Adduktorentendopathie

Zusammenfassung

  • Definition:Abakterielle Entzündung und degenerative Veränderung der Sehnen im Bereich der Adduktoren des Hüftgelenks.
  • Häufigkeit:Tritt häufig bei körperlich aktiven Personen auf, insbesondere im Leistungssport. Vor allem Fußballer*innen sind betroffen.
  • Symptome:Schmerzen und Beschwerden in der Leistengegend, die in die Innenseite des Oberschenkels ausstrahlen.
  • Befunde:Isometrische Adduktion gegen Widerstand schmerzhaft. Palpationsschmerz im Bereich der betroffenen Adduktorenmuskeln.
  • Diagnostik:Weitere Tests sind in der Regel nicht erforderlich. Bei unsicherer Diagnose Bildgebung (Sonografie, Röntgen, MRT).
  • Therapie:Sportkarenz. Physiotherapeutisches Trainingsprogramm für die gesamte Rumpf- und Hüftmuskulatur.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Synonyme: Adduktorenzerrung, Leistenzerrung
  • Tendopathie: Fehlheilung der Sehne nach Überlastung1
  • Tendinitis: Entzündungsreaktion der Sehne
  • Häufig fließender Übergang von akuter Tendinitis zu Tendopathie

Häufigkeit

  • Häufige Verletzung bei körperlich aktiven Personen, insbesondere im Leistungssport
    • typische Sportarten umfassen u. a. Fußball, Handball und Sprinten2
    • bis zu 18 Adduktorenverletzungen pro 100 Fußballspieler*innen pro Jahr3
  • Alter und Geschlecht
    • Bei Ausübung der gleichen Sportarten sind Männer etwa 2,5-mal so häufig von Adduktorenverletzungen betroffen wie Frauen.4
    • Durch eine abnehmende Elastizität der Sehnen steigt das Risiko mit zunehmendem Alter.3

Klinische Anatomie

  • Die Adduktorengruppe besteht aus 6 Muskeln:
    • Musculus adductor magnus
    • Musculus adductor minimus
    • Musculus adductor brevis
    • Musculus adductor longus: Dieser Muskel ist für bis zu 60 % der Adduktorentendopathien verantwortlich.3
    • Musculus gracilis
    • Musculus pectineus.
  • Die Muskeln haben ihren Ursprung alle am Becken und ziehen zum medialen distalen Oberschenkelknochen bzw. zur medialen Tibia (M. gracilis).
  • Hauptfunktionen der Oberschenkeladduktoren
    • Heranführen des abgespreizten Beines zurück zur Körpermitte
    • Stabilisierung des Beckens
    • Antagonisten der Gesäßmuskulatur (Hüftabduktoren)

Ätiologie und Pathogenese

  • Häufig treten Verletzungen der Adduktoren infolge einer ruckartigen Seitenbewegung auf, z. B. bei einem Richtungswechsel.
    • Sportartenspezifische Bewegungen können zu hohen Belastungen der Adduktoren führen, z. B. Pass-/Schussbewegungen beim Fußball mit dem Innenrist, Tritte bei Karate oder Dribblings mit abruptem Richtungswechsel im Handball.

Pathophysiologie1

  • Eine Tendopathie beschreibt eine Fehlheilung der Sehne.
    • Eine Tendinitis beschreibt hingegen eine prostaglandinvermittelte Entzündung der Sehne.
    • Häufig gibt es einen fließenden Übergang von einer akuten Tendinitis zu einer Tendopathie.
  • Tendinitis
  • Akute Tendopathie
    • Die Sehnenzellen (Tenozyten) reagieren auf die akute Überlastung mit vermehrter Bildung von Proteinen (Pro­teo­glykane), die eigentlich im Knorpel vorkommen.
    • Diese Proteine speichern deutlich mehr Wasser, sodass es zu einem diffusen Anschwellen der gesamten Sehne kommt.
    • Diese Querschnittsvergrößerung dient einer schnellen Anpassung der Sehnenbelastbarkeit.
    • Sehnenzellen sind in dieser Phase hochempfindlich und belastungssensibel.
    • Geringe Belastungssteigerungen führen sofort zu einer Schmerzverstärkung.
  • Chronische Tendopathie
    • Es finden sich wesentlich mehr Sehnenzellen.
    • Die veränderte Zusammensetzung von Pro­­teo­­glykanen verursacht eine weniger parallele Ausrichtung der Kollagenfasern.
    • Zunehmend mehr Narbengewebe (weniger belastbares Kollagen Typ III) ist in der Sehne vorhanden.
    • Mehr und mehr Mikrogefäße sprießen in die Sehne ein, parallel dazu auch neue Nervenfasern.

