Post-Polio-Syndrom

Zusammenfassung

  • Definition:Mindestens 15 Jahre nach einer akuten Poliomyelitis erneut auftretende progressive Muskelschwäche und/oder atypische Muskelermüdung sowie ggf. Muskel- und/oder Gelenkschmerzen.
  • Häufigkeit:Auftreten bei rund 20–50 % aller Patient*innen mit zurückliegender Poliomyelitis-Erkrankung.
  • Symptome:Neu auftretende Muskelschwäche, Muskelermüdung und/oder -atrophie sowie ggf. Fatigue. Es können Muskel- sowie Gelenkschmerzen auftreten. Schlafapnoe, Restless-Legs-Syndrom, Dysarthie und Dysphagie können weitere Symptome sein.
  • Befunde:Evtl. progressive Muskelatrophie, ggf. Faszikulationen in atrophierten Muskeln und Kraftgradminderung. Sensibilitätsstörungen werden nur sehr selten beschrieben.
  • Diagnostik:Die Diagnose wird anamnestisch und klinisch gestellt. Zum Ausschluss anderer Erkrankungen und zur Erhärtung der Diagnose können Lumbalpunktion, bildgebende Verfahren, Neurografie und/oder oder EMG durchgeführt werden.
  • Therapie:Die Therapie besteht in erster Linie aus der Rehabilitation mittels Physiotherapie, physikalischer Therapie, Ergotherapie, Beratung und ggf. Logopädie.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1-3
  • Das Post-Polio-Syndrom (PPS) ist eine Erkrankung, die Jahre nach einer akuten Poliomyelitis auftreten kann.
  • Es ist gekennzeichnet durch subakut oder akut neu auftretende Parese(n) oder atypische Muskelermüdung in zuvor geschädigten oder nicht geschädigten Muskeln und tritt ggf. in Verbindung mit einem sehr ausgeprägten allgemeinen Erschöpfungssyndrom (Fatigue), Muskelhypotrophie oder -atrophie und/oder Muskel- und Gelenkschmerzen auf.
  • Es tritt in den meisten Fällen frühestens 15 Jahre nach einer paralytischen Poliomyelitis auf.1-2,4
  • Patient*innen mit dem Post-Polio-Syndrom weisen folgende Merkmale auf:
    • Anamnese mit zurückliegender Poliomyelitis, stabilem Verlauf von mindestens 15 Jahren und Residualsymptomen infolge der zurückliegenden Poliomyelitis
    • neu auftretende Muskelschwäche, manchmal auch neu auftretende Hypotrophie der Muskeln
    • Es können sowohl zuvor gelähmte als auch zuvor nicht geschädigte Muskeln betroffen sein.
    • Der Schweregrad des Post-Polio-Syndroms hängt vom Schweregrad der Lähmungen in der akuten Phase ab.
    • Allgemeine Müdigkeit (Fatigue) und ein erhöhtes Schlafbedürfnis können auftreten.
    • Typisch sind Schmerzen infolge von Gelenkverschleiß (Skoliose).
    • evtl. Kälteintoleranz und Verstärkung der Symptome bei kalter Witterung
    • Das Post-Polio-Syndrom ist nicht ansteckend.
    • Das Post-Polio-Syndrom ist keine lebensbedrohliche Erkrankung, kann aber bei unbehandelter Ateminsuffizienz oder Dysphagie zu Hypoventilation und Lungenentzündung (Aspiration) führen.

