Allgemeine Informationen
- Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der gesamte Artikel auf diesen Referenzen.1-2
- Der Schwerpunkt dieses Artikels liegt auf Suizidalität bei Erwachsenen. Zu jugendlicher Suizidalität siehe Artikel Suizid und Suizidversuch bei Kindern und Jugendlichen.
Definitionen
Suizidalität
- Alle Erlebens- und Verhaltensweisen, die in Gedanken, durch aktives Handeln/passives Unterlassen oder durch Handeln-Lassen den eigenen Tod anstreben oder als mögliches Ergebnis einer Handlung in Kauf nehmen.
- Verschiedene Stadien der Entwicklung suizidalen Verhaltens
- Erwägungsphase
- Ambivalenzphase
- Entschlussphase
- Formen und Ausprägungen
- Wunsch nach Ruhe oder Pause („passiver Todeswunsch“)
- Suizidgedanken, -ideen, -vorstellungen können in unterschiedlicher Form und Ausprägung vorliegen, z. B.:
- mehr oder weniger konkret
- fluktuierend oder anhaltend
- sich zwanghaft aufdrängend
- impulshaft einschießend
- imperativ bei akustisch-verbalen Halluzinationen.
- Suizidpläne
- konkretisierte, geäußerte oder nicht geäußerte Suizidabsicht
- Auswahl eines Suizidmittels
- Auswahl von Zeitpunkt und Ort
- Suizidvorbereitungen, z. B.:
- Horten von Medikamenten
- Anschaffung einer Waffe
- Regelung letzter persönlicher Angelegenheiten
- Schreiben eines Abschiedsbriefs, auf Papier, auf dem PC, per E-Mail oder im Internet.
- suizidale Handlungen
- harte oder weiche Methode
- vollständig ausgeführt oder abgebrochen
- Rettung der betroffenen Person oder vollendeter Suizid
Suizid
- Vorsätzliche Beendigung des eigenen Lebens
- aktiv
- harte Methoden, z. B. Erschießen, Erhängen, Öffnen von Pulsadern, Sturz aus großer Höhe, Werfen vor einen fahrenden Zug
- weiche Methoden, z. B. Intoxikation mit Alkohol, Medikamenten, Drogen
- passiv
- Der Betroffene verweigert die Aufnahme von Nahrung, Flüssigkeit oder notwendigen Medikamenten.
- aktiv
Suizidversuch
- In suizidaler Absicht ausgeführte Handlung, die nicht zum Tod führt.
Suizidale Gedanken und Affekte („Suicidal Ideation“)
- Verbale und nichtverbale Anzeichen, die direkt oder indirekt Beschäftigung mit Selbsttötungsideen anzeigen ohne Verknüpfung mit Handlungen.
- Gezielte und konkrete Planungen weisen auf ein hohes Suizidrisiko hin und erfordern eine unverzügliche therapeutische Intervention, ggf. unter Anwendung von Zwangsmaßnahmen.
Sonderformen
- Bilanzsuizid
- kognitiv-resümierender Suizid (versus Suizid in affektiv-impulsiven Belastungs- und Versagenssituationen)
- Kommt selten vor.
- meist im Endstadium einer tödlich verlaufenden Erkrankung
- Suizidpakt, Doppel- oder Mehrfachsuizid
- Wird gemeinsam, z. B. von (Ehe-)Partner*innen, in weitgehend freiwilliger Übereinkunft vereinbart.
- Dazu zählen auch gemeinsame Suizide, die über einschlägige Internetforen verabredet wurden.
- Erweiterter Suizid
- meist mit pseudoaltruistischer Motivation der zentralen Person
- Beispielsweise nehmen Eltern in vermeintlich fürsorglicher Absicht ihre Kinder mit in den Tod.
