Zwangsstörung

Zusammenfassung

  • Definition:Eine Zwangsstörung ist durch wiederholte Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen gekennzeichnet.
  • Epidemiologie:Die 12-Monats-Prävalenz beträgt in Deutschland 3,3 % bei Männern und 4,0 % bei Frauen.
  • Symptome:Zwangsgedanken sind wiederholte unangenehme Gedanken, Ideen oder Handlungsimpulse (Intrusionen). Zwangshandlungen sind Reaktionen auf Zwangsgedanken. Zwangshandlungen verschaffen den Betroffenen kurzfristige Erleichterung und Angstreduktion.
  • Untersuchung:Evtl. neuropsychologische Testverfahren zur Ergänzung der Anamnese. Neurologische und dermatologische Untersuchung bei entsprechender Komorbidität.
  • Diagnostik:Zerebrale Bildgebung bei Hinweisen auf Gehirnpathologie und bei allen Patienten mit Ersterkrankungsalter über 50. Umfassendere neuropsychologische Tests bei unklarer Diagnose und ggf. zur Verlaufskontrolle.
  • Therapie:Kognitive Verhaltenstherapie mit Exposition und Reaktionsmanagement. Evtl. medikamentöse Therapie mit SSRI. Clomipramin nur als Ersatzmedikament.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1
  • Eine Zwangsstörung (Obsessive-Compulsive Disorder) ist durch wiederholte Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen gekennzeichnet.
  • Zwangsgedanken (Obsessions)
    • Wiederholte unangenehme Gedanken, Vorstellungen und Handlungsimpulse (Intrusionen), die sich dem Bewusstsein aufdrängen.
    • Diese können sehr beängstigend sein; in vielen Fällen handelt es sich um Ängste vor Infektionen, Krankheiten und Gewalt.
    • oft bizarr anmutend und rational schwer nachvollziehbar
    • typische Themen:
      • Ansteckung
      • Vergiftung
      • Verschmutzung
      • Krankheit
      • Streben nach Symmetrie und Ordnung
      • Aggression
      • Sexualität
      • Religion.
  • Zwangshandlungen (Compulsions)
    • Reaktion auf die Zwangsgedanken
    • Die Patient*innen versuchen damit, ihr Unbehagen zu reduzieren und bestimmte imaginäre, gefürchtete Ereignisse zu verhindern.
      • Obwohl die meisten Patient*innen prinzipiell einsehen, dass die Zwangshandlungen unsinnig sind, können sie sie nicht oder nur schwer unterlassen.
      • Kann eine Zwangshandlung nicht ausgeführt werden, führt dies zunächst zum Anstieg von Anspannung und Angst, was als kaum erträglich empfunden wird.
      • Fast immer bestehen starke Zweifel an der Vollständigkeit und/oder Richtigkeit von Handlungen oder Entscheidungen.
    • zwanghafte Wiederholung
    • Beispiele:
      • häufiges Händewaschen (Waschzwang)
      • Kontrolle von Türen, Schlössern oder Herdplatten (Kontrollzwang)
      • paralleles oder symmetrisches Anordnen von Gegenständen (Ordnungszwang)
      • Zählrituale.
  • Die Störung kann zu erheblicher Einschränkung und gelegentlich auch Verlangsamung alltagsbezogener Funktionsabläufe und zu einer reduzierten Lebensqualität führen.
    • Die WHO stuft Zwangsstörung als eine der 20 Erkrankungen ein, die normale Funktionen am stärksten einschränken.
  • Die Betroffenen zeigen keine allgemeine Beeinträchtigung der intellektuellen Leistungsfähigkeit.
    • Oft ist aber das Denken eingeengt und von Grübeleien bestimmt. 
  • Häufig affektive Begleitsymptome:
    • Angst
    • Anspannung
    • Verzweiflung
    • Unruhe
    • depressive Symptome.
  • Die Lebensqualität ist deutlich beeinträchtigt.
  • Viele Patient*innen versuchen über längere Zeit, ihre Zwanghaftigkeit zu verbergen und zu verleugnen, meist weil sie sich dafür schämen.

Häufigkeit

  • Epidemiologie
    • Lebenszeitprävalenz laut internationalen epidemiogischen Studien: 1–3 %1-2
    • 12-Monats-Prävalenz in Deutschland3
      • Frauen 4,0 %
      • Männer 3,3 %
    • Punktprävalenz international
      • Erwachsene: 0,8 %
      • Kinder/Jugendliche zwischen 5 und 15 Jahren: 0,25 %
    • leichte Symptome bei 14–29 % der Bevölkerung
  • Alter und Geschlecht
    • Durchschnittsalter beim erstmaligen Auftreten einer Zwangsstörung: 20 Jahre
    • Nur in 15 % der Fälle beginnt die Störung nach dem 36. Lebensjahr
    • Zur Häufigkeit von Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter gibt es keine verlässlichen Daten.
      • Bei jüngeren Patient*innen ist die Grenze zwischen entwicklungspsychologisch normalem passageren
        Verhalten und klinisch relevanter Zwangsstörung unscharf.1
    • Keine großen Unterschiede zwischen der Inzidenz bei Männern und Frauen
      • Möglicherweise beruht die in vielen Studien bei Frauen etwas höhere Inzidenz darauf, dass Frauen im Vergleich zu Männern eher bereit sind, über psychische Probleme zu sprechen und sich in Behandlung zu begeben.1

Ätiologie und Pathogenese

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1
  • Die Ätiologie ist wahrscheinlich multifaktoriell.
    • individuelle Interaktion biologischer, psychologischer und externer Faktoren

Kognitiv-behaviorale Modelle

  • Ungünstige kognitive Komponenten, z. B.:
    • dysfunktionale Muster der Informationsverarbeitung
    • früh erlernte Bewertungen und Grundüberzeugungen.
  • Dysfunktionale Lernerfahrungen, z. B.:
    • Reduktion unangenehmer Empfindungen durch Rituale.

Psychodynamische Modelle

  • Je nach Modell unterschiedlicher Fokus, z. B.:
    • Persönlichkeitsstruktur
    • biografische Entstehungsfaktoren
    • aktuelle innerpsychische Konflikte
    • interpersonale Probleme.
  • Zentrale Bedeutung der therapeutischen Beziehung

Gesprächspsychotherapeutische Modelle

  • Inkongruenz als Grundproblem
    • Die Patient*innen erleben Widerspruch zwischen Selbstideal und Erfahrung.
    • Durch das Vermeiden von Risiken misslingt die Suche nach einem intensiven Leben.