Prädisponierende Faktoren

  • Vorausgegangene Verletzung der Adduktoren
  • Alter (verminderte Elastizität des Bindegewebes)3
  • Männliches Geschlecht4
  • Muskuläre Dysbalancen mit relativer Schwäche der Adduktorenmuskulatur im Vergleich zur Abduktorenmuskulatur des Hüftgelenks
  • Sport, vor allem unter Wettkampfbedingungen3
    • u. a. Fußball, Karate

ICPC-2

  • L87 Bursitis/Tendinitis/Synovitis

ICD-10

  • S76.2 Verletzung von Muskeln und Sehnen der Adduktorengruppe des Oberschenkels

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • In der Regel klinische Diagnose
    • typische Anamnese mit Schmerzen bei Adduktionsbewegungen im Hüftgelenk: klassisch Pass-/Schussbewegung beim Fußball
    • Palpationsschmerz im Bereich der Adduktoren
    • positive isometrische Tests
  • Bei unsicherer Diagnose Bildgebung
    • Sonografie, ggf. Röntgen und/oder MRT

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Typische Symptomatik
    • belastungsabhängige Schmerzen in der Leiste
  • Klassische Anamnese
    • intensive körperliche Belastung (Wettkampfsport) mit im Verlauf progredienten Leistenschmerzen
    • bei akuter Verletzung (Zerrung, Muskelfaserriss) plötzlich einschießende Leistenschmerzen
  • Sportspezifische Anamnese
    • Patient*in soll sportartspezifische Bewegungen, die schmerzhaft sind und repetitiv durchgeführt werden, erläutern und demonstrieren.
  • Frühere Verletzungen der Adduktorenmuskulatur

Klinische Untersuchung

  • Inspektion
    • Rötung oder Schwellung
    • Symmetrie der Becken- und Beinmuskulatur
      • Muskuläre Dysbalance kann zu Fehlbelastung und Schmerzen führen.
    • Schiefhaltung der Wirbelsäule
      • Anhalt für mögliche Blockierungen
  • Palpation
    • Druckschmerz über dem Os pubis
    • weicher äußerer Leistenring, ggf. mit Vorwölbung
    • bei Muskelbündelriss Delle palpabel
  • Funktionsprüfung
  • Spezifische Tests
    • Schmerz bei Adduktion gegen Widerstand: positiver Squeeze-Test
    • beispielhafte Durchführung (Anm. d. Red.)
      • beide Fäuste der Untersucher*in zwischen den Kniegelenken der Patient*in
      • Patient*in soll Knie fest zusammendrücken.
      • Wiederholung in verschiedenen Winkeln der Hüftbeugung (u. a. mit aufgestellten Füßen und flach liegend mit gestreckten Beinen), um die unterschiedlichen Adduktorenmuskeln anzusprechen.

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

  • Keine

Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Sonografie
    • ggf. Inhomogenität der Sehne, peritendinöses Ödem und Hypervaskularisation nachweisbar
  • Röntgen von Becken und Hüfte
  • MRT
    • Beurteilung des Grads einer Muskelverletzung

Indikationen zur Überweisung

  • Bei Unsicherheit bezüglich der Diagnose oder unzureichender Wirkung der konservativen Behandlung Überweisung an Orthopäd*in

Therapie

Therapieziele

  • Symptomlinderung
  • Schnelle Rückkehr zu körperlicher Aktivität
  • Vorbeugung von Rezidiven

Allgemeines zur Therapie

  • Erste Maßnahme: Schmerzauslösende Bewegungen stoppen.
  • Im akuten Verletzungsfall Erstversorgung nach der PECH-Regel (Pause, Eis, Compression und Hochlagern)
    • Zur Schmerzlinderung können in den ersten Tagen Unterarmgehstützen sinnvoll sein.3
  • Bei einer chronischen Tendopathie sind ein komplexes Aufbautraining der Rücken- und Beinmuskulatur, Beseitigung der Muskeldysbalancen des Beckengürtels und Verbesserung der Rumpfstabilisierung wichtig.6
  • Oft sehr zeitintensiv mit Dauer von 4–6 Monaten oder länger7

Konservative Therapie

Medikamentös

  • In der Akutphase zur Schmerzlinderung ggf. kurzfristig NSAR
    • z. B. Ibuprofen 400 mg 1–1–1 für 3–4 Tage (Anm. d. Red.)

