Zusammenfassung
- Definition:Muskulotendinöse Verletzung des M. gastrocnemius, meist ist der mediale Muskelkopf in der Kniekehle betroffen.
- Häufigkeit:Gehäuft bei Freizeitsportler*innen in der 4.–6. Lebensdekade.
- Symptome:Bei Bewegung plötzliches „Schnappen“ in der Kniekehle mit anschließender Schwellung, Schmerzen und fehlender Belastungsmöglichkeit des Beins.
- Befunde:Schwellung, Ekchymose und ggf. palpabler Defekt in der Muskulatur.
- Diagnostik:Ultraschall, bei diagnostischer Unsicherheit MRT.
- Therapie:Konservative Therapie mit Pause, Eis, Compression und Hochlagern (PECH-Regel) in Akutphase sowie ggf. NSAR. Anschließend Rehabilitationsprogramm mit sukzessiver Belastungssteigerung.
Allgemeine Informationen
Definition
- Muskulotendinöse Verletzung des M. gastrocnemius, meistens ist der mediale Muskelkopf in der Kniekehle betroffen.
- „Tennis Leg“ (Tennis-Bein): Oberbegriff für akute Wadenschmerzen1
Häufigkeit
- Am häufigsten bei Freizeitsportler*innen in der 4.–6. Lebensdekade2
- Männer sind häufiger als Frauen betroffen.3
- Der mediale Kopf ist der am häufigsten verletzte Anteil vom M. gastrocnemius.4
Ätiologie und Pathogenese
Anatomie
- Anatomie gemäß Coffey et al.3
- Der M. gastrocnemius ist der oberflächlichste und formgebende Muskel der Wade.
- Der mediale und der laterale Kopf entspringen an der jeweiligen Kondyle des Femurs.
- Einzelne Fasern entstammen auch der Gelenkkapsel des Kniegelenks.
- Gemeinsamer Ansatz mit Sehne des M. soleus als Achillessehne an Kalkaneus
- Gemeinsam werden beide Muskeln als M. triceps surae bezeichnet.
- Der M. gastrocnemius besteht vor allem aus „Fast-Twitch“ (schnell zuckenden, „weißen“), der M. soleus aus „Slow-Twitch“ (langsam zuckenden, „roten“) Muskelfasern.
- Der M. gastrocnemius initiiert schnellkräftige Bewegungen wie Springen und Rennen.
- Der M. soleus ist eher für ausdauernde, langsame Bewegungen verantwortlich.
- Innervation durch N. tibialis
- Hauptfunktion: Plantarflexion des Fußes
Verletzungsmechanismus
- In der Regel durch forcierte Dorsalextension des Fußes bei gestrecktem Kniegelenk1
- typischerweise Absprungbewegung oder Beginn eines Sprints
- Durch plötzliche Anspannung der weißen Muskelfasern des M. gastrocnemius ist eine (Partial-)Ruptur möglich.
- Rupturen sind zudem bei langer, ausgeprägter Plantarflexion beschrieben.
Prädisponierende Faktoren
- Unzureichend trainierte Personen, die z. B. nur am Wochenende Sport treiben („Weekend Warriors“).2
- Sportarten mit explosiven Bewegungen (Sprüngen, Sprints) und abrupten Richtungswechseln3
- Muskuläre Ermüdung durch körperliche Aktivität mit dem Fuß in Plantarflexion für über 4 Stunden4
- Unzureichendes Aufwärmen der Wadenmuskulatur
- Frühere Muskelverletzungen
- Fibrotisches Narbengewebe ist anfällig für neue Verletzungen.
ICPC-2
- L81 Verletzung muskuloskelettär NNB
ICD-10
- S86.1 Verletzung sonstiger Muskeln und Sehnen der posterioren Muskelgruppe in Höhe des Unterschenkels
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Passender Verletzungsmechanismus und sonografischer Nachweis der Verletzung
Differenzialdiagnosen
- Kompartmentsyndrom
- Ruptur der Achillessehne
- Ruptur einer Baker-Zyste
- Tiefe Venenthrombose
- Ruptur der Plantarfaszie
- Ruptur oder Tendinitis der Sehne des Musculus tibialis posterior
- Kompression (Entrapment-Syndrom) der Arteria poplitea in der Kniekehle
Anamnese
- Bei Bewegung plötzliches „Schnappen“ in der Kniekehle mit anschließender Schwellung, Schmerzen und fehlender Belastungsmöglichkeit des Beins1
Klinische Untersuchung
- Inspektion
- asymmetrische Schwellung des Unterschenkels
- Ekchymosen, häufig bis zum Sprunggelenk oder Fuß
- Palpation
- fokaler Druckschmerz und Verhärtung im verletzten Bereich
- bei großer Ruptur palpabler Defekt im Muskel
- Provokationstest
- durch Dorsalextension und Plantarflexion des Sprunggelenks gegen Widerstand meist diffuse Schmerzen im proximalen Unterschenkel
- Zehengang meist nur eingeschränkt möglich
Ergänzende Untersuchungen
- Evtl. D-Dimere zum differenzialdiagnostischen Ausschluss einer Beinvenenthrombose
Weitere Untersuchungen
- Ultraschall4
- Bildgebung der Wahl bei Patient*innen mit akutem Wadenschmerz
- Ausschluss TVT in derselben Untersuchung möglich
- Cave: In den ersten 48 h nach Trauma wird die Muskelverletzung oft übersehen, da entstandenes Hämatom isoechogen zum Muskel.