- meist mit pseudoaltruistischer Motivation der zentralen Person
- Massensuizid
- kollektive Selbsttötung größerer Gruppen in subjektiv oder objektiv auswegloser Situation, zuletzt vorwiegend bei radikalen Sekten
- Antizipatorischer Suizidversuch (oft bei Kindern und Jugendlichen)
- Suizidversuch aus Angst vor der Zukunft und den damit verbundenen Belastungen
- Aufgrund von Minderwertigkeitsgefühlen und Selbstunsicherheit entsteht die suizidale Überzeugung, zukünftigen Belastungen nicht gewachsen zu sein.
Häufigkeit
Inzidenz3
- Jedes Jahr sterben in Deutschland ca. 9.000 Menschen durch Suizid. Über 100.000 Menschen begehen einen Suizidversuch.
- Damit sterben deutlich mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle (ca. 3.000), Mord und Totschlag (500–700), illegale Drogen (1.000–1.600) und AIDS (< 300) zusammen.
- Männer begehen etwa 2,5-mal so häufig Suizid wie Frauen, während Frauen 3-mal so viele Suizidversuche wie Männer begehen.
- Männer greifen häufiger zu harten Methoden wie Erschießen, Erhängen oder Ertränken.
- Frauen suizidieren sich häufiger durch Überdosierungen und Schnittverletzungen.
- In vielen Ländern Westeuropas, darunter Deutschland, ist die Suizidrate seit den 1980er-Jahren zurückgegangen.
- Weder die verstärkte Anwendung von SSRI-Präparaten noch die zurückgegangene Anwendung trizyklischer Antidepressiva kann diese Tendenz hinreichend erklären.
- Vermutlich haben psychosoziale Faktoren dazu beigetragen, die nur bedingt messbar sind.
- In Deutschland hat sich der Abwärtstrend mittlerweile abgeflacht (Stand März 2022).
Hohe Dunkelziffer
- Schätzungen zufolge ist die Zahl der erfassten Suizide um eine Dunkelziffer von rund 25 % zu erhöhen.
- Dazu zählen z. B.:
- plötzliche Todesfälle bei älteren und alleinstehenden Personen
- Todesfälle während einer medikamentösen Behandlung
- in suizidaler Absicht herbeigeführte Unfälle
- Drogentote.
Psychische Morbidität
- In wenigstens 90 % der Suizidfälle liegt eine psychische Störung vor, bei über 80 % ist diese zum Zeitpunkt des Suizids unbehandelt.
- Depressive Störungen stellen die häufigste psychische Ursache für Suizide dar.
- Fast alle Patient*innen mit schweren Depressionen haben zumindest Suizidgedanken.
- Die Suizidrate bei Depressiven ist etwa 30-mal höher als in der Durchschnittsbevölkerung.
- 8,6 % der Patient*innen, die im Verlauf ihres Lebens wegen Suizidalität stationär behandelt wurden, versterben durch Suizid; unter den stationär behandelten Patient*innen mit einer affektiven Störung, die nicht speziell wegen Suizidalität hospitalisiert wurden, sind es 4,4 %.
Alter
- In Deutschland steigt die Suizidziffer bzw. das Suizidrisiko mit dem Lebensalter.
- Jugendalter und Adoleszenz (Näheres siehe Artikel Suizid und Suizidversuch bei Kindern und Jugendlichen)
Diagnostische Überlegungen
Risikofaktoren
- Psychische Störungen
- Medikamenten-, Drogen- oder Alkoholabhängigkeit
- schwere Depression
- Depressionen verursachen 40–70 % aller Suizide.
- Auch bipolare affektive Störungen gehen mit einem erhöhten Suizidrisiko einher.
- psychotische Störungen, z. B.:
- emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ
- Essstörungen
- Schwere körperliche Erkrankung
- Evtl. leicht erhöhtes Suizidrisiko. Das trifft z. B. auf folgende Erkrankungen zu:
- Epilepsie
- Diabetes mellitus
- AIDS
- Tumorerkrankungen
- dialysepflichtige Niereninsuffizienz
- Erkrankungen, die mit chronischen Schmerzen oder lang anhaltenden Schlafstörungen einhergehen.