Genetische Komponente

  • Der Einfluss genetischer Faktoren scheint besonders hoch zu sein bei:
    • frühem Erkrankungsbeginn
    • Ordnungs- und Symmetriezwängen
    • begleitender Ticstörung
      • Ordnungs- und Symmetriezwänge beim Tourette-Syndrom scheinen einem dominanten Erbgang zu folgen.
  • Konkordanzrate bei Zwillingen
    • zweieiig: 22–47 %
    • eineiig: 53–87 %

Neurobiologische Modelle

  • Aus molekulargenetischen Untersuchungen ergeben sich Hinweise auf eine Beteiligung unterschiedlicher Neurotransmittersysteme, z. B.:
    • Serotoninsystem
    • Katecholaminsystem
    • Dopaminsystem
    • Glutamatsystem.
  • Ergebnisse aus neuroanatomischen und neurofunktionellen Studien deuten auf eine Funktionsstörung im kortiko-striato-thalamischen System hin.
    • In der Erregungsleitung zwischen präfrontalem Kortex, Striatum, Globus pallidus und Thalamus scheint ein Ungleichgewicht vorzuliegen. Dieses Ungleichgewicht korreliert mit dysfunktionalen Handlungen.
  • Strukturelle Veränderungen bei Patient*innen mit Zwangsstörungen
    • reduziertes Volumen des Corpus striatum
    • erhöhtes Volumen des präfrontalen Kortex und Thalamus
  • In neurofunktionellen Studien wurde eine temporale und frontale Überaktivität festgestellt.
    • Diese geht unter einer Verhaltenstherapie oder Pharmakotherapie häufig zurück.
      • Das deutet auf eine enge Wechselwirkung von psychologischen und neuropsychologischen Prozessen hin.

Immunologisches Modell

  • Pediatric Autoimmune Neuropsychiatric Disorder Associated with Streptococcal
    Infections (PANDAS)
    • seltene Form der Zwangsstörung im Jugendalter bei Infektion mit beta-hämolysierenden Streptokokken der Gruppe A
    • evtl. schnelle Remission unter Antibiose oder Plasmapherese
    • In einer US-amerikanischen Fallkontrollstudie wurde bei jugendlichen Patient*innen mit Zwangsstörungen in den ersten 3 Monaten vor Krankheitsbeginn eine erhöhte Rate an Streptokokken-Infektionen gefunden.4

Prädisponierende Faktoren

  • Verwandte mit Zwangsstörungen
  • Gilles-de-la-Tourette-Syndrom5
  • Bei ca. 50–70 % der Patient*innen einschneidende Lebensereignisse oder Stressoren im Vorfeld der Erkrankung, z. B.:1
    • Hausbau
    • sexuelle Probleme
    • Tod eines Angehörigen 
    • Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett.

Versorgungsaspekte

  • Menschen aller Altersgruppen mit Zwangsstörung verstehen die Sinnlosigkeit ihrer sich wiederholenden, unerwünschten Verhaltensweisen und aufdringlichen, wiederkehrenden Zwangsgedanken.
    • Dies kann sie beschämen und zu einer Abneigung gegen das Aufsuchen ärztlicher oder psychologischer Behandlung führen.
    • Es dauert im Durchschnitt 7,5 Jahre, bis die Betroffenen professionelle Hilfe aufsuchen.1
  • Eine stärkere Aufmerksamkeit auf die Störung ist erforderlich; Ärzt*innen und Pflegende sollten besonders aufmerksam gegenüber dieser Störung sein.
  • Sogar Psychiater*innen übersehen Zwangsstörungen häufig.
    • Laut einer süddeutschen Studie erhalten 70 % der Patient*innen mit einer Zwangsstörung, die sich in nervenärztlicher Behandlung befinden, nicht die Diagnose „Zwangsstörung“ und werden somit auch nicht spezifisch behandelt.1,6

ICPC-2

  • P79 Phobie/Zwangsstörung

ICD-10

  • F42 Zwangsstörung
    • F42.0 Vorwiegend Zwangsgedanken oder Grübelzwang
    • F42.1 Vorwiegend Zwangshandlungen [Zwangsrituale]
    • F42.2 Zwangsgedanken und -handlungen, gemischt
    • F42.8 Sonstige Zwangsstörungen
    • F42.9 Zwangsstörung, nicht näher bezeichnet

Diagnostik

Diagnostische Kriterien: ICD-10 Forschungskriterien der Zwangsstörung (F42)

  • Der Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1,7
  • A. Entweder Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen (oder beides) an den meisten Tagen über einen Zeitraum von mindestens 2 Wochen
  • B. Die Zwangsgedanken (Ideen oder Vorstellungen) und Zwangshandlungen zeigen sämtliche folgende Merkmale:
  1. Sie werden von den Betroffenen als eigene Gedanken oder Handlungen angesehen und nicht als von anderen Personen oder Einflüssen eingegeben.
  2. Sie wiederholen sich dauernd und werden als unangenehm empfunden, und mindestens ein Zwangsgedanke oder eine Zwangshandlung wird als übertrieben und unsinnig anerkannt.
  3. Die Betroffenen versuchen, Widerstand zu leisten.
    • Bei lange bestehenden Zwangsgedanken und Zwangshandlungen kann der Widerstand allerdings sehr gering sein.
    • Gegen mindestens einen Zwangsgedanken oder eine Zwangshandlung wird gegenwärtig erfolglos Widerstand geleistet.
  4. Die Ausführung eines Zwangsgedankens oder einer Zwangshandlung ist für sich genommen nicht angenehm.
    • Dies sollte von einer vorübergehenden Erleichterung von Spannung und Angst unterschieden werden.
  • C. Die Betroffenen leiden unter den Zwangsgedanken und Zwangshandlungen oder werden in ihrer sozialen oder individuellen Leistungsfähigkeit behindert, meist durch den besonderen Zeitaufwand.
  • D. Häufigstes Ausschlusskriterium: Die Störung ist nicht bedingt durch eine andere psychische Störung, wie Schizophrenie und verwandte Störungen oder affektive Störungen (z. B. Depression).

Komorbidität

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1

Psychisch

Dermatologisch

  • Zwangshandlungen können die Haut, Haare und Nägel betreffen, z. B.:
    • Trichotillomanie
      • z. B. isoliert an den Augenbrauen
    • Onychotillomanie (Zerstören oder Ausreißen der Nägel)
    • Onychophagie (Nägelkauen)
    • Akne excoriée 
      Akne excoriée
      Akne excoriée
      • vernarbte, gereizte Gesichtshaut durch exzessive Manipulation meist gering ausgeprägter Akneeffloreszenzen
    • Dermatitis durch exzessives Hände- oder Körperwaschen.