Häufigkeit

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1-2,4-5
  • Europa ist seit 2002 poliofrei. 80 % der Weltbevölkerung leben in einem poliofreien Land. Weitere Informationen siehe Artikel Poliomyelitis.
    • nichtparalytische Myelitis: 1–4 % der Fälle
    • paralytische Myelitis: < 1 % der Fälle
  • In Deutschland leben Zehntausende Überlebende früherer Polio-Epidemien und schätzungsweise 10.000–50.000 PPS Betroffene.6
  • Die Angaben zur Inzidenz des Post-Polio-Syndroms bei Personen mit zurückliegender Poliomyelitis variieren je nach Quelle sehr stark, abhängig von den jeweiligen Kriterien, die zur Diagnosestellung genutzt werden.1
    • Rund 50 % der Personen mit zurückliegender Poliomyelitis beschreiben im Verlauf neue Symptome wie Schwäche, Fatigue und Konzentrationsschwierigkeiten.1
    • Nur bei 20 % der Patient*innen mit zurückliegender Poliomyelitis tritt eine neue progressive Muskelschwäche auf.1
    • Auftreten des Post-Polio-Syndroms bei rund 20-50 % aller Patient*innen mit zurückliegender Poliomyelitis-Erkrankung2
  • Auftreten des Post-Polio-Syndroms ungefähr 35 Jahre (zwischen 8 und 71 Jahre) nach der akuten Poliomyelitis-Erkrankung1,4
  • Eine Atemlähmung tritt bei < 5 % aller Patient*innen mit Post-Polio-Syndrom auf.5 
  • Das Post-Polio-Syndrom tritt etwas häufiger bei Frauen als bei Männern auf.3-4

Ätiologie und Pathogenese

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1-4,7-8
  • Die Ursache für die Progression der Symptome beim Post-Polio-Syndrom ist unklar.1-2

Pathophysiologie

  • In Untersuchungen der Motoneuronen bei Patient*innen mit Post-Polio-Syndrom wurden zurückliegende neurogene Veränderungen sowie in einigen Fällen aktive Denervierungs- und Reinnervationsprozesse nachgewiesen.
  • Die akute Poliomyelitis-Erkrankung führt zum Verlust motorischer Vorderhornzellen und zur kollateralen Reinnervation einschließlich der Neubildung terminaler Axone.
    • Durch den Verlust von Nervenzellen und die Reinnervation kann sich die Anzahl der zu einer motorischen Einheit gehörenden Muskelfasern bis um das 10-Fache erhöhen.
    • Ab einem bestimmten Grad kann keine weitere Reinnervation erfolgen.
    • Eine nicht kompensierte Denervierung führt daher zur Atrophie von Muskelfasern und damit zum Verlust der Muskelkraft (Lähmung).

Verschiedene Hypothesen

  1. Überlastung der motorischen Einheiten
    • Verlust und Denervierung von Motorneuronen nach der akuten Poliomyelitis
    • Reinnervation der Muskelfasern durch Kollateralen, dadurch Vergrößerung der motorischen Einheit
    • ggf. Überlastung der kompensatorischen Mechanismen
    • Größere motorische Einheiten und metabolische Umsätze können zur Instabilität der reinnervierten neuromuskulären Verbindungen führen.
  2. Alterungsprozess
    • Der normale Alterungsprozess führt zum Verlust von motorischen Einheiten.
  3. Persistierende Polioviren im zentralen Nervensystem
    • ggf. Reaktiverung der Viren und dadurch Progression der Degeneration von Motorneuronen3
  4. Entzündung 
    • Liquor ggf. mit erhöhten Werten proinflammatorischer Zytokine (TNF-alpha und Interferon-gamma)
    • Serum ggf. mit erhöhten Werten proinflammtorischer Zytokinen (TNF-alpha, Interleukin-6 und Leptin)
    • Zeichen des systemischen inflammatorischen Response-Syndroms (SIRS)
    • postmortem Nachweis von inflammatorischen Veränderungen bei Patient*innen mit PPS3
    • Mögliche Ursachen sind:
      • persistierende Infektion oder späte Immunabwehr7
      • chronisch persistierende Fragmente des Poliovirus, ggf. verstärkt durch eine Infektion mit Nicht-Polio-Enteroviren (widersprüchliche Befunde, keine konklusive Virusisolierung; allerdings wurden solche Fragmente in einer Studie bei allen untersuchten Patient*innen mit Post-Polio-Syndrom nachgewiesen8).
      • Eine persistierende Infektion kann im Zusammenhang stehen mit der Erhöhung von proinflammatorischen Chemokinen und Zytokinen.
    • Muskelbiopsien mit perivaskulären und interstitiellen Entzündungsinfiltraten4
    • keine Korrelation zwischen Schwere der Erkrankung, Progressionsrate und Höhe der proinflammorischen Peptiden3
  5. Autoimmune Prozesse
    • wenig Evidenz
    • in einer Studie: hohe Konzentration von regulatorischen T-Zellen und Antikörpern gegen das Poliovirus3
  6. Genetisch
    • möglicherweise Zusammenhang zwischen Polymorphismus des Fibrinogenrezeptors IIIA und Entwicklung von PPS3