Physiotherapie

  • Cave: Zu intensive Rehabilitation und verfrühte Wiederaufnahme der sportlichen Aktivität stellen häufige Ursachen chronischer Beschwerden dar!
  • Bewegungsübungen
    • Mit aktiven Bewegungsübungen ohne Widerstand kann begonnen werden, sobald Patient*innen diese ohne Schmerzen durchführen können.3
  • Kräftigungsübungen
    • Belastung wird von isometrischen Kontraktionen ohne Widerstand über isometrische Kontraktionen mit Widerstand bis hin zu dynamisch-exzentrischen Übungen gesteigert.8
    • Parallel hierzu Kräftigungsübungen für die Hüft- und Rumpfmuskulatur sinnvoll.
    • Ein Wiedereinstieg in das körperliche Training ist durch Radfahren meist frühzeitig möglich.
    • Lauftraining soll erst wieder aufgenommen werden, wenn alle Übungen mit hoher Intensität schmerzfrei durchgeführt werden können.
    • Sobald Lauftraining mit Richtungswechseln schmerzfrei möglich ist, kann zum sportartspezifischen Training zurückgekehrt werden.
    • Krafttraining hat vermutlich eine bessere Wirkung als passive Physiotherapie.9

Operative Therapie

  • Lediglich bei Avulsionsfrakturen indiziert, die nicht auf konservative Therapie ansprechen oder eine Dehiszenz von > 2 cm zeigen.5
    • in diesen Fällen Refixation über Knochenanker oder Schraubensysteme

Prävention

  • Konzentrische, exzentrische und funktionelle Übungen zur Kräftigung und Dehnung der Adduktorenmuskulatur
  • Aufwärmprogramm vor sportlicher Belastung

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Bei zu schneller Rückkehr ins Training kommt es häufig zu einem chronischen Verlauf, der eine langwierige Rehabilitation nach sich zieht.

Komplikationen

  • Ruptur der Sehne
  • Rezidivierende Beschwerden
  • Chronische Tendopathie
  • Myositis ossificans circumscripta10
    • Verknöcherungen in der Muskulatur durch chronischen Entzündungsreiz

Prognose

  • Die Rückkehr zu sportlichen Aktivitäten ist abhängig vom Verletzungsausmaß.11
    • Grad 0–2 (Zerrung–Partialruptur des Muskels)
      • Rückkehr in sportartspezifisches Training nach durchschnittlich 3 Wochen
    • Grad 3 (komplette Ruptur des Muskels)
      • Rückkehr in sportartspezifisches Training nach durchschnittlich 3 Monaten

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Illustrationen

Musculus adductor longus
Musculus adductor longus

Quellen

Literatur

  1. Weinert F. Tendopathien. Sportärztezeitung 2017. sportaerztezeitung.com
  2. Feeley BT, Powell JW, Muller MS, et al. Hip injuries and labral tears in the national football league. Am J Sports Med 2008; 36: 2187-95. PubMed
  3. Rimando MP. Adductor strain. Medscape, last updated Jul 08, 2022. emedicine.medscape.com
  4. Orchard JW. Men at higher risk of groin injuries in elite team sports: a systematic review. Br J Sports Med 2015; 49(12): 798-802. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  5. Lohrer H. Avulsionsverletzungen der Adduktoren und des Iliopsoas. Der Unfallchirurg 2021; 124: 550-9. link.springer.com
  6. Hess H. Der chronische Leistenschmerz des Sportlers. Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin 2004; 55 (4): 108-109. www.germanjournalsportsmedicine.com
  7. Schlegel TF, Bushnell BD, Godfrey J, et al. Success of nonoperative management of adductor longus tendon ruptures in National Football League athletes. Am J Sports Med 2009; 37: 1394-9. PubMed
  8. Hrysomallis C. Hip adductors' strength, flexibility, and injury risk. J Strength Cond Res 2009; 23: 1514-7. PubMed
  9. Hölmich P, Nyvold P, Larsen K. Continued significant effect of physical training as treatment for overuse injury: 8- to 12-year outcome of a randomized clinical trial.. American Journal of Sports Medicine 2011;39(11):2447-51. PubMed
  10. Krüger J. Der chronische Leistenschmerz des Sportlers. OUP 2013; 6: 288–295. www.online-oup.de
  11. Serner A, Weir A, Tol JL, et al. Return to Sport After Criteria-Based Rehabilitation of Acute Adductor Injuries in Male Athletes: A Prospective Cohort Study.. Orthop J Sports Med 2020. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov

Autor*innen

  • Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Münster
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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