Neurologisch

Differenzialdiagnosen

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1
  • Eine entscheidende diagnostische Frage ist, ob die aktuellen Symptome im Rahmen einer Zwangsstörung oder als Begleitsymptome einer anderen Störung aufgetreten sind. Abzugrenzen sind dabei u. a. folgende Störungen:

Zwanghafte Persönlichkeitsstörung

  • Gemeinsam
    • Beschäftigung mit Sauberkeit, Ordnung und Genauigkeit
  • Unterscheidend
    • Ich-Syntonie: Gedanken, Gefühle und Impulse werden als zum eigenen Ich zugehörig empfunden. Bei einer Zwangsstörung erlebt der Betroffene diese als Ich-dyston, d. h. als Gedanken und Impulse, die sich ihm unfreiwillig aufdrängen.
    • fehlende Intrusionen
    • stabiles Muster
    • fehlender Widerstand gegen die Ausführung zwanghafter Impulse

Depression

  • Gemeinsam
    • Grübeln
    • Schuldgefühle
    • Angst
  • Unterscheidend
    • keine neutralisierenden Rituale
    • Grübeln richtet sich eher auf Vergangenheit.
    • keine Intrusionen
    • kein Widerstand

Generalisierte Angststörung

  • Gemeinsam
    • Grübeln
    • Sorgen
    • Angst
  • Unterscheidend
    • Chronische Sorgen, die auf alltägliche Ereignisse gerichtet sind.
    • fehlende Rituale
    • fehlender intrusiver Charakter der Sorgen

Soziale Phobie und spezifische Phobien

  • Gemeinsam
    • Vermeidung
    • Angst
    • sozialer Rückzug
  • Unterscheidend
    • keine aktive Neutralisierung der Ängste, z. B. durch Rituale
    • Angst nur in sozialen Situationen bzw. in Gegenwart des gefürchteten Auslösers

Schizophrenie

  • Gemeinsam
    • bizarr wirkende Ideen
    • magisches Denken
    • sozialer Rückzug
  • Unterscheidend
    • Einsicht nicht mehr gegeben
    • parathymer Affekt (äußerer Gefühlsausdruck läuft den erlebten Emotionen entgegen) 
    • Gefühl der Beeinflussung und des Gemachten

Hypochondrie

  • Gemeinsam
    • Furcht, eine Krankheit zu haben.
    • Suche nach versichernden Aussagen anderer
  • Unterscheidend
    • Erleben körperlicher Missempfindungen
    • fehlende Rituale
    • Überzeugung, an einer Erkrankung zu leiden.

Körperdysmorphe Störung (s. o.)

  • Gemeinsam
    • Wiederholte Befürchtungen, die unrealistisch sind.
    • repetitives, teilweise ritualisiertes Kontrollverhalten
  • Unterscheidend
    • keine Intrusionen
    • Gedanken thematisch begrenzt auf das eigene Aussehen

Tic- und Tourette-Störung

  • Gemeinsam
    • ritualisiertes, stereotypes Verhalten
  • Unterscheidend
    • fehlende Intentionalität des Verhaltens

Zwangsstörung nach Hirnverletzung

  • Gemeinsam
    • Zwangsbefürchtungen und -rituale
  • Unterscheidend
    • nachgewiesene Hirnpathologie
    • stärkere kognitive Beeinträchtigungen

PANDAS (s. o.)

  • Gemeinsam
    • Zwangsbefürchtungen und -rituale
  • Unterscheidend
    • Nachweis antineuronaler Autoantikörper
    • abrupter Beginn
    • episodischer Verlauf
    • Beginn in der Kindheit

Impulskontrollstörungen (z. B. Trichotillomanie, pathologisches Spielen, Kleptomanie)

  • Gemeinsam
    • subjektives Dranggefühl
    • Erleichterung nach Handlungsausführung
  • Unterscheidend
    • Handlungen per se angenehm und befriedigend
    • vorausgehende Gedanken nicht aversiv und selten intrusiv

Essstörungen (Anorexia nervosa)

  • Gemeinsam
    • überwertige Ideen
    • rigides Kontrollieren
  • Unterscheidend
    • Ideen auf Körpergewicht und Körperbild beschränkt

Autismus

  • Gemeinsam
    • zwanghafte und stereotype Verhaltensmuster
  • Unterscheidend
    • Kommunikationsstörungen

Verhaltensstörungen und psychische Symptome bei Demenz

  • Siehe dort.

Anamnese

  • Konsultationsgrund
    • Selten sind Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen der Grund für den Arztbesuch.
    • Einige stellen sich vor, weil Bekannte, Familie oder Freund*innen sie dazu drängen.
    • Die Patient*innen suchen häufig wegen anderer Beschwerden medizinische Hilfe auf, z. B.:
      • Wegen trockener Haut und einem Handekzem, das durch übermäßiges Waschen entstanden ist.
      • wegen Schlafproblemen
      • wegen depressiver Verstimmung
  • Die folgenden Fragen können bei der Erkennung von Zwangsstörungen helfen:
    • Waschen Sie sich sehr häufig?
    • Putzen Sie sehr viel?
    • Kontrollieren Sie sehr viel, z. B. Türen, Wasserhähne, Schlösser?
    • Haben Sie aufdringliche Gedanken mit unangenehmen Inhalten, die Sie nur schwer loswerden?
    • Brauchen Sie für Alltagstätigkeiten sehr lange?
    • Machen Sie sich Gedanken um Ordnung und Symmetrie?
    • Seit wann bestehen die Symptome?
    • Was löst die Zwangssymptome aus?
    • Haben Sie etwas dagegen unternommen?
    • Wie oft gelingt es Ihnen, die Handlungen zu unterlassen, zu denen sie durch die Zwangsgedanken gedrängt werden?
    • Wie stark fühlen Sie sich durch die Zwangsgedanken und -handlungen  beeinträchtigt?
  • Stets sollten auch die Auswirkungen der Erkrankung auf Handlungsfähigkeit und Aktivitäten, Teilhabe, Lebensqualität und interpersonelle Auswirkungen erfasst werden.1
    • zu Beginn der Therapie zur Zielsetzung
    • im Verlauf
    • zur abschließenden Evaluation des Therapieerfolgs
  • Bezugspersonen oder Angehörige sollten, sofern möglich, in die Befunderhebung in Bezug auf Alltag, Teilhabe und Lebensqualität einbezogen werden.1