- Evtl. leicht erhöhtes Suizidrisiko. Das trifft z. B. auf folgende Erkrankungen zu:
- Psychosoziale Faktoren
- frühere Suizidversuche
- Enge Freund*innen oder Verwandte von Menschen, die Suizid begangen haben.
- belastende Lebensereignisse, Krisen, z. B. Verlust eines nahestehenden Menschen
- Arbeitslosigkeit
- Armut
- Einsamkeit
- hohes Lebensalter ohne engen Kontakt zur Familie
Protektive Faktoren
- Die folgenden Faktoren können zu einer Verminderung von Suizidimpulsen beitragen, schließen aber suizidale Handlungen nicht aus:
- starke emotionale Bindung an Personen, soziale Eingebundenheit, Hobbys
- ethische und moralische Skrupel gegenüber einem Suizid
- Verantwortung für Kinder
- Gedanken und Pläne in Bezug auf die Zukunft
- Wunsch nach Hilfe und entsprechende Initiative.
Konsultationsgrund
- Häufig werden Patient*innen von Angehörigen aufgefordert, ärztliche Hilfe zu suchen.
- Viele Betroffene teilen ihre suizidalen Gedanken oder Absichten nicht von sich aus mit.
- Männer mit Depressionen und Suizidgedanken nehmen häufig keine Hilfe in Anspruch.
ICPC-2
- P77 Suizid/Suizidversuch
ICD-10
- X84.9! Absichtliche Selbstbeschädigung4
Differenzialdiagnosen
- Geäußerte Suizidgedanken oder -pläne sind immer ernst zu nehmen.
- Bei bereits ausgeführten Handlungen mit möglicher suizidaler Absicht
- sehr selten selbst- oder fremdgefährdendes Verhalten aus (auto-)erotischen Motiven
- Gewalt- und Tötungsdelikte
- Unfälle
- Unterschiedliche psychische Störungen gehen mit einem erhöhten Suizidrisiko einher (siehe Risikofaktoren).
Anamnese
Leitlinie: Einschätzung des Suizidrisikos1-2
- Suizidalität sollte immer direkt thematisiert, präzise und detailliert erfragt und vor dem Hintergrund vorhandener Ressourcen beurteilt werden.
- Bei jedem Menschen, der einer Risikogruppe angehört, z. B. aufgrund einer depressiven Störung, sollte Suizidalität regelmäßig, bei jedem Patientenkontakt klinisch eingeschätzt und ggf. exploriert werden.
- Die Abschätzung des Suizidrisikos sollte durch Erfragen von Risikomerkmalen vorgenommen werden:
- „Haben Sie in letzter Zeit daran denken müssen, nicht mehr leben zu wollen?“
- „Häufiger?“
- „Haben Sie auch daran denken müssen, ohne es zu wollen? Haben sich Suizidgedanken aufgedrängt?“
- „Konnten Sie diese Gedanken beiseiteschieben?“
- „Haben Sie konkrete Ideen, wie Sie es tun würden?“
- „Haben Sie Vorbereitungen getroffen?“
- Umgekehrt: „Gibt es etwas, was Sie davon abhält?“
- „Haben Sie schon mit jemandem über Ihre Suizidgedanken gesprochen?“
- „Haben Sie jemals einen Suizidversuch unternommen?“
- „Hat sich in Ihrer Familie oder Ihrem Freundes- und Bekanntenkreis schon jemand das Leben genommen?“
Wichtige Fragen
- Frühere Erkrankungen und Suizidversuche?
- Psychische Störung?
- Schwere körperliche Erkrankung?
- Frühere Suizidversuche?
- harte Methode? (stark erhöhtes Risiko für zukünftigen vollendeten Suizid)
- Vor Kurzem aus einer psychiatrischen Klinik entlassen? (100- bis 200-fach erhöhtes Suizidrisiko!)
- Suizidgedanken und -pläne, Alarmsignale?
- Suizidankündigung oder -drohung immer ernst nehmen!
- Aktueller Handlungsdruck?