Prädisponierende Faktoren

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1
  • Größere Wahrscheinlichkeit der Entwicklung eines Post-Polio-Syndroms bei Patient*innen mit: 
    • schweren Lähmungen im Rahmen der Poliomyelitis
    • bulbären Atemlähmungen während der Poliomyelitis
    • hohem Alter bei Manifestation der Poliomyelitis
      • Verlauf der Poliomyelitis bei älteren Patient*innen häufiger schwerwiegender
    • Übergewicht
    • Immunsuppression.

ICPC-2

  • N70 Poliomyelitis

ICD-10

  • B91 Folgezustände der Poliomyelitis

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1-3
  1. Frühere paralytische Poliomyelitis, gesichert durch Anamnese, klinische Untersuchungen mit ggf. Muskelatrophien oder Residuen und typischen EMG-Veränderungen2-3
    • Nachweis des Verlusts von Motorneuronen
    • klinischer Befund von residualer Muskelschwäche und Muskelatrophie oder
    • EMG mit Zeichen der Denervierung (Zeichen der Vorderhornschädigung)
    • PCR-Amplifikation von Poliovirus-RNA im Liquor
  2. Eine Phase der in(kompletten) Remission gefolgt von einem Intervall mit neuromuskulärer Stabilität (normalerweise mindestens 15 Jahre)
  3. Langsam oder (selten) plötzlich beginnende neu auftretende progrediente Muskelschwäche und/oder abnorme Muskelermüdung, mit oder ohne generalisierte Fatigue ggf. in Verbindung mit neu auftretender Muskelatrophie und/oder Muskel- und/oder Gelenkschmerzen
    • Symptome können nach Traumata, Operationen oder Inaktivitätsphasen erstmalig auftreten.
  4. Symptome bestehen mindestens 1 Jahr.
  5. Ausschluss von neuromuskulären, orthopädischen oder anderen Differenzialdiagnosen, die die Symptomatik hervorrufen könnten.