- in der Regel Demaskierung nach 72 h (Hämatom wird liquide und hypoechogen)
- Bildgebung der Wahl bei Patient*innen mit akutem Wadenschmerz
- MRT
Indikationen zur Überweisung
- Bei Unsicherheiten bezüglich der Diagnose
Therapie
Therapieziele
- Schmerzlinderung
- Wiederherstellung der Funktion
Allgemeines zur Therapie
- Fast immer konservative Therapie1
- einzige Ausnahme: Kompartmentsyndrom
Konservative Therapie
- Akuttherapie
- Pause, Eis, Compression, Hochlagern (PECH-Regel)
- Kompressionsstrümpfe mit 20–30 mmHg reduzieren die Hämatombildung und beschleunigen so den Heilungsprozess.7
- Pause, Eis, Compression, Hochlagern (PECH-Regel)
- Fersenerhöhung, um (schmerzhafte) Dorsalextension zu reduzieren.2-3
- Evtl. Unterarmgehhilfen
- Thromboseprophylaxe bei entlastenden Unterarmgehhilfen?
- Bei Patient*innen mit Gips am Unterschenkel oder nach arthroskopischen Eingriffen an der unteren Extremität gibt es keinen signifikanten Unterschied bei der Anzahl symptomatischer Thrombosen mit bzw. ohne Heparinspritzen.8
- Laut DEGAM nur bei individuell sehr erhöhtem Thromboserisiko (z. B. Zustand nach Lungenarterienembolie) erwägen.9
- in diesem Fall individuelle Aufklärung über Für und Wider einer medikamentösen Behandlung und gemeinsame Entscheidungsfindung
- Aufklärungsbogen der DEGAM hier.
- NSAR
- neben Analgesie auch Reduktion heterotoper Ossifikationen2
Rehabilitation
- Beispielhaftes Rehabilitationsprogramm nach Coffey et al.3
- Solange Schwellung und Hämatom
- Anwendung von Kompressionsstrümpfen und mehrmals täglicher Kühlung
- Sobald Patient*in schmerzfrei
- Wadenheben („Heel Rise“), sowohl mit gebeugten als auch gestreckten Knien
- Ziel: jeweils 3 x 15 Wiederholungen schmerzfrei
- Sobald o. g. Ziel für Wadenheben erreicht
- Beginn mit leichten Laufübungen
- Steigerung der Intensität (Schnelligkeit und Dauer) nicht zu schnell, sondern im Wochenrhythmus
- Sobald 30 min schmerzfreies Laufen möglich
- Rückkehr zu sportartspezifischem Wettkampftraining
Prävention
- Regelmäßige körperliche Aktivität
- Aufwärmen sowie Kräftigungs- und Dehnübungen für Wadenmuskulatur
- Adäquate Schuhe
- Vermeidung harter Sohlen und erhöhter Fersen („High Heels“)
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
- Vollständige Ausheilung mit maximaler Belastungsfähigkeit nach 3–4 Monaten3
Komplikationen
- Die Bildung von Narbengewebe kann zu Verkürzung des Muskel-Sehnen-Übergangs und damit zu chronischen Schmerzen und Funktionsstörungen führen.
- Das Narbengewebe erhöht außerdem das Risiko einer erneuten Ruptur.
- Tiefe Venenthrombose durch Immobilisation
- Akutes Kompartmentsyndrom10
Prognose
- Exzellente Prognose bei Befolgung o. g. Empfehlungen2
Patienteninformationen
Worüber sollten Sie die Patient*innen informieren?
- Langsame, sukzessive Steigerung der Belastung, um Re-Ruptur zu verhindern.
- Regelmäßige Dehnübungen und exzentrische Kräftigungsübungen für die Wadenmuskulatur, auch nach Ausheilung der Verletzung
- Vermeidung von verkürztem Narbengewebe
Quellen
Literatur
- Harwin JR, Richardson ML. “Tennis leg”: gastrocnemius injury is a far more common cause than plantaris rupture. Radiology Case Reports 2017; 12(1): 120-23. www.sciencedirect.com
- Saglimbeni AJ. Medial gastrocnemius strain. Medscape, last updated Mar 30, 2018. emedicine.medscape.com
- Coffey R, Khan YS. Gastrocnemius Rupture. StatPearls 2021. www.ncbi.nlm.nih.gov
- van Lengevelde K, Spinnato P, Carpenzano M, et al. Spontaneous bilateral medial head of gastrocnemius muscle rupture. BMJ Case Rep 2019; 12(3): e229252. www.ncbi.nlm.nih.gov
- Yilmaz C, Orgenc Y, Ergenc R, et al. Rupture of the medial gastrocnemius muscle during namaz praying: an unusual cause of tennis leg. Comput Med Imaging Graph 2008; 32(8): 728-31. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Koulouris G, Ting AY, Jhamb A, Connell D, Kavanagh EC. Magnetic resonance imaging findings of injuries to the calf muscle complex. Skeletal Radiol. 2007 Oct. 36(10):921-7. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Fields KB, Rigby MD. Muscular Calf Injuries in Runners. Curr Sports Med Rep 2016; 15(5): 320-4. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- van Adrichem RA, Nemeth B, Algra A, et al. Thromboprophylaxis after Knee Arthroscopy and Lower-Leg Casting. N Engl J Med 2017; 376(6): 515-25. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- DEGAM. Patienteninformation Thrombembolie. Stand Juli 2018. Letzter Zugriff 26.07.21. www.degam.de
- Tao L, Jun H, Muliang D, Deye S, Jiangdong N. Acute Compartment Syndrome after Gastrocnemius Rupture (Tennis Leg) in a Nonathlete without Trauma. J Foot Ankle Surg. 2014 Nov 27. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
Autor*innen
- Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Frankfurt a. M.
- Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).