Klinische Untersuchung

  • Bei Verdachtsfällen sollen das Vorliegen der diagnostischen Kriterien nach ICD-10 geprüft und infrage kommende Komorbiditäten (s. o.) abgeklärt werden.
    • Dies sollte bei diagnostischer Unsicherheit mithilfe eines ICD-10-basierten Untersuchungsverfahrens geschehen, z. B.:1
      • Internationale Diagnose-Checklisten (IDCL)
      • Composite International Diagnostic Interview (CIDI)
      • Diagnostisches Interview für Psychische Störungen (DIPS).
  • Die klinische Untersuchung von Patient*innen mit Zwangsstörungen sollte eine klare Diagnose ergeben, die auch den Betroffenen mitgeteilt wird.
  • Organische Erkrankungen des Gehirns und andere psychische Störungen sollten ausgeschlossen werden (siehe Abschnitt Differenzialdiagnosen)

Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Strukturelle Bildgebung (CT oder MRT) des Gehirns bei
    • Patient*innen mit Erstmanifestation der Erkrankung im Alter über 50 Jahre
    • Verdacht auf zerebrale Pathologie, z. B.:
      • raumfordernder Prozess im Gehirn
      • vaskuläre Läsionen
      • neurologische Systemerkrankung.
  • Neuropsychologische Screening-Untersuchung bei allen Patient*innen mit Erstmanifestation der Erkrankung im Alter über 50 Jahre
  • Ausführliche neuropsychologische Untersuchung bei Verdacht auf kognitive Einschränkung (z. B. Demenzsymptome)
  • Weitere Testverfahren
    • zur Ermittlung des Schweregrads der Zwangsstörung
      • z. B. anhand der Yale-Brown Obsessive-Compulsive Scale (Y-BOCS)
    • zur Verlaufsdiagnostik
    • ggf. zur Quantifizierung der Einschränkungen von Lebensqualität und Alltagsfunktionen1

Indikationen zur Überweisung

  • Ggf. zur weiteren neurologischen oder neuropsychologischen Diagnostik (s. o.)
  • Zur psychotherapeutischen Behandlung (s. u.)
  • Ggf. zur medikamentösen Behandlung (s. u.)
  • Ggf. zur Diagnostik und Mitbehandlung dermatologischer Komorbidität (s. o.)

Indikationen zur stationären Behandlung1

  • Bei Vorliegen mindestens eines der folgenden Kriterien soll eine stationäre Therapie erfolgen:
    1. Gefahr für das Leben
    2. schwerwiegende Vernachlässigung oder Verwahrlosung
    3. Wenn das Zwangs- und Vermeidungsverhalten entweder so schwerwiegend ist oder so gewohnheitsmäßig ausgeführt wird, dass ein normaler Tagesablauf und das Wahrnehmen einer ambulanten Therapie nicht mehr möglich sind.
  • Bei Vorliegen mindestens eines der folgenden Kriterien sollte eine stationäre Therapie erfolgen:
    1. starker Leidensdruck und starke Beeinträchtigung der psychosozialen Funktionsfähigkeit
    2. Versagen leitliniengerechter störungsspezifischer ambulanter Therapie
    3. Psychische oder somatische Komorbidität, die eine ambulante Behandlung erheblich erschwert.
    4. Fehlen leitliniengerechter störungsspezifischer ambulanter Therapiemöglichkeiten.

Therapie

Therapieziele

  • Verbesserung der subjektiven Lebensqualität (ggf. auch bei weiter bestehenden Symptomen) durch Reduktion der Funktionseinschränkung, einschließlich1
    • besserer Bewältigung von Stressituationen
    • Stärkung der Handlungsfähigkeit und Wiederaufnahme von Aktivitäten
    • Förderung von Teilhabe und sozialen Funktionen.
  • Bei vielen Patient*innen ist es möglich, die Symptome um mehr als 50 % zu reduzieren.

Allgemeines zur Therapie

  • Psychotherapie
    • Verhaltenstherapie
    • kognitive Therapie
  • Medikamentöse Therapie
    • selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI)
    • in Ausnahmefällen Clomipramin
  • Kombinationsbehandlung
    • Es gibt nur schwache Hinweise darauf, dass eine zusätzliche Pharmakotherapie während einer Psychotherapie bessere Therapieergebnisse erbringt.1,9
    • Eine kombinierte Therapie ist einer alleinigen Pharmakotherapie überlegen.1 
    • Eine im Anschluss an eine Pharmakotherapie durchgeführte Psychotherapie führt zu weiteren bedeutsamen Besserungen der Zwangssymptomatik.1
      • Besonders bei Patient*innen, die ungenügend auf die Pharmakotherapie angesprochen haben.

Psychotherapie

Verhaltenstherapie und kognitive Theapie

  • Für Verhaltenstherapie, kognitive Therapie und kognitive Verhaltenstherapie haben sich keine Wirksamkeitsunterschiede ergeben, und sie können in der klinischen Praxis nicht sinnvoll getrennt werden.1
  • Die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) einschließlich Exposition und Reaktionsmanagement ist die am besten validierte Therapie bei Zwangsstörungen.1,10-13
    • In Studien wurde nachgewiesen, dass die kognitive Verhaltenstherapie in einem familiären Umfeld für junge Menschen sehr wirkungsvoll ist.14
    • im Einzel- oder Gruppensetting wirksam1
    • Eine über elektronische Medien (Telefon, Internet) angewandte KVT kann wirksam und ressourcenschonend sein.15
      • Bei begrenztem Behandlungsangebot, zur Überbrückung von Wartezeiten oder zur Nachbetreuung sollten medienbasierte KVT-Formen verfügbar gemacht werden.1
  • Beispiel zur Vorgehensweise16
    • Observation
      • Die betroffene Person erstellt eine Liste der Zwangsgedanken, Zwangshandlungen und Dinge, die sie vermeidet.
      • Die Liste wird vom am wenigsten beängstigenden zum beängstigendsten Punkt geordnet.
      • Im Rahmen der Therapie können dazu auch probeweise Expositionen dienen. 
    • Exposition
      • Die betroffene Person beginnt mit den wenig Angst auslösenden Stimuli und setzt sich diesen wiederholt aus, bis die Situation nur noch zu minimaler Angst führt (Extinktion).
      • Dann wird der nächste Stimulus auf der Liste in Angriff genommen usw., bis auch die am meisten gefürchtete Situation wenig oder gar keine Angst erzeugt.
  • Acceptance and Commitment Therapy1
    • Eine modifizierte Form der KVT
    • Fokussiert auf die Funktionen von Gedanken und Gefühlen und unterstützt die Fähigkeit, trotz belastender Emotionen bewusst zu handeln.
    • Psychoanalytisch begründete Psychotherapieverfahren werden zur
      Therapie von Patient*innen mit Zwangsstörung eingesetzt. Für diese
      Verfahren liegt jedoch keine Evidenz aus randomisierten kontrollierten
      Studien vor.
  • Setting der Expositionen1
    • Expositionen im Rahmen einer KVT sind in Begleitung eines Therapeuten wirksamer als ohne Therapeutenbegleitung.
      • In der KVT sollen die Expositionen in Therapeutenbegleitung angeboten werden und auf eine Überführung in das Selbstmanagement der Betroffenen abzielen.
    • Expositionen im Rahmen einer KVT sollten von Therapeuten im häuslichen Umfeld oder in zwangsauslösenden Situationen (außerhalb der Praxis/Klinik) durchgeführt werden, falls die Zwangssymptome im Praxis- bzw.
      Klinik-Setting nicht reproduzierbar sind.
  • Angehörige
    • Empfehlung, enge Bezugspersonen oder nahe Angehörige bei der Durchführung einer KVT einzubeziehen.1