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1-4,9
  • Zustand nach Poliomyelitis
  • Es können sowohl neurologische als auch muskuloskelettale Symptome auftreten.1
    • neu auftretende progressive Schwäche oder atypische Ermüdung der Muskulatur
    • verminderte Ausdauer
    • allgemeine Müdigkeit (Fatigue)
    • Muskel- und/oder Gelenkschmerzen9
    • häufig zusätzlich Restless-Legs-Syndrom (bei ca. 36 % der Post-Polio-Patient*innen)1,4
      • Kann Schlafstörung und Müdigkeit verursachen.
  • Progressive Muskelschwäche
    • Tritt bei den meisten Patient*innen mit PPS auf.
    • Tritt meistens in den durch die Poliomyelitis bereits betroffenen Muskeln auf.
    • häufig asymmetrisches Auftreten der Muskelschwäche
    • Korrelation mit Schwere der Muskelparesen während der akuten Poliomyelitis
    • Kann proximal oder distal auftreten.
    • bei < 50 % der Fälle zusätzlich Muskelatrophie und/oder Faszikulationen
    • neue Schwäche der bulbären Muskulatur möglich
    • möglicherweise Schwäche der pharyngealen und laryngealen Muskulatur mit Dysphagie und/oder Husten
    • Dysarthrie bei Schwäche der Gesichtsmuskulatur oder Stimmbandlähmung
  • Generalisierte Müdigkeit (Fatigue)
    • häufigstes Symptom
    • Tritt bei ca. 80 % der Patient*innen mit PPS auf.1
    • paroxysmale Erschöpfung nach kleinster Anstrengung, normalerweise in bereits schwacher oder geschwächter Muskulatur
    • Auftreten meistens am frühen Nachmittag4
    • Besserung durch Ruhe, v. a. Schlaf1,4
    • Kann zu Schlaflosigkeit, Wortfindungsstörungen, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen führen.
    • häufig multifaktoriell bedingt durch:3 
      • pathologische motorische Einheiten
      • Schlafstörungen
      • Polypharmazie
      • Atembeschwerden
      • Gewichtszunahme.
  • Gelenkschmerzen 
    • durch Kyphoskoliose
    • degenerative Gelenkveränderungen
    • Gelenkinstabilität
    • Beinlängendifferenz
    • Muskelatrophie
  • Muskelschmerzen1,4
    • am häufigsten Schultern, Beine, Hüfte, Rücken
    • Die stärksten Schmerzen treten meistens in Knien, Handgelenken, Kopf, Rücken, Beinen auf.
    • Durch Überanstrengung/Belastung bereits geschwächter Muskulatur oder Muskelgruppen, die für geschwächte Muskeln kompensieren.
  • Neuropathische Schmerzen
    • durch Diskushernie
    • Einengung von Nerven
  • Gehschwierigkeiten/Gangunsicherheit3
    • durch zunehmende Schwäche, Schmerzen, Arthrose oder Gelenkinstabilität
  • Atembeschwerden (respiratorische Insuffizienz)
    • bei Patient*innen mit respiratorischer Insuffizienz in der Akutphase
    • Häufiger bei Patient*innen, die in der Akutphase älter als 10 Jahre alt waren.
    • Ursachen
      • häufig Schwäche der respiratorischen Muskulatur
      • möglicherweise zentrale Hypoventilation bei Z. n. bulbärer Poliomyelitis
    • Beginnt am ehesten mit nächtlicher alveolaren Hypoventilation.
    • Folgen der Hypoventilation
      • unruhiger Schlaf
      • Erwachen in der Nacht
      • morgendliche Kopfschmerzen
      • (morgendliche) Müdigkeit
      • leichte kognitive Störung
    • Verstärkung der Hypoventilation durch Skoliose, Lungenemphysem, Herz-Kreislauf-Insuffizienz oder eine schlechte Körperhaltung
    • möglicherweise Husten
  • Depression10
    • ca. 53 % der Patient*innen
    • gedrückte Stimmung
    • Antriebslosigkeit
    • Schuldgefühle
    • Schlaflosigkeit
    • innere Unruhe
  • Selten andere Symptome
    • Kälteintoleranz (Verstärkung der Symptome bei Kälte)
      • Kälteempfindlichkeit, vor allem in den unteren Extremitäten
    • Zuckungen und Krämpfe der Muskeln
    • Schwellungen der Beine/Füße
    • obstruktive/zentrale Schlafapnoe
      • Bei Patient*innen, die unter Spätfolgen bulbärer Störungen oder schweren Atemprobleme leiden.
    • Rückenschmerzen
      • bei Patient*innen mit Schiefhaltung, Skoliose oder unterschiedlichen Beinlängen nach der akuten Poliomyelitis

Klinische Untersuchung

  • Neurologische Untersuchung
    • Kraftgrade: evtl. herabgesetzt
    • Sensibilitätsprüfung: nur selten Sensibilitätsstörungen bei PPS, wichtig für Differenzialdiagnostik
    • Gangbild
  • Zunehmende Schwäche und/oder Atrophie in zuvor betroffenen Muskeln
  • Möglicherweise Faszikulationen in den atrophen Muskeln