- Ist die betroffene Person in der Lage, sich von seinen Suizidgedanken oder -impulsen zu distanzieren?
- Bindende Faktoren
- Fragen, was die Person am Suizid hindert oder gehindert hat: Je mehr Gründe Patient*innen finden, die für das Leben sprechen, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie ihre Suizidgedanken in die Tat umsetzen.
- äußere Faktoren, z. B.:
- Familie
- Kinder
- religiöse Bindung.
- innere Faktoren, z. B.:
- Hoffnung auf Hilfe
- frühere Erfahrungen
- Vertrauen.
Klinische Untersuchung
In der Auffindesituation
- Vitalfunktionen? Ggf. Notfallbehandlung je nach Suizidmethode; siehe u. a. die Artikel:
- Nach Zeichen eines geplanten Suizids suchen, z. B.:
- Abschiedsbrief
- leere Medikamentenschachteln
- Waffen
- Strick.
- Das ist wichtig, weil die betroffenen Personen bei Eintreffen von Ersthelfenden oder Rettungskräften ihre suizidale Absicht oft kaschieren oder deren Bedeutung herunterspielen (hohes Risiko eines erneuten Suizidversuchs!).
Erkennen einer Depression
- Siehe Artikel Depression.
Kriterien nach ICD-10
- Mindestens zwei Hauptsymptome
- depressive Stimmung
- Freudlosigkeit und Verlust von Interesse
- Antriebslosigkeit oder schnelle Ermüdbarkeit
- Weitere Symptome
- eingeschränkte Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeit
- vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
- Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle
- von Traurigkeit geprägte, pessimistische Zukunftsperspektive
- Planung oder Ausführung von Selbstverletzungen oder Suizid
- Schlafstörungen
- Ab- oder Zunahme des Appetits
Erkennen einer bipolaren affektiven Störung
- Wechsel von manischen und depressiven Episoden
- manisch: gehobene, expansive oder gereizte Stimmung
- depressiv: gedrückte Stimmung, Interesse- und Antriebslosigkeit
- Näheres siehe Artikel Bipolare affektive Störungen.
Erkennen einer Psychose
- Symptome
- Wahnvorstellungen
- Halluzinationen und andere Wahrnehmungsstörungen
- schwere Verhaltensstörungen
- Weitere Informationen siehe folgenden Artikel:
Erkennen einer Persönlichkeitsstörung
- Sehr heterogene Symptomatik je nach Störungsbild
- Näheres siehe Artikel Persönlichkeitsstörungen.
Körperliche Erkrankungen
- Bei einer schweren körperlichen Erkrankung können verschiedenen Faktoren zu einem erhöhten Suizidrisiko beitragen. Dabei sind z. B. folgende Fragen bedeutsam:
- Chronisch?
- Belastende Symptome, z. B. Schmerzen, Atemnot, Übelkeit?
- Erkrankungsbedingte Behinderungen: körperlich, psychisch, sozial?
- Prognose, Heilungschancen?
Maßnahmen und Empfehlungen
Suizidprävention – 4 Hauptaspekte
- Gesprächs- und Beziehungsangebot
- Diagnostik von Suizidalität einschließlich Risikofaktoren
- Klärung und Regelung der aktuellen Situation
- Therapieplanung unter Berücksichtigung der Suizidgefahr
Gesprächs- und Beziehungsangebot1
- Zuwendungsangebot
- Einen geeigneten Raum und genügend Zeit zur Verfügung stellen.
- Emotionale Bindung
- Die suizidgefährdete Person dabei unterstützen, ihre Emotionen wahrzunehmen und mitzuteilen.
- Beruhigen.
- Beruhigend auf die Person einwirken, z. B. indem man ihr versichert, dass Hilfe möglich ist.
- Suizidalität ansprechen.
- Die Person offen und direkt auf das Thema Suizidalität ansprechen.
- Reaktionen und Mitteilungen ernstnehmen.
- Dramatisierung und Bagatellisierung vermeiden.