Andere Verfahren

  • Weitere Psychotherapieverfahren werden zur Therapie von Patient*innen mit Zwangsstörung eingesetzt. Für diese Verfahren liegen jedoch keine ausreichenden Wirksamkeitsnachweise aus randomisierten kontrollierten Studien (RCT) vor.1
  • Atemübungen aus dem Kundalini-Yoga erwiesen sich in einer RCT mit 21 Patient*innen als wirksam.17 Das bedarf aber der Überprüfung in weiteren Studien und anhand größerer Fallzahlen.
  • Wirksamkeitshinweise aus Fallkontrollstudien, die der weiteren Überprüfung in RCTs bedürfen, gibt es u. a. zu folgenden Therapieverfahren:1
    • tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie
    • analytische Psychotherapie
    • Hypnotherapie
    • Familientherapie
    • Entspannungsverfahren
    • Mindfulness-basierte Verfahren.
  • Ergotherapie
    • Kann durch konkretes Einüben von Alltagstätigkeiten und Übungen im häuslichen Umfeld eine sinnvolle Ergänzung der Psychotherapie sein.1

Therapiedauer

  • Die KVT mit Exposition und Reaktionsmanagement sollte in ihrer Intensität und Dauer den individuellen Gegebenheiten angepasst und bis zum Erreichen einer klinischen Besserung fortgeführt werden.
    • Y-BOCS-Reduktion um ≥ 50 %
    • Verbesserung der Lebensqualität
  • Die KVT sollte Strategien zur Rückfallprophylaxe beinhalten, z. B.:1
    • Boostersitzungen
    • Verstärkung und Wiederauffrischung von Therapieinhalten
    • Selbsthilfegruppe
    • ambulante Psychotherapie nach stationärer Behandlung.

Leitlinie: Psychotherapie bei Zwangsstörungen1

  • Eine störungsspezifische kognitive Verhaltenstherapie (KVT) einschließlich Exposition und Reaktionsmanagement soll als Psychotherapie der ersten Wahl angeboten werden (A).
  • Die Anwendung der Acceptance and Committment Therapy kann in Erwägung gezogen werden (C).

Medikamentöse Therapie

Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI)

  • In allen Altersgruppen wirksam (Ia)
    • Viele Patient*innen verweigern jedoch die Therapie, brechen die Therapie ab oder erleiden nach dem Abschluss der medikamentösen Therapie einen Rückfall.15
  • Die Zwangssymptome gehen unter der Behandlung allmählich über Wochen bis Monate zurück.
    • Mindestens 6 Monate lang ist eine weitere Besserung zu erwarten.9
  • Dosierung
    • Beispiele
      • Fluoxetin 20 mg: 1 Tabl. tgl.
      • Paroxetin Tabl. 20 mg: 1 Tabl. tgl., um 10 mg/Woche auf 40 mg täglich erhöhen.
    • Höhere Dosen als die für die Behandlung einer Depression üblichen Dosen können zur effektiven Therapie von Zwangsstörungen notwendig sein.
    • Bei unzureichender oder ausbleibender Wirksamkeit (< 25 % Y-BOCS-Veränderung) einer SSRI-Therapie kann eine Dosissteigerung des SSRI individuell erwogen werden, auch in höherer als zugelassener Dosis (Off-Label-Use) (C).
      • Dabei ist eine engmaschige ärztliche Betreuung der Patient*innen mit Überprüfung möglicher unerwünschter Wirkungen (s. u.) erforderlich.
  • Da alle SSRI klinisch vergleichbar gut wirksam sind, soll die Auswahl des SSRI
    anhand des Profils unerwünschter Wirkungen und möglicher Wechselwirkungen
    mit anderen Medikamenten erfolgen.1
  • Besonders zu Beginn der Therapie mit SSRI ist auf Folgendes zu achten (Ib/B):1,18
    • Serotoninsyndrom: Ein erhöhtes Risiko besteht besonders bei Kombination von SSRI mit anderen serotonergen Substanzen. Nicht mit SSRI zu kombinieren sind z. B.:
      • MAO-A-Hemmer
      • Clomipramin
      • Tramadol
      • Tryptophan
      • Oxitriptan
      • Carbamazepin
      • Lithium.
    • Das Serotoninsyndrom kann einhergehen mit:
      • Fieber
      • Schwitzen
      • gastrointestinale Beschwerden
      • Tremor
      • Rigidität
      • Myoklonien
      • epileptischen Anfällen
      • Hyperreflexie
      • Agitiertheit, Verwirrtheit
      • Delir.
    • Tremor/Frösteln
    • Schwitzen
    • Veränderungen des Blutdrucks
    • Myoklonus
    • Mydriasis
    • Blutungsneigung
      • durch Hemmung der Serotoninaufnahme in die Thrombozyten
      • am häufigsten gastrointestinale Blutungen
      • besonders bei gleichzeitiger Gabe von NSAR oder – auch niedrig dosierter – Acetylsalicylsäure
      • erhöhtes Risiko bei hohem Patientenalter und vorausgehenden Blutungsereignissen
    • Hyponatriämie vor allem bei älteren Patient*innen (SIADH = vermehrte Produktion oder Wirkung des antidiuretischen Hormons ADH)
    • Diarrhö
    • Suizidgedanken
    • erhebliche Zunahme von:
      • motorischer Unruhe
      • Angst
      • Agitiertheit.
    • Die Patient*innen sollten auf die Möglichkeit solcher Symptome zu Beginn der medikamentösen Behandlung hingewiesen werden und bei deren Auftreten umgehend ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen.
  • Weitere Beispiele für spezifische Nebenwirkungen unter SSRI
    • Risiko für eine QTc-Zeit-Verlängerung
      • unter Citalopram, Escitalopram und Fluoxetin
      • Risiko tödlicher Torsade de Pointe-Arrhythmien bei Dosierungen oberhalb der Standarddosis
      • EKG-Kontrollen sind unverzichtbar.
    • Übelkeit, Erbrechen
    • sexuelle Dysfunktion
      • verzögerte Ejakulation
      • Orgasmusstörungen bei Männern und Frauen
      • reversible Beeinträchtigung der Spermienqualität
    • Es gibt Hinweise, dass SSRI dosisabhängig zu einem erhöhten Verlust an Knochendichte und zu einem erhöhten Frakturrisiko führen können.19
    • allergische Reaktionen
      • Ekzeme
      • systemische Reaktionen
  • Wechselwirkungen
    • Serotonin-Syndrom bei Kombination serotonerger Substanzen (s. o.)
    • Je nach Wirkstoff Einfluss auf unterschiedliche CYP-Isoenzyme
      • Nebenwirkungsverstärkung bei Kombination mit Johanniskrautpräparaten
      • Die CYP-inhibierende Wirkung von Sertralin, Escitalopram und Citalopram ist deutlich schwächer als die von Fluoxetin, Fluvoxamin und Paroxetin, die von Vortioxetin ist vernachlässigbar.
      • Fluvoxamin hemmt den CYP1A2-abhängigen Metabolismus von Arzneistoffen (z. B. einige TZA, Clozapin, Melatonin, Theophyllin, Zotepin); ggf. sind Dosisreduktionen erforderlich.
      • Fluoxetin und Paroxetin hemmen den CYP2D6-abhängigen Metabolismus einiger anderer Arzneistoffe (z. B. trizyklische Antidepressiva, Neuroleptika vom Phenothiazin-Typ, Metoprolol, Klasse-Ic-Antiarrhythmika, Kodein).
      • Enzyminduktoren wie Phenytoin, Rifampicin oder Phenobarbital können den Abbau von SSRI beschleunigen.
  • Kontraindikationen
    • akute Alkohol-, Schlafmittel-, Analgetika- und Psychopharmakavergiftungen
    • schwere Leber- oder Nierenfunktionsstörungen
    • erhöhte Krampfbereitschaft
    • besondere Vorsicht bei Long-QT-Syndrom