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

Diagnostik bei Spezialist*innen

Zur differenzialdiagnostischen Abklärung und bei unklaren Befunden

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1-4,11-12
  • Liquoruntersuchung
    • evtl. Proteinerhöhung oder Erhöhung oligoklonaler Banden1
    • evtl. Amplifikation der Poliovirus-RNA als Zeichen einer vorangegangen Poliomyelitis
    • möglicherweise erhöhte Konzentrationen von Tumornekrosefaktor, Gamma-Interferon und Interleukin-411
      • Ursache unbekannt
      • möglicherweise Autoimmunreaktion oder
      • chronische Virusinfektion oder
      • Folge der neurodegenerativen Prozesse11-12
  • Röntgen Wirbelsäule
    • Diagnose von Skoliose
    • Diagnose anderer Fehlstellungen der Wirbelsäule
    • Ausschluss von Differenzialdiagnosen (Tumoren etc.)
  • CT oder MRT HWS
    • bei V. a. Spinalkanalstenose oder Beteiligung von Nervenwurzeln
    • zum Ausschluss struktureller, neoplastischer, entzündlicher, komprimierender spinaler Prozesse
  • MRT Kopf: bei bulbären Symptomen
  • Neurografie
  • EMG
    • keine Unterscheidung zwischen durchgemachter Poliomyelitis und PPS
    • Bestätigung einer durchgemachten Poliomyelitis
      • Ausmaß und Schwere der poliobedingten Lähmung 
      • Fibrillationspotenziale, positive scharfe Wellen (PSW) sind nicht obligat.2
    • Ausschluss anderer neuromuskulärer Erkrankungen wie: 
    • EMG-Studien bei Patient*innen mit durchgemachter Poliomyelitis
      • Zeigen Zeichen des chronischen Verlusts von Motorneuronen in Muskeln, die klinisch normal sind.
      • Zeigt vergrößerte motorische Einheiten und verlängerte Reizzustände.
    • Durchführung in einem neurophysiologischen Labor
  • Muskelultraschall
    • Muskeldicke und Echointensität als Differenzierungsmöglichkeiten zwischen gesunder und kranker Muskulatur
  • Spirometrie
    • Beurteilung der Lungenfunktion
    • Diagnose von Atemstörungen
  • Muskelbiopsie
    • bei unklarer Diagnose
    • keine Unterscheidung zwischen vorangegangener Poliomyelitis und PPS
    • nach Poliomyelitis in Muskelbiopsie Zeichen der chronischen Denervierung und Reinnervierung und aktiven Denervierung
    • Zeichen der kompensatorischen Reinnervation: hypertrophierte Muskelfasern Typ I
    • Zeichen der aktiven Denervierung: Small Angulated Fibers (Zeichen der Atrophie)

Indikationen zur Überweisung

  • Bei Verdacht auf das Post-Polio-Syndrom sollte eine Überweisung an die Neurologie für weiterführende Diagnostik und/oder an ein multidisziplinäres Rehazentrum für die Behandlung der Erkrankung erfolgen.

Therapie

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1-5,13

Therapieziele

  • Muskulatur stärken und Funktionalität verbessern.
  • Schmerzen lindern.
  • Eigene Belastungsgrenzen erfahren.
  • Adäquater Umgang mit eigenen Energiereserven
  • Krankheitsprogression mindern.
  • Komplikationen und letale Verläufe verhindern.
  • Lebensqualität durch verschiedene Maßnahmen verbessern.

Allgemeines zur Therapie

  • Grundlage der Therapie bildet die interdisziplinäre Zusammenarbeit
  • Rehabilitationsprogramm mit:
    • physiotherapeutischen, physikalischen, ergotherapeutischen, schmerztherapeutischen und arbeitsmedizinischen Behandlungen und ggf. Logopädie bei Bulbärsymptomen (Dysphagie, Dysarthrie)
    • ggf. zusätzliche psychologische Mitbetreuung und Ernährungsberatung.
  • Medikamentöse Behandlung
    • keine medikamentöse Heilung1
    • lediglich Linderung der Symptomatik
    • Studienlage aktuell nicht eindeutig

Psychologische Mitbetreuung

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.4,13
  • Zum Beispiel kognitive Verhaltenstherapie4
    • eingesetzt bei Fatigue, Aufmerksamkeits-, Wahrnehmungs- und Gedächtnisstörungen
  • Unterstützung bei emotionalen und psychosozialen Problemen
  • Behandlung von Depression, Angsstörungen

Beratung

  • Raucher*in: Nikotinkonsum beenden/vermindern.
  • Vermeidung von Kälte, Bevorzugung warmer Umgebung, vor allem bei Bewegung3
  • Vermeidung einer Gewichtszunahme
    • Die erforderliche Gewichtsabnahme aknn schwierig sein aufgrund der eingeschränkten Beweglichkeit.
    • Höheres Körpergewicht führt zur Belastung der Gelenke und Zunahme von Schmerzen und Instabilität.