- Bindende Faktoren
- Zukunftsorientierung
- Vermittlung von Hoffnung, Hilfe und Chancen auf Veränderung
- konkretes Therapieangebot
- Gesprächsvereinbarung
- Mit der betroffenen Person konkret einen regelmäßigen Gesprächskontakt vereinbaren: direkt oder telefonisch, Uhrzeit und Ort.
- Anti-Suizid-Pakt: Die Person verspricht, aktuell keinen Suizid zu begehen und vor dem Suizid den therapeutischen Gesprächskontakt aufzunehmen.
- Behandlungssetting klären (ambulant, stationär, teilstationär).
Nach einem Suizidversuch oder bei aktueller Suizidalität1
- Kontakt zu den Betroffenen herstellen. Ihnen freundlich und empathisch begegnen.
- Zeit gewinnen:
- Die Person in ein Gespräch einbinden.
- Ihr anbieten, sich auszusprechen.
- Die tatsächliche und ggf. symbolische Bedeutung der Situation für die betroffene Person verstehen.
- Die Gefahr (weiterer) suizidaler Handlungen nach Möglichkeit rechtzeitig erkennen.
- Ängste nehmen.
- Die Gesprächsführung stets auf die jeweils akutesten Aspekte konzentrieren.
- Stellung nehmen
- zu den Problemen der Betroffenen.
- zu deren internen Ressourcen.
- zu den verfügbaren äußeren Ressourcen (soziales Netz, Hilfsangebote).
- Ggf. die Wiederherstellung sozialer Beziehungen und Bindungen unterstützen.
- Dokumentieren, auf welche Angebote die betroffene Person außerhalb der Einrichtung zurückgreifen kann oder ob eine Krankenhauseinweisung erforderlich ist.
Indikationen zur Überweisung oder Klinikeinweisung
Leitlinie: Überweisung oder Einweisung?1-2
- Psychiater*in
- Bei Suizidalität ist die Überweisung an Fachärzt*innen für Psychiatrie angezeigt, wenn in anderen therapeutischen Settings (z. B. Hausärzt*in, ärztliche oder psychologische Psychotherapeut*in) kein ausreichendes spezifisches Krisenmanagement möglich ist oder eine Klinikeinweisung abzuklären ist.
- Bei akuter Suizidgefährdung und fehlender Absprachefähigkeit bis zum nächsten vereinbarten Termin sollen die Patient*innen unter Berücksichtigung der individuell erforderlichen Sicherheitskautelen notfallmäßig in psychiatrische Behandlung überwiesen werden (IV/A).
- Krankenhaus
- Eine stationäre Einweisung sollte für suizidale Patient*innen unbedingt erwogen werden (Ib/B),
- die akut suizidgefährdet sind.
- die nach einem Suizidversuch medizinischer Versorgung bedürfen.
- die wegen der zugrunde liegenden depressiven Störung einer intensiven psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlung bedürfen.
- wenn eine hinreichend zuverlässige Einschätzung des Weiterbestehens der Suizidalität anders nicht möglich ist.
- wenn die Etablierung einer tragfähigen therapeutischen Beziehung nicht gelingt und die Person trotz initialer Behandlung akut suizidal bleibt.
- Eine stationäre Einweisung sollte für suizidale Patient*innen unbedingt erwogen werden (Ib/B),
- Zwangseinweisung
- Bei Suizidgefahr und fehlender Behandlungsbereitschaft ist es notwendig, eine Krankenhauseinweisung gegen den Willen der Person zu erwägen.
- Rechtsgrundlage sind die Unterbringungsgesetze oder Psychisch-Kranken-Gesetze (PsychKG) der einzelnen Bundesländer und das Betreuungsgesetz.
- Maßnahmen nach einem Unterbringungsgesetz oder PsychKG können dann ergriffen werden, wenn eine Person psychisch krank, geistig behindert oder suchtkrank ist, wenn im Rahmen der Krankheit die Gefahr besteht, dass sie sich selbst oder anderen Schaden zufügt und wenn diese Gefahr nicht auf andere Weise abzuwenden ist.
