (F)
    • Gefühl und Erlebnisinhalt stimmen nicht überein.
  • Affektlabil (SF)
    • rascher Wechsel unterschiedlicher Affekte
  • Affektinkontinent (SF)
    • Auslösung unbeherrschbarer Affekte schon bei geringem Anstoß
  • Affektstarr (F)
    • verringerte Schwingungsfähigkeit (Amplitude) der Affekte

Antriebs- und psychomotorische Störungen

  • Antriebsarm (SF)
  • Antriebsgehemmt (S)
  • Antriebsgesteigert (SF)
  • Motorisch unruhig (SF)
  • Parakinesen (F)
    • abnorme, meist komplexe Bewegungsmuster
  • Manieriert/bizarr (F)
    • unnatürliche, verschrobene oder verschnörkelte Bewegungsabläufe
  • Theatralisch (F)
  • Mutistisch (F)
    • Sprachverarmung bis zum Nichtsprechen
  • Logorrhoisch (F)
    • verstärkter Redefluss

Zirkadiane Besonderheiten

  • Morgens schlechter (SF)
  • Abends schlechter (SF)
  • Abends besser (SF)

Andere Störungen

  • Sozialer Rückzug (SF)
  • Soziale Umtriebigkeit (SF)
  • Aggressivität (SF)
  • Suizidalität (SF)
  • Selbstbeschädigung (SF)
  • Mangel an Krankheitsgefühl (S)
  • Mangel an Krankheitseinsicht (S)
  • Ablehnung der Behandlung (SF)
  • Pflegebedürftigkeit (SF)

Somatischer Befund

  • Die erhobenen Merkmale basieren auf verschiedenen Quellen:
    • S (= Selbst): Selbstaussage; Datenquelle Patient*in
    • F (= Fremd): Fremdbeobachtung; Datenquelle Untersucher*in, Pflegepersonal, Angehörige und andere
    • SF (= Selbst/Fremd): beide Datenquellen

Schlafstörungen

  • Siehe Artikel Insomnie.
  • Einschlafstörungen (S)
  • Durchschlafstörungen (S)
  • Verkürzung der Schlafdauer (S)
  • Früherwachen (S)
  • Müdigkeit (SF)

Appetenzstörungen

  • Appetit vermindert (S)
  • Appetit vermehrt (S)
  • Durst vermehrt (S)
  • Sexualität vermindert (S)

Gastrointestinale Störungen

Kardio-respiratorische Störungen

Vegetative Störungen

Weitere Störungen

  • Kopfdruck (S)
  • Rückenbeschwerden (S)
  • Schweregefühl in den Beinen (S)
  • Hitzegefühl (S)
  • Frösteln (S)
  • Konversionssymptome (S)
    • auch: dissoziative Symptome
    • nicht auf einer körperlichen Erkrankung beruhende neurologische Störungen

Neurologische Störungen

  • Rigor (F)
  • Muskeltonus erniedrigt (SF)
  • Tremor (SF)
  • Dyskinesien (SF)
  • Hypokinesien (SF)
  • Akathisie (SF)
  • Ataxie (SF)
  • Nystagmus (F)
  • Parästhesien (S)

Vereinfachter psychischer Befund

Leitlinie: Psychischer Befund1

  • In Akutsituationen und/oder bei psychiatrischen Notfällen häufig Erstbeurteilung durch nicht psychiatrisch ausgebildete oder erfahrene Ärzt*innen
  • Erhebung eines basalen psychischen Befunds empfohlen

Vereinfachter psychischer Befund

  • Bewusstsein
    • quantitatives Bewusstsein
    • qualitatives Bewusstsein
  • Affektivität
    • Stimmung
    • Antrieb
  • Denk- und Wahrnehmungsleistungen
    • Denkleistung
    • Wahrnehmung
  • Kognitive Leistungen
    • Gedächtnis
    • Kognition
  • Anamnese
    • Suizidalität und Fremdgefährdung
    • psychotische Symptome
    • Krankheitseinsicht
    • psychiatrische Vorerkrankungen

Beurteilungsinstrumente

Leitlinie: Geeignete Skalen und Ratinginstrumente1

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN). S2k-Leitlinie Notfallpsychiatrie. AWMF-Leitlinie Nr. 038-023, Stand 2019. register.awmf.org

Literatur

  1. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN). S2k-Leitlinie Notfallpsychiatrie. AWMF-Leitlinie Nr. 038-023, Stand 2019. register.awmf.org
  2. Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation. Das AMDP-System - Manual zur Dokumentation des psychischen Befundes in Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. 11., vollständig überarbeitete Auflage.. Göttingen: Hofgrefe, 2023. www.hogrefe.com
  3. Snyderman D, Rovner BW. Mental status examination in primary care: a review. Am Fam Physician 2009; 80: 809-14. www.ncbi.nlm.nih.gov
  4. Mendez MF, Shapira JS. Loss of insight and functional neuroimaging in frontotemporal dementia. J Neuropsychiatry Clin Neurosci 2005; 17: 413-6. PubMed
  5. Lysaker PH, Buck KD. Insight, outcome and recovery in schizophrenia spectrum disorders: an examination of their paradoxical relationship. Curr Psychiatry Rev 2007; 3: 65-71. www.bentham.org
  6. Hautzinger M, Keller F, Kühner C. BDI -II-Depressionsinventar. 2. ed. 2006, Frankfurt: Harcourt Test Serv. books.google.de
  7. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN); Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.). S3-Diagnose- und Behandlungsleitlinie Demenz. DGPPN 2010. www.springer.com
  8. Klugkist M, Sedemund-Adib B, Schmidtke C, Schmucker P, Sievers HH, Hüppe M. Confusion Assessment Method for the Intensive Care Unit (CAM-ICU). Der Anaesthesist 2008. www.springermedizin.de

Autor*innen

  • Jonas Klaus, Arzt in Weiterbildung Neurologie, Hamburg
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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