Clomipramin

  • In direkten Vergleichen zeigte sich kein signifikanter Unterscheid hinsichtlich der Wirksamkeit von SSRIs und Clomipramin; SSRIs sind jedoch besser verträglich.1
  • Clomipramin zeigt die für trizyklische Antidepressiva typischen Nebenwirkungen und toxischen Effekte bei Überdosierung (Näheres siehe Artikel Depression).
    • SSRIs sind die bevorzugten Medikamente für die Therapie von Zwangsstörungen, weil sie bei Überdosierung eine geringere Toxizität aufweisen und ein günstigeres Nebenwirkungsprofil haben.
    • Dies ist besonders bei Kindern wichtig, für die die Kardiotoxizität von Clomipramin ein Risiko darstellen kann.

Therapiedauer

  • Die Behandlungsdauer mit SSRI oder Clomipramin sollte mindestens 12 Wochen betragen.1
    • Dabei sollte spätestens ab Woche 6–8 eine maximal zugelassene Dosis erreicht werden.
  • Eine erfolgreiche Pharmakotherapie sollte zur Vermeidung von Rückfällen 1–2 Jahre fortgesetzt werden.1
    • Deren Absetzen sollte über einen Zeitraum von mehreren Monaten unter kontinuierlicher Symptombeobachtung erfolgen.

Leitlinie: Pharmakotherapie bei Zwangsstörungen1

Indikation

  • Eine Monotherapie mit Medikamenten ist nur indiziert, wenn
    • KVT abgelehnt wird oder wegen der Schwere
      der Symptomatik nicht durchgeführt werden kann.
    • KVT wegen langer Wartezeiten oder mangelnder Ressourcen nicht zur
      Verfügung steht – oder –
    • damit die Bereitschaft der betroffenen Person, sich auf weitere Therapiemaßnahmen (KVT) einzulassen, erhöht werden kann.

SSRI

  • Wenn eine medikamentöse Therapie indiziert ist, sollen SSRI (Citalopram,
    Escitalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin) angeboten werden (A).
    • Citalopram ist in Deutschland jedoch zur Behandlung von Zwangsstörungen
      nicht zugelassen (Off-Label-Use).
  • Die SSRI Citalopram, Fluoxetin, Escitalopram, Paroxetin und Sertralin sollten bis
    zu den maximal zugelassenen therapeutischen Dosierungen eingesetzt werden,
    da dann eine stärkere Wirksamkeit zu erwarten ist (B).
  • Zur Erhaltungstherapie sollten SSRI in der zuletzt wirksamen Dosis weiter eingesetzt werden (B).

Clomipramin

  • Wirksamkeit mit SSRI vergleichbar. Soll jedoch aufgrund der Nebenwirkungen
    nicht als erste Wahl zum Einsatz kommen (A).
  • Die intravenöse Applikation hat gegenüber der oralen keine Wirksamkeitsvorteile und sollte nicht primär eingesetzt werden (B).
  • Wenn Therapieversuche mit zwei oder mehr verschiedenen SSRI bei adäquater
    Dauer und Dosierung wirkungslos geblieben sind, kann eine Behandlung
    mit Clomipramin erfolgen (C).

Andere Antidepressiva

  • Trizyklische Antidepressiva (außer Clomipramin) sind in der Behandlung von
    Patient*innen mit einer Zwangsstörung nicht wirksam und sollen daher nicht eingesetzt werden (A).
  • Venlafaxin sollte zur Behandlung von Patient*innen mit Zwangsstörung nicht als
    Medikament erster Wahl eingesetzt werden (A).
    • keine Zulassung für diese Indikation
  • Mirtazapin kann aufgrund unzureichender Wirksamkeitsnachweise zur medikamentösen Monotherapie von Patient*innen mit Zwangsstörung nicht empfohlen werden (C).

