Kiefergelenkschmerzen

Allgemeine Informationen

Definition

  • Dieser Artikel behandelt Erkrankungen, die zu Kiefergelenkschmerzen führen.
    • Die beiden Ursachen Kiefergelenkluxation und Kieferfraktur werden in diesem Artikel ausführlich behandelt.
    • Die weiteren Ursachen (u. a. temporomandibuläre Dysfunktion) werden in eigenständigen Artikel behandelt, sodass unter Differenzialdiagnosen nur auf sie verlinkt wird.

Häufigkeit

  • 1-Jahres-Inzidenz für Kieferschmerzen in Deutschland knapp 3 %1
  • Tritt gehäuft bei jungen Frauen auf.2
  • Inzidenz von Kiefergelenkluxationen in Deutschland3
    • mindestens 25 Fälle pro 100.000 Personen
    • Betroffen sind vor allem junge Erwachsene zwischen 25–45 Jahren.

Ätiologie und Pathogenese

  • Die 3 häufigsten Ursachen für Kieferschmerzen sind:4
    • myofasziale Schmerzen und Dysfunktion, vor allem in der Kaumuskulatur (dominierende Ursache)
    • Dislokation des intraartikulären Diskus
    • Kiefergelenkarthrose.
  • Gut 1/3 der deutschen Bevölkerung knirscht und presst nachts mit den Zähnen, was Funktionsstörungen im Kausystem auslösen bzw. verstärken kann.2
    • zudem negativer Einfluss auf die Schmerzen durch psychogene Faktoren wie Depressionen, Angst und Stress

Klinische Anatomie

  • Das Kiefergelenk wird gebildet durch den mandibulären Kondylus und der Fossa glenoidalis des Os temporale. Das Kiefergelenk enthält eine knorpelige Gelenkscheibe (Discus articularis), die als Polsterung zwischen den Gelenkflächen dient.5
  • Die Form des Gelenkes ermöglicht es, sowohl Scharnier- als auch Schlittenbewegungen ausführen.
  • Durch kombinierte Scharnier- und Schlittenbewegungen sowie den Diskus im Gelenk, sind schmerzfreies und effektives Kauen, Schlucken und Sprechen möglich.
  • Die Gelenkflächen sind mit fibrösem Bindegewebe bedeckt. Dieses Bindegewebe ist avaskulär und nicht innerviert, und es hat, verglichen mit anderen Synovialgelenken, eine größere Fähigkeit, degenerativen Veränderungen zu widerstehen und sich zu regenerieren.
  • Die Synovialgelenkkapsel und die umliegende Muskulatur sind innerviert. Es wird angenommen, dass diese die Hauptquelle der Schmerzen bei Kiefergelenkserkrankungen sind.

ICPC-2

  • L07 Kiefersymptomatik/-beschwerden

ICD-10

  • K07.6 Krankheiten des Kiefergelenks inkl. Funktionsstörung des Kiefergelenkes und Kiefergelenkarthralgie
  • S02.4 Fraktur des Oberkiefers
  • S02.6 Unterkieferfraktur
  • S03.0 Akute Kieferluxation

Diagnostik

Differenzialdiagnosen

  • Parotitis
    • Schwellung der Glandula parotis
    • Zudem oft Allgemeinsymptome wie Fieber und Abgeschlagenheit
    • bakteriell oder viral bedingt, bei ungeimpften Kindern Mumps-Virus
  • Dislokation vom Diskus
    • typische Pathologie der temporomandibulären Dysfunktion
    • Beim Öffnen des Mundes gleitet der Diskus mit einem leichten Knacken nach hinten an seinen Platz.
    • Beim Schließen des Mundes gleitet der Diskus nach vorne in die anomale Position, in der Regel lautlos.
  • Kiefergelenksarthritis6
    • Bei 4 % der Patient*innen ist das Kiefergelenk der Ort der Erstmanifestation einer rheumatoiden Arthritis
    • im Verlauf Kiefergelenkbeteiligung bei 20 % der Patient*innen
  • Kiefergelenkarthrose
    • vor allem ältere Patient*innen
    • Knirschen beim Kauen
  • Tumoren, Knochenmetastasen
    • bei maligner Erkrankung in der Vorgeschichte
  • Ausstrahlende Schmerzen bei internistischer Erkrankung
  • Peritonsillarabszess
    • Kiefersperre (Trismus) möglich
    • oft Allgemeinsymptome wie Fieber