- Bei akuter schwerer Suizidalität und fehlender Behandlungsbereitschaft ist in der Regel Eile geboten.
- Nach einem Suizidversuch soll die betroffene Person zur Diagnostik und Therapie auch gegen ihren Willen in eine Notaufnahme oder Klinik gebracht werden.
- Bei Suizidgefahr und fehlender Behandlungsbereitschaft ist es notwendig, eine Krankenhauseinweisung gegen den Willen der Person zu erwägen.
Angehörige
- Auch Personen, deren Familienangehörige, Freund*innen oder Patient*innen Suizid begangen haben, brauchen Unterstützung und Hilfe.
- In vielen größeren Städten kann man sich in einem solchen Fall an eine psychiatrische Ambulanz, suizidprophylaktische Notdienste oder andere Stellen wenden (siehe auch Abschnitt Beratung, Information und Hilfe).
Kinder
- In Bezug auf Kinder von Eltern mit einer psychischen oder Abhängigkeitserkrankung, die bereits Suizidversuche unternommen haben, ist besondere Wachsamkeit geboten.
- Mögliche negative Auswirkungen bei den Kindern der Betroffenen:
- erhebliche Verunsicherung
- evtl. Vernachlässigung
- verlangsamte motorische und psychisch-kognitive Entwicklung
- Schulprobleme
- Verhaltensauffälligkeiten
- verringertes Selbstwertgefühl.
- Regionale Anlaufstellen über die Initiative für Kinder psychisch kranker Eltern Netz und Boden
Psychotherapie
- Die Studienlage zur suizidpräventiven Wirkung psychotherapeutischer Strategien ist begrenzt.
- Positive Ergebnisse zu Ansätzen, die spezifische, auf die Suizidalität gerichtete problemlösende und einsichtsorientierte Strategien beinhalten:5
- kognitive Verhaltenstherapie
- Problemlösetherapie
- psychodynamische Kurzzeittherapie
- intensive Nachbetreuung mit regelmäßigem Kontakt.
Leitlinie: Psychotherapie bei Suizidalität1-2
- Als kurzfristiges Ziel von Kriseninterventionen oder Psychotherapie bei akuter Suizidalität soll eine intensive Kontaktgestaltung und eine aktive unmittelbare Unterstützung und Entlastung der Betroffenen bis zum Abklingen der Krise angestrebt werden.
- Eine tragfähige therapeutische Beziehung kann bei suizidgefährdeten Patient*innen per se suizidpräventiv wirken.
- Bei suizidgefährdeten Patient*innen mit einer depressiven Episode sollte eine Psychotherapie angeboten werden, die zunächst auf die Suizidalität fokussiert (Ia/B).
Pharmakotherapie
Leitlinie: Pharmakotherapie bei Suizidalität1-2
Akute Suizidalität
- Vor der Einleitung pharmakologischer Maßnahmen sind die Möglichkeiten der nicht-pharmakologischen Krisenintervention anzuwenden.
- Benzodiazepine
- Eine Akutbehandlung (möglichst < 14 Tage) mit einem Benzodiazepin kann bei suizidgefährdeten Patient*innen in Betracht gezogen werden (Ib/C).
- Eignen sich vor allem zur Reduktion von Angst und Anspannung in der Akutsituation.
- Bei psychotischen Symptomen mit Antipsychotikum kombinieren.
- geeignete Wirkstoffe und Dosierung:
- Lorazepam 1–2,5 mg p. o. oder i. v.
- Diazepam 5–10 mg i. v.
- Antipsychotika
- Bei suizidgefährdeten Patient*innen mit psychotischen Merkmalen sollte die Medikation mit einem Antipsychotikum ergänzt werden (IV/B).
- Bei Suizidalität infolge einer psychotischen Störung: Benzodiazepin + Haloperidol 2,5–10 mg i. v.
Suizidprävention bei Depression
- Antidepressiva
- Zur speziellen akuten Behandlung der Suizidalität sollten Antidepressiva nicht eingesetzt werden (Ib/B).