Krankengymnastik

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf dieser Referenz.13
  • Eingesetzt bei:
    • Muskelermüdung und -schwäche
    • muskuloskelettalen Schmerzen
    • Fatigue.
  • Therapieziele
    • Optimierung von Bewegungsabläufen
    • Erhöhung der Muskelkraft, Muskelausdauer und Verbesserung der Durchblutung
    • Funktionsverbesserung und -erhalt
  • Zentrale Aspekte der Therapie
    • achtsamer Umgang mit den eigenen Kräften
    • Anpassung der Übungen an die vorhandene Kraft der Betroffenen
  • Die körperlichen Übungen sind auf folgende Aspekte auszurichten:
    • Betätigung der betroffenen Muskelgruppen
    • Schutz überlasteter Muskeln und Gelenke
    • Schutz stark gelähmter Bereiche.
  • Muskelermüdung- und -schwäche
    • Intervalltraining mit Wechsel von Anstrengung und Pause
      • assoziiert mit verminderter lokaler Muskelermüdung, erhöhter Arbeitskapazität und Kraftzunahme
  • Art der Durchführung
    • Therapieintensität bei 20–60 % der Muskelkraft
  • Weitere Maßnahmen 
    • Stimulationstechniken
    • isometrische und isokinetische Übungen
    • Schlingentischbehandlung
    • Fahrradergometrie und Laufband (Ausdauertraining)
    • Arbeit in Bahnungssystemen
      • Bobath-Konzept
      • Vojta
      • Stemmführung nach Brunkow
      • propriozeptive neuromuskuläre Faszikulation
      • PNF
    • Rollstuhlberatung, -training und -anpassung

Physikalische Therapie

  • Eingesetzt bei Muskelermüdung und -schwäche
  • Myofasziales Schmerzsyndrom4
    • Behandlung mit Wärme
    • Elektrostimulation
    • Triggerpunkt-Injektionen
    • Dehnübungen
    • Biofeedback
    • Übungen zur Muskelentspannung
    • Akupunktur
  • Muskuloskelettale Schmerzen und Gelenkinstabilität
    • Niederfrequenztherapie (Gleichstrom, TENS)
    • Ultraschallbehandlung
    • Bindegewebemassage
    • hydroelektrische Bäder, Hydrotherapie
    • Wärmeanwendung (Licht, Moor)
    • Lymphdrainage
    • Entlastung der Gelenke durch geeignete Hilfsmittel wie Orthesen, Gehhilfen, Rollstühle
  • Schwierigkeiten beim Gehen
    • Gehhilfen und ggf. ein Rollstuhl
  • Atembeschwerden
    • Hilfsmittel zur Unterstützung der Atmung

Physiotherapie

  • Eingesetzt bei Atemstörungen
  • Atemprophylaxe und -therapie
  • Physiotherapeutische Einzelbehandlung bei klinisch deutl. Atemfunktionsstörung

Ergotherapie

  • Eingesetzt bei Fatigue
  • Therapieziele
    • Mobilisierung von Rumpf und Armen
    • Informationen zu Hilfsmitteln für Arbeitsplatz und Haushalt

Logopädie

  • Eingesetzt bei Dysarthrie, Atemstörungen, Dysphagie
  • Übungen zur Verbesserung der Artikulation, Atemtechnik
  • Diagnostik und Therapie von Dysphagie