Kiefergelenkluxation

  • Definition3
    • in der Regel anteriore, beidseitige Luxation der Kiefergelenkköpfchen vor das Tuberculum articulare ohne spontane Reposition
  • Ätiologie
    • Auslöser sind in den meisten Fällen Bewegungen des Alltags mit weiter Kieferöffnung wie z. B. Gähnen, Lachen oder Abbeißen.
  • Diagnostik
    • Bei erstmalig auftretender Unterkieferluxation ohne aktuelles Trauma im Gesichtsbereich kann die Diagnose anhand der Anamnese und körperlichen Untersuchung erfolgen.
    • Wenn die Symptomatik andere Differenzialdiagnosen zulässt, zum Ausschluss von Frakturen im Gesichtsbereich und zur weiteren Therapieplanung, sollten bildgebende Untersuchungen Anwendung finden.
  • Therapie
    • Bei jeder nichttraumatisch bedingten Kiefergelenkluxation sollte zunächst eine manuelle Reposition versucht werden.
      • Je früher diese durchgeführt wird, desto höher sind die Aussichten auf eine erfolgreiche Reposition.
    • Beispielsweise modifizierte Repositionstechnik nach Hippokrates:
      • Die Seiten werden nacheinander reponiert.
      • Tragen von Handschuhen aus Eigenschutz
      • Der Daumen liegt lateral neben den Backenzähnen im Unterkiefer (auf Linea obliqua).
      • Die restlichen Finger von außen unten an den Unterkiefer anlegen.
      • Druck zuerst nach kaudal, dann erst nach dorsal.

Kieferfraktur

  • Definition
    • Fraktur der Mandibula und/oder Maxilla
  • Ätiologie
    • Hauptursachen sind Verkehrsunfälle und körperliche Auseinandersetzungen.7
  • Diagnostik
    • Anamnese mit Trauma
      • selten auch pathologische Frakturen ohne Trauma bei z. B. Knochenmetastasen möglich
    • Panorama-Röntgenaufnahme als Basis der Bildgebung
    • Schnittbildgebung mittels CT zur genauen Darstellung der Fraktur und ggf. operativen Planung
  • Therapie
    • Meist Osteosynthese mit kleinen Platten, um frühfunktionelle Mobilisierung zu ermöglichen.7

Anamnese

  • Beginn der Symptomatik
    • Subjektiv vermuteter Auslöser?
    • Ein akuter Beginn ist ein Hinweis auf eine Infektion oder mechanische Verletzung.
    • Trauma?
  • Dauer der Beschwerden
  • Ein- oder beidseitig?
    • einseitig Hinweis auf Infektion oder Verletzung
    • beidseitig am ehesten gelenk- oder muskelbezogen
  • Symptomatik
    • Schmerzen bei Kieferbewegung, oft verstärkt durch Kauen
    • Knacken: Anhalt für Dislokation des Diskus (temporomandibuläre Dysfunktion)
    • Krepitation: Anhalt für Arthrose
    • Okklusion gestört?
  • Begleitsymptomatik
    • Fieber, AZ-Minderung als Anhalt für eine Infektion
    • häufig Ausstrahlung der Schmerzen mit Kopf- und Ohrenschmerzen sowie Tinnitus
  • Psychische Umstände als mögliche Verstärkung?
  • Parafunktionen des Kauapparates wie Zähneknirschen (Bruxismus)
    • ggf. auch Fremdanamnese durch Partner*in
  • Grunderkrankungen
    • rheumatische Erkrankungen
    • psychische Erkrankungen
      • Kiefergelenkschmerzen können auch Ausdruck von funktionellen Körperbeschwerden sein.

Klinische Untersuchung

Allgemeines

  • Befunderhebung durch genaue Anamnese und einfache klinische Untersuchung ohne teure diagnostische Verfahren möglich8
  • Anzeichen einer Systemerkrankung oder Infektion?
    • z. B. Fieber, Abgeschlagenheit

Inspektion

  • Intraoral
    • Rachen
      • Hinweis auf Infektion?
    • Zahnstatus und Zahnfleisch
      • Sanierungsbedürftig?
      • Möglicher Infektionsherd?
    • Zahnstellung (Okklusion)
  • Extraoral
    • Symmetrie der Schädelknochen und Gesichtsproportionen 
    • Schwellungen und/oder Rötungen
      • Anhalt für z. B. Parotitis oder Abszess

Palpation

  • Kiefergelenk
    • Krepitationen?
      • Anhalt für Arthrose
    • Knacken?
      • Anhalt für Dislokation des Diskus
    • (Sub)Luxation?
  • Kiefergelenkmuskeln (M. masseter, M. temporalis)
    • Druckdolenzen? Triggerpunkte?