- Sie können jedoch bei suizidalen depressiven Patient*innen zur Depressionsbehandlung im Rahmen der allgemeinen Empfehlungen eingesetzt werden (Ib/C).
- Bei einer suizidalen Person soll die Auswahl von Antidepressiva hinsichtlich ihres Nutzen-Risiko-Verhältnisses (Pharmaka mit Letalität in hoher Dosis, Agitationssteigerung in der Frühphase) abgewogen werden.
- Lithium
- In der Rezidivprophylaxe bei suizidgefährdeten Patient*innen soll zur Reduzierung suizidaler Handlungen (Suizidversuche und Suizide) eine Medikation mit Lithium in Betracht gezogen werden (Ia/A).
Nachsorge
- Eine Suizidgefährdung hält oft über viele Jahre an.
- Nach dem ersten Suizidversuch ist die allgemeine Lebenserwartung laut einer schwedischen Beobachtungsstudie sowohl bei Männern als auch Frauen deutlich verkürzt.6
- Männer: um 10–18 Jahren kürzere Lebenserwartung
- Frauen: um 8–11 Jahren kürzere Lebenserwartung
- Nach dem ersten Suizidversuch ist die allgemeine Lebenserwartung laut einer schwedischen Beobachtungsstudie sowohl bei Männern als auch Frauen deutlich verkürzt.6
Leitlinie: Verlaufskontrolle1
- Eine Nachuntersuchung von Patient*innen, die wegen Suizidalität stationär aufgenommen wurden, soll kurzfristig, max. 1 Woche nach Entlassung, geplant werden, da in der Zeit nach der Entlassung das Risiko für weitere suizidale Handlungen am höchsten ist.
- Patient*innen, die wegen Suizidalität stationär behandelt wurden und einen Termin zur Nachuntersuchung nach Entlassung nicht wahrnehmen, sollen unmittelbar kontaktiert werden, um das Risiko für einen Suizid oder Selbstverletzungen abzuschwächen und abzuschätzen.
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Beratung, Information und Hilfe
- Liste bundesweiter Beratungsangebote bei suizidalen Krisen: Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention
- Telefonseelsorge
- Initiative für Kinder psychisch kranker Eltern: Netz und Boden
Quellen
Leitlinien
- Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Notfallpsychiatrie. AWMF-Leitlinie Nr. 038-023. S2k, Stand 2019. www.awmf.org
- NVL-Programm von BÄK, KBV, AWMF. Nationale Versorgungsleitlinie Unipolare Depression. AWMF-Leitlinie Nr. nvl-005. S3, Stand 2015 (abgelaufen). www.awmf.org
Literatur
- NVL-Programm von BÄK, KBV, AWMF. Nationale Versorgungsleitlinie Unipolare Depression. AWMF-Leitlinie Nr. nvl-005. S3, Stand 2015 (abgelaufen). www.awmf.org
- Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Notfallpsychiatrie. AWMF-Leitlinie Nr. 038-023. S2k, Stand 2019. www.awmf.org
- Lindner R. Information über Suizidalität und Suizid. Nationales Suizidpräventionsprogramm für Deutschland (NaSPro). https://www.suizidpraevention.de/wissen/ Zugriff am 12.03.2022 www.suizidpraevention.de
- Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI): ICD-10-GM Version 2022. Stand 17.09.2021; letzter Zugriff 12.03.2022 www.dimdi.de
- O'Connor E, Gaynes B, Burda BU, et al. Screening for Suicide Risk in Primary Care: A Systematic Evidence Review forthe U.S. Preventive Services Task Force. Rockville (MD): 2013. Letzter Zugriff 01.11.2017 www.ncbi.nlm.nih.gov
- Jokinen J, Talbäck M, Feychting M, et al. Life expectancy after the first suicide attempt. Acta Psychiatr Scand 2017 Dec 14. pmid: 29238963 PubMed
Autor*innen
- Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
- Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).