Hilfsmittel

Orthesen

  • Bei muskuloskelettalen Schmerzen und Gelenkinstabilität
  • Planung und/oder Anpassung von Orthesen für Knie, Sprunggelenk oder Nacken
  • Erlernen des Umgangs mit den Hilfsmitteln im Rahmen der Physiotherapie
  • Maßnahmen, die die Funktionalität erheblich verbessern können.14

Unterstützung der Atmung

  • Seit vielen Jahren Atemhilfsmittel bei Post-Polio-Patient*innen15
  • Gestörter Schlafrhythmus und Tagesmüdigkeit: möglicherweise Zeichen einer Atemstörung
  • In frühen Krankheitsstadien: alleinige Sauerstofftherapie ausreichend
  • Therapie der Wahl: nichtinvasive Beatmung 
    • Vermeidung der invasiven durch frühzeitige nichtinvasive Beatmung
    • C-PAP bei Schlafapnoe/nächtlicher Hypoventilation
  • Invasive Beatmung (Tracheostomie) nur extrem selten notwendig3

Sozialdienst

  • Maßnahmen zur ergonomischen Anpassung für Berufstätigkeit und Haushaltsbewältigung
  • Beantragung Schwerbehindertenausweis und Pflegestufe
  • Beratung zu Pflegehilfsmitteln

Medikamentöse Therapie

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1,7,10
  • Muskuloskelettale Schmerzen
    • Behandlung mit nichtsteroidalen Analgetika, ASS
  • Studien 
    • bisher keine evidenzbasierte medikamentöse Therapie
    • intravenöse Gabe von IgG-Antikörpern (IVIg)
      • in einigen Studien Kontrolle von Schmerz und Reduktion von proinflammatorischen Zytokinen in Liquor und Serum
      • v. a. wirksam bei Patient*innen mit starker Funktionseinschränkung, Muskelatrophie in den unteren Extremitäten und stärkerer Fatigue und höherem Schmerzniveau4 
    • Amantadine kann ggf. in wenigen Fällen bei Fatigue helfen.
    • Amitryptilin
      • Bisher in Studien nicht untersucht, könnte bei Fatigue wirken.
      • Könnte zur Schmerzbehandlung eingesetzt werden.
    • Lamotrigin kann ggf. gegen Schmerzen und Müdigkeit wirken und eine Verbesserung der Lebensqualität verursachen.3
    • Behandlung des Restless-Legs-Syndroms1,3
      • Dopaminagonisten 
      • gabapentinoide Antiepileptika

Orthopädische Operation

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf dieser Referenz.7
  • Manchmal bei Patient*innen nach durchstandener Polioinfektion indiziert
  • Kann zur Schmerzreduktion beitragen.
  • Zur Behandlung von Fehlstellungen
  • Zur Stabilisierung von Gelenken

Verlauf, Komplikationen und Prognose

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1-4,13,15

Verlauf

  • Die Erkrankung schreitet langsam voran, evtl. auch mit intermittierend stabilen Phasen, die 3–10 Jahre dauern können.

Komplikationen

Orthopädische Komplikationen

  • Atypische Belastung von Gelenken infolge der Knochendeformierung und Muskelschwäche
  • Mögliche Komplikationen:
    • Flexionsdeformität
    • Hyperextension oder laterale Instabilität der Knie- oder Hüftgelenke
    • progressive Instabilität von Gelenken
    • Osteoporose
    • Frakturen
    • Arthrose
    • Skoliose
    • zervikale Spondylose mit Nackenschmerzen, verschiedenen radikulären und sensorischen Symptomen, manchmal Kompression des Rückenmarks

Atemstillstand

  • Selten Atemstillstand infolge von Lähmungen
  • Atemstillstand häufig Folge einer nachts verstärkt auftretenden Hypoventilation
    • Ursache: Deformierung des Brustkorbs, zunehmende Skoliose

Neurologische Komplikationen

  • Einklemmung peripherer Nerven
    • durch Fehlstellungen des Skeletts
    • Verwendung von Gehhilfen, eines Rollstuhls u. Ä.
  • Sehr selten Dysphagie/Dysarthrie

Urologische Komplikationen

  • Blasenentleerungsstörungen/Inkontinenz bei Paresen der Bauchmuskulatur13

Psychiatrische Komplikationen

  • Depressionen mit:
    • sozialem Rückzug3
    • Antriebslosigkeit
    • Schuldgefühlen
    • Schlafstörungen
    • innerer Unruhe.