Funktionsprüfung

  • Maximale Kieferöffnung und -schluss
  • Vorschub und Seitenverschiebung des Unterkiefers möglich?
  • Okklusion symmetrisch

Ergänzende Untersuchungen

In der Hausarztpraxis

Bei Spezialist*innen

  • Selten erforderlich
  • Bildgebung bei entsprechender Verdachtsdiagnose
    • Orthopantomogramm zur Darstellung der Zähne und Kiefergelenke
    • z. B. Schnittbildgebung bei V. a. Tumor oder Fraktur

Indikationen zur Überweisung/Klinikeinweisung

  • Überweisung zur Zahnärzt*in
    • bei Okklusionsstörungen, Infektionen in der Mundhöhle oder Dislokation des Diskus
  • Einweisung in Klinik mit Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie
    • bei Verdacht auf Fraktur
  • Überweisung an HNO-Praxis 

Therapie

Allgemeines zur Therapie

  • Kiefergelenkstörungen gehen in der Regel von selbst zurück.4
    • Beteiligte Faktoren wie Stress, Angst, Depression oder Zähneknirschen mitbehandeln.9
    • Bei funktionellen Beschwerden sollte initial empathisch beruhigt (ohne zu verharmlosen) und sorgfältig beraten werden.9
    • Eine Abgrenzung zu befürchteten Erkrankungen sollte erfolgen.9
  • Entlastung
    • Harte und zähe Lebensmittel ebenso wie Kaugummi vermeiden.
    • Beim Essen langsamer kauen.
    • Nägelkauen vermeiden.
    • Weniger reden.
  • Bei Bruxismus Entspannungsübungen
    • Nachts getragene Aufbissschiene kann Beschwerden lindern.10-11
  • Kurzzeitig NSAR bei nachgewiesener Arthritis oder Arthrose
    • z. B. Ibuprofen 600 mg 1–0–1 für 4 Tage
  • Bei persistierenden, vor allem einseitigen Beschwerden Ausweitung der Diagnostik und Mitbehandlung durch Zahnärzt*in12

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Leitlinie

  • Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie, Deutsches Kollegium für Psychosomatische Medizin. Funktionelle Körperbeschwerden. AWMF-Leitlinie Nr. 051-001. S3, Stand 2018. www.awmf.org

Literatur

  1. Gesch D, Bernhardt O, Alte D, et al. Prevalence of signs and symptoms of temporomandibular disorders in an urban and rural German population: results of a population-based Study of Health in Pomerania. Quintessence Int. 2004; 2: 143-150 pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  2. Gesellschaft für Zahngesundheit, Funktion und Ästhetik, CMD-Statistik – Verbreitung der Craniomandibulären Dysfunktion. Letzter Zugriff 10.06.22. www.gzfa.de
  3. Prechel U, Ottl P, Ahlers MO et al. The treatment of temporomandibular joint dislocation—a systematic review. Dtsch Arztebl Int 2018; 115: 59-64. www.aerzteblatt.de
  4. Dimitroulis G. Temporomandibular disorders: a clinical update. BMJ 1998;317:190-194. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  5. Mehta NR. Überblick über temporomandibuläre Dysfunktionen, DMD, MDS, MS, Department of Public Health and Community Service, Inhalt zuletzt geändert Feb 2019. Letzter Zugriff 10.06.22. www.msdmanuals.com
  6. Genth E, Gromnica-Ihle E, Häntzschel H, et al.. Qualitätssicherung in der Rheumatologie. 2. Auflage. Berlin: Steinkopff, 2007.
  7. Laub DR. Mandibular Fractures. Medscape, last updated Apr 28, 2022. emedicine.medscape.com
  8. Türp JC. Das schmerzhafte Kiefergelenk. Schweiz Med Forum 2012; 44: 846-850. www.researchgate.net
  9. Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie, Deutsches Kollegium für Psychosomatische Medizin. Nicht-spezifische, funktionelle und somatoforme Körperbeschwerden. AWMF-Leitlinie Nr. 051-001. S3, Stand 2018. www.awmf.org
  10. Fricton J, Look JO, Wright E, et al. Systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials evaluating intraoral orthopedic appliances for temporomandibular disorders. J Orofac Pain 2010;24:237-254. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  11. Ebrahim S, Montoya L, Busse JW, et al. The effectiveness of splint therapy in patients with temporomandibular disorders: a systematic review and meta-analysis. J Am Dent Assoc 2012;143:847-857. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  12. Schiffmann E, Ohrbach R, Truelove E, et al. Diagnostic Criteria for Temporomandibular Disorders (DC/TMD) for Clinical and Research Applications: Recommendations of the International RDC/TMD Consortium Network and Orofacial Pain Special Interest Group. J Oral Facial Pain Headache 2014; 28(1): 6-27. www.ncbi.nlm.nih.gov

Autor*innen

  • Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Frankfurt a. M.
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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