Anxiolytika

  • Buspiron ist in der Behandlung von Patient*innen mit Zwangsstörung nicht wirksam und soll daher nicht eingesetzt werden (A).
  • Clonazepam und andere Benzodiazepine sind in der Behandlung von Patient*innen mit Zwangsstörung nicht wirksam und bergen das Risiko einer Abhängigkeitsentwicklung und sollen daher nicht eingesetzt werden (A).

Therapieumstellung

  • Bei unzureichender oder ausbleibender Wirksamkeit (< 25 % Y-BOCS-Veränderung) einer Therapie mit SSRI oder Clomipramin kann auf ein anderes SSRI oder auf Clomipramin umgestellt werden (C).
  • Wenn Therapieversuche mit zwei oder mehr verschiedenen SSRI/Clomipramin
    bei adäquater Dauer und Dosierung wirkungslos geblieben sind, kann eine
    kombinierte Therapie eines SSRI mit Clomipramin erwogen werden (C).

Augmentation mit Antipsychotika

  • Bei ausbleibendem oder unzureichendem Ansprechen (insbes. bei Vorliegen
    von komorbiden Tic-Störungen) auf eine Therapie mit SSRI/Clomipramin sollte als Augmentation eine zusätzliche Therapie mit den Antipsychotika Risperidon, Haloperidol oder mit Einschränkung Quetiapin (inkonsistente Datenlage) angeboten werden (B).
    • Bei Nicht-Ansprechen auf die Augmentation sollten die Antipsychotika spätestens nach 6 Wochen abgesetzt werden.
  • Die Monotherapie mit Antipsychotika kann aufgrund fehlender Wirkungsnachweise
    und möglicher Nebenwirkungen bei der Behandlung von Patient*innen mit Zwangsstörung nicht empfohlen werden.

Kombination KVT und Medikamente

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1
  • Die Behandlung mit SSRI/Clomipramin soll mit einer KVT mit Expositionen und Reaktionsmanagement kombiniert werden (A).
  • Bei nicht ausreichendem Ansprechen auf Psychopharmaka oder noch klinisch relevanter Zwangssymptomatik soll Patient*innen mit Zwangsstörung zusätzlich eine KVT mit Exposition und Reaktionsmanagement angeboten werden (A).
  • Die KVT mit Exposition und Reaktionsmanagement kann mit dem Ziel eines schnelleren Wirkungseintritts durch eine leitliniengerechte Psychopharmakotherapie mit SSRI oder Clomipramin ergänzt werden (C).
  • Bei Patient*innen mit Zwangsstörung und komorbider, mindestens mittelgradiger depressiver Episode kann die KVT durch eine störungsspezifische Psychopharmakotherapie mit SSRI oder Clomipramin ergänzt werden (C).

Transkranielle Magnetstimulation

  • Eine Metaanalyse randomisiert kontrollierter Studien bei Patient*innen mit Zwangsstörung zeigte in der Verumgruppe eine ausgeprägtere Besserung der Symptome als in der Placebogruppe.20
    • Diese Ergebnisse bedürfen der Überprüfung in Studien höherer methodischer Qualität und anhand größerer Fallzahlen.
  • Außerhalb von Studien soll die Methode bislang nicht angewandt werden (A).1

Invasive Verfahren

  • Tiefe Hirnstimulation
    • Kann unter kritischer Nutzen-Risikoabwägung bei schwerstbetroffenen Patient*innen mit therapierefraktärer Zwangsstörung erwogen werden (C).1
    • nur im Rahmen kontrollierter Studien
  • Ablative neurochirurgische Verfahren
    • Sollten wegen schwerer und teilweise irreversibler Nebenwirkungen nicht durchgeführt werden (B).1 

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Im Kindes- und Jugendalter kann die Symptomatik stark fluktuieren.
    • Spontanremissionen sind möglich.21
  • Nach der Pubertät verläuft die Störung ohne spezifische Therapie häufig chronisch.
    • Eine prospektive Kohortenstudie ergab, dass bei 46 % der Patient*innen ein episodischer Verlauf vorlag, während der Verlauf bei 54 % der Betroffenen chronisch war.22

Komplikationen

Prognose

  • Unbehandelt bleibt die Störung in der Regel bestehen.21
  • Die Therapie wird häufig erst sehr spät begonnen.23
  • Bei einer spezifischen Therapie (s. o.) kann in den meisten Fällen eine deutliche Besserung erzielt werden.
  • Bis zu 40 % der Patient*innen sprechen weder auf eine Verhaltenstherapie noch auf eine medikamentöse Therapie an.9
  • Zur Rezidivrate nach Ende der Therapie gibt es keine verlässlichen Daten, u. a. weil es bislang keine einheitliche Definition des Begriffs Rezidiv gibt.
    • Nach Absetzen der Pharmakotherapie liegt die Rezidivrate je nach Definition zwischen 7 % und 67 %.1,24
    • nach Beendigung einer KVT zwischen 12 % und 48 %
    • In der Nachbeobachtungsphase einer randomisiert-kontrollierten Studie lag die Rezidivrate nach Absetzen einer Monotherapie mit Clomipramin bei 45 %, nach Beendigung einer alleinigen Behandlung mit KVT bei 12 %.24

Verlaufskontrolle

  • Der Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1,18
  • Durch regelmäßige Verlaufskontrollen kann rechtzeitig auf auftretende Probleme reagiert werden, z. B. mit:
    • Dosisanpassung oder Wechsel der Medikation
    • Neuentscheidung über die Aufnahme einer Psychotherapie
    • einer erneuten methodenselektiven Indikationsstellung im Rahmen einer begonnenen Psychotherapie.
  • Fragebögen zur standardisierten Verlaufskontrolle können hilfreich sein, z. B. die Yale-Brown Obsessive-Compulsive Scale (Y-BOCS).
  • Plasmaspiegelkontrollen bei:
    • Behandlung mit der Maximaldosis
    • Verträglichkeitsproblemen
    • multimedizierten oder komorbiden Patient*innen
    • Symptomverschlechterung bei dosisstabiler Medikation
    • Nichtansprechen
    • Verdacht auf mangelnde Mitarbeit der betroffenen Person.
  • Ggf. EKG-Kontrollen vor und während der Behandlung mit potenziell kardiotoxischen Antidepressiva.

Patienteninformationen

Was ist wichtig?