Prognose

  • Langsame Progression der Symptomatik
  • Negativer prognostischer Marker: männliches Geschlecht3
  • Abhängig von der Ursache der Funktionseinschränkungen und der im Rahmen der zuvor durchgemachten akuten Polioinfektion eingetretenen Lähmungen

Patienteninformationen

Patienteninformation in Deximed

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin. Nichtinvasive und invasive Beatmung als Therapie der chronischen respiratorischen Insuffizienz. AWMF-Leitlinie Nr. 020-008. S2k, Stand 2017. www.awmf.org 

Literatur

  1. Simionescu L, Modlin JF. Post-polio syndrome. UpToDate, last updated Mar 7, 2022. www.uptodate.com
  2. Post-Polio-Syndrom. In: Hufschmidt A, Rauer S, Glocker F (Hrsg). Neurologie compact. 9., vollständig überarbeitete Auflage. Stuttgart: Thieme; 2022.
  3. Li Hi Shing S, Chipika RH, Finegan E, Murray D, Hardiman O, Bede P. Post-polio Syndrome: More Than Just a Lower Motor Neuron Disease. Front Neurol. 2019 Jul 16;10:773. doi: 10.3389/fneur.2019.00773. PMID: 31379723; PMCID: PMC6646725. www.ncbi.nlm.nih.gov
  4. Kedlaya D. Postpolio Syndrome. Medscape. Updated March, 18 2021. (letzter Zugang: 23.06.2022) emedicine.medscape.com
  5. Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin. Nichtinvasive und invasive Beatmung als Therapie der chronischen respiratorischen Insuffizienz. S2k-AWMF-Leitlinie Nr. 020-008. Stand 2017. www.awmf.org
  6. Meyer R. Post-Polio-Syndrom: Eine häufig übersehene Entität. Dtsch Arztebl 2000; 97(7): A-357 / B-301 / C-281. www.aerzteblatt.de
  7. Chu ECP, Lam KKW. Post-poliomyelitis syndrome. Int Med Case Rep J. 2019 Aug 8;12:261-264. www.ncbi.nlm.nih.gov
  8. Baj A, Monaco S, Zanusso G, et al. Virology of the post-polio syndrome. Future Virology 2007; 2: 183-92. www.researchgate.net
  9. Werhagen L, Borg K. Impact of pain on quality of life in patients with post-polio syndrome. J Rehabil Med. 2013 Feb. 45(2):161-3. www.ncbi.nlm.nih.gov
  10. Weber MA, Schönknecht P, Pilz J, Storch-Hagenlocher B. Postpolio-Syndrom-Neurologische und psychiatrische Aspekte. Nervenarzt 2004. 75:347–354. www.klinikum.uni-heidelberg.de
  11. Gonzalez H, Khademi M, Andersson M et al. Prior poliomyelitis - evidence of cytokine production in the central nervous system. J Neurol Sci 2002; 205: 9-13. PubMed
  12. Dalakas MC. Pro-inflammatory cytokines and motor neuron dysfunction: is there a connection in post-polio syndrome? J Neurol Sci 2002; 205: 5-8. PubMed
  13. Neurologisches Rehabilitationszentrum Quellendorf. Post-Polio-Syndrom. Behandlungskonzepte. (Zugang 16.06.2022) www.sana.de
  14. Howard RS. Poliomyelitis and the pospolio syndrome. BMJ 2005; 330: 1314-9. PubMed
  15. Howard RS, Davidson C. Long term ventilation in neurogenic respiratory failure. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2003; 74(suppl III): iii24-30. www.ncbi.nlm.nih.gov

Autor*innen

  • Katja Luther, Ärztin in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Berlin
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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