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1
  • Aufklärung und Informationsvermittlung haben bei der Behandlung von Patient*innen mit Zwangsstörungen einen hohen Stellenwert und sollen im Rahmen des diagnostischen Prozesses und im Sinne einer vertrauensvollen Beziehungsgestaltung möglichst frühzeitig erfolgen.
  • Psychoedukation soll Bestandteil jeder Behandlung sein. Bezugspersonen oder Angehörige sollten, sofern möglich, in die Psychoedukation einbezogen werden.
  • Die Person soll aktiv in die diagnostisch-therapeutischen Entscheidungsprozesse einbezogen werden.
  • Bezugspersonen oder Angehörige sollten, sofern möglich, in den therapeutischen Prozess einbezogen werden.

Worüber sollten Sie die Patient*innen informieren?

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1
  • Informieren Sie die Patient*innen über die Störung, und diskutieren Sie mit ihnen darüber, was normale Phänomene sind und was als Krankheit betrachtet werden sollte.
  • Wirksame Therapiemöglichkeiten stehen zur Verfügung.

Patienteninformationen in Deximed

Patientenorganisationen

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. S3-Leitlinie Zwangsstörungen. AWMF-Leitlinie Nr. 038-017, Stand 2013. www.awmf.org
  • Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Tics. AWMF-Leitlinie Nr. 030-012, Stand 2012. www.dgn.org
  • DGPPN, BÄK, KBV, AWMF, AkdÄ, BPtK, BApK, DAGSHG, DEGAM, DGPM, DGPs, DGRW (Hrsg.) für die Leitliniengruppe Unipolare Depression. S3-Leitlinie/Nationale Versorgungsleitlinie Unipolare Depression, 2. Auflage. 2015. Stand 2. Dezember 2015; AWMF-Register-Nr. nvl-005. www.awmf.org 

Literatur

  1. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. S3-Leitlinie Zwangsstörungen. AWMF-Leitlinie Nr. 038-017, Stand 2013. www.awmf.org
  2. Bebbington PE. Epidemiology of obsessive-compulsive disorder. Br J Psychiatry 1998; 35(suppl): 2-6.
  3. Hapke U, Robert-Koch-Institut. DEGS Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland. Psychische Gesundheit in der Bevölkerung - Aktuelle Daten und Hintergründe. Online-Ressource, 26.03.2015; letzter Zugriff am 02.10.2017. www.bfr.bund.de
  4. Mell LK, Davis RL, Owens D. Association between streptococcal infection and obsessive compulsive disorder, Tourette's syndrome, and tic disorder. Pediatrics 2005. 116(1):56-60. PMID: 15995031 PubMed
  5. Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Tics. AWMF-Leitlinie Nr. 030-012, Stand 2012. www.awmf.org
  6. Wahl K, Kordon A, Kuelz KA, Voderholzer U, Hohagen F, Zurowski B. Obsessive-Compulsive Disorder (OCD) is still an unrecognised disorder: A study on the recognition of OCD in psychiatric outpatients. European Psychiatry 2010. 25:374–377. PMID: 20627468 PubMed
  7. Dilling H, Freyberger HJ. Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen. 3.Auflage 2006. Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern 1999/2001/2006
  8. The Expert Consensus Panel for Obsessive-Compulsive Disorder. Treatment of obsessive-compulsive disorder. J Clin Psychiatry 1997;58:Suppl 4:2-72.
  9. Heymann I, Mataix-Cols D, Fineberg NA. Obsessive-compulsive disorder. BMJ 2006; 333: 424-9. PubMed
  10. Diedrich A, Voderholzer U. Obsessive-compulsive personality disorder: a current review. Curr Psychiatry Rep. 2015 Feb;17(2):2. doi: 10.1007/s11920-014-0547-8 DOI
  11. National Institute for Health and Clinical Excellence. Obsessive-compulsive disorder: core interventions in the treatment of obsessive-compulsive disorder and body dysmorphic disorder. London: NICE, 2005. (Clinical guideline 31.)
  12. Steketee GS. Treatment of obsessive compulsive disorder. New York: Guilford Press, 1993.
  13. Gava I, Barbui C, Aguglia E, et al. Psychological treatment versus treatment as usual for obsessive compulsive disorder (OCD). Cochrane Database of Systematic Reviews, issue 2, 2007. The Cochrane Library
  14. Barrett P, Healy-Farrell L, March JS. Cognitive-behavioral family treatment of childhood obsessive-compulsive disorder: a controlled trial. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 2004; 43: 46-62. PubMed
  15. Hirschtritt ME, Bloch MH, Mathews CA. Obsessive-Compulsive Disorder Advances in Diagnosis and Treatment. JAMA 2017; 317(13): 1358-67. doi:10.1001/jama.2017.2200 DOI
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  18. DGPPN, BÄK, KBV, AWMF, AkdÄ, BPtK, BApK, DAGSHG, DEGAM, DGPM, DGPs, DGRW (Hrsg.) für die Leitliniengruppe Unipolare Depression. S3-Leitlinie/Nationale Versorgungsleitlinie Unipolare Depression, 2. Auflage. 2015. Stand 2. Dezember 2015; AWMF-Register-Nr. nvl-005. www.awmf.org
  19. Eom, CS et al., Use of selective serotonin reuptake inhibitors and risk of fracture: a systematic review and meta-analysis. J Bone Miner Res 2012. 27: 1186-95. PMID: 22258738 PubMed
  20. Berlim MT, Neufeld NH, Van den Eynde F. Repetitive transcranial magnetic stimulation (rTMS) for obsessive-compulsive disorder (OCD): an exploratory meta-analysis of randomized and sham-controlled trials. J Psychiatr Res. 2013 Aug;47(8):999-1006. PubMed
  21. Skoog G, Skoog I. A 40-year follow-up of patients with obsessive-compulsive disorder. Arch Gen Psychiatry 1999; 56: 121-7. PubMed
  22. Ravizza L, Maina G, Bogetto F. Episodic and chronic obsessive-compulsive disorder. Depress Anxiety 1997; 6: 154-8. PubMed
  23. Fenske JN, Schwenk TL. Obsessive-compulsive disorder: diagnosis and management. Am Fam Physician 2009; 80: 239-45. American Family Physician
  24. Simpson HB, Liebowitz MR, Fao EB, Kozak MJ, Schmidt AB, Rowan V, Petkova E, Kjernisted K, Huppert JD, Franklin ME, Davies SO, Campeas R. Post-treatment effects of exposure therapy and clomipramine in obsessive-compulsive disorder. Depression and Anxiety 2004. 19: 225-233. PMID: 15274171 PubMed

Autor*innen

  • Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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