Verzögerte motorische Entwicklung und Muskelschwäche bei kleinen Kindern

Allgemeine Informationen

Definition

  • Störung der motorischen Entwicklung1
    • im Vergleich zur Altersnorm – oder –
    • im Vergleich zu anderen Teilleistungsbereichen bzw. zur allgemeinen Intelligenz des betroffenen Kindes.
  • Unterscheidung von passagerer, in der Folge aufgeholter Enwicklungsverzögerung und anhaltender/fortschreitender Entwicklungsstörung2
  • Einteilung der Entwicklungsstörungen in:2
    • genetisch bedingte Entwicklungsstörungen
    • erworbene Entwicklungsstörungen
    • umschriebene Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen.

Häufigkeit

  • Die Erkrankungen sind selten, was die Diagnostik häufig verzögert.
  • Die tatsächliche Häufigkeit der Symptomatik einer motorischen Entwicklungsverzögerung im Kindesalter lässt sich nicht beziffern, da die zugrundeliegenden Diagnosen vielfältig sind.
  • Studien zufolge sind im Alter von 2 Jahren nur 10 % der Kinder mit Entwicklungsverzögerungen in Behandlung.3
  • Prävalenz früher Entwicklungsstörungen bei Kindern:
    • Lernstörungen, 65 pro 1.000 (1 pro 15)4
    • Autismus-Spektrum-Störungen, 11 pro 1.000 (1 pro 88)5
    • Zerebralparese, 3 pro 1.000 (1 pro 303)6
    • Neuromuskuläre Erkrankungen, 0,3 pro 1.000 (1 pro 3000).7

ICPC-2

  • P22 Verhaltensauffäll./Entwickl.stör. Kind
  • P24 Spezifische Lernstörung

ICD-10

  • R62 Ausbleiben der erwarteten normalen physiologischen Entwicklung
    • R62.0 Verzögertes Erreichen von Entwicklungsstufen
  • F82 Umschriebene Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen
    • F82.0 Umschriebene Entwicklungsstörung der Grobmotorik
    • F82.1 Umschriebene Entwicklungsstörung der Fein- und Graphomotorik
    • F82.2 Umschriebene Entwicklungsstörung der Mundmotorik
    • F82.9 Umschriebene Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen, nicht näher bezeichnet.

Differenzialdiagnosen

  • Der Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.2,8

Genetisch bedingte Entwicklungsstörungen (Beispiele)

Erworbene Entwicklungsstörungen

  • Ursachen: toxisch, infektiös/inflammatorisch, hypoxisch, psychogen, traumatisch, teratogen
  • Zeitpunkt: pränatal, perinatal, postnatal erworben
  • Beispiele

Entwicklungsverzögerungen

  • Passagere Abweichung von altersentsprechenden Perzentilkurven  
  • Vorübergehende motorische Auffälligkeiten (Übererregbarkeit, Hypotonie, Hypertonie, Asymmetrie)
  • Regulationsstörungen
    • etwa 15–30 % der sonst gesunden Säuglinge betroffen
    • Auffälligkeiten in den Bereichen Schreien, Schlaf-Wach-Organisation, Nahrungsaufnahme über mindestens 1 Monat

Anamnese

  • Der Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.2,9
  • Schwangerschaft (frühere Schwangerschaften, Aborte, Infektionen, Medikamente, Folsäureprophylaxe, Noxen, Polyhydramnion, wenig Kindsbewegungen etc. )
  • Geburt (Frühgeburtlichkeit, Komplikationen, APGAR, Anpassung etc.)
  • Familiäre Erkrankungen
  • Konsanguinität
  • Soziales Umfeld
  • Befunde des Neugeborenenscreenings
  • Bisheriger Entwicklungsverlauf
    • Bereits sehr früh verlangsamte, aber kontinuierliche Entwicklung? – Hinweis auf Residualsyndrom nach prä- oder perinatalen kritischen Ereignissen
    • Schubweise Verschlechterung, infektgetriggert oder in Fasten-/Nüchternperioden? – Hinweis auf Stoffwechseldefekt, mitochondriale Erkrankungen
    • Stagnation oder Verlust bereits erworbener Fähigkeiten? – Hinweis auf chronische Erkrankung (Zöliakie), neurometabolische oder neurodegenerative Erkrankungen  
    • Tageszeitenabhängige Muskelschwäche? Hinweis auf Störung der neuromuskulären Übertragung oder neurometabolische Erkrankung
    • Schmerzen? Motorische Störung ggf. durch Schonhaltung aufgrund von Schmerzen bedingt?
  • Ernährungsbesonderheiten
  • Impfstatus
  • Beschreibung der Symptomatik durch Eltern, ggf. mithilfe von audiovisuellen Aufzeichnungen im Verlauf
    • Feinmotorik
    • Grobmotorik
    • Kraft
    • Muskelspannung
    • Koordination
    • Einschränkung bei Fortbewegung, Nahrungsaufnahme, Anziehen/Ausziehen, bestimmten Bewegungsabläufen?
    • Andere Teilleistungsbereiche ebenfalls betroffen?

Klinische Untersuchung

  • Der Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.2,8
  • Umfassende Entwicklungsdiagnostik sollte bei Verdacht auf Entwicklungsstörung in einem sozialpädiatrischen Zentrum durchgeführt werden.
  • Syndromale/dysplastische Stigmata
  • Augenuntersuchung (Speicherphänomene, abgelaufene Infektionen)
  • Haut (neurokutane Syndrome, Stoffwechselerkrankungen)
  • Organomegalie (Speichererkrankungen)
  • Hirnnervenfunktion
  • Sensomotorik
    • Haltung, Bewegungsabläufe, Quantifizierung der Muskelkraft, Reflexe, Gleichgewicht, Koordination, Seitendominanz
    • Auffällig sind: geringe Variabilität vom Bewegungsabläufen, Stereotypien, reduzierte Anpassungsfähigkeit, unökonimischer Einsatz motorischer Fähigkeiten.
  • Perzentilenbeurteilung im Verlauf (Makro- oder Mikrozephalie sind wichtige Hinweise auf Entwicklungsstörung!)
  • Wichtige Hinweise im 1. Lebensjahr
    • Tonus, Kraft, Koordination, Interaktion, Reflex- und Reaktionsprüfung
    • Beurteilung der General Movements nach Prechtl, bei Normalbefund hohe Wahrscheinlichkeit für regelrechte Entwicklung
    • Fidgety Movements: Anzeichen mit einer Sensitivität von 95 %  und Spezifität von 96 % für die Entwicklung einer Zerebralparese
  • Beurteilung der altersentsprechend zu erwartenden motorischen Fähigkeiten anhand eines standardisierten Screenings- und Entwicklungstest (z. B. Denver Entwicklungsskalen, Erweiterte Vorsorgeuntersuchung, Münchener Funktionelle Entwicklungsdiagnostik für das 1. Lebensjahr, Griffiths-Entwicklungsskalen etc.)
  • Ausschluss anderer Ursachen für Schwäche und ähnliche Symptomatik (z. B. Hypothyreose, angeborene Herzerkrankungen, Mangelernährung)
  • Gesamtbeurteilung unter Einbeziehung von Sprachvermögen, Kognition, Sozialverhalten
  • Leitsymptom Muskelhypotonie
    • zentrale motorische Störungen10
      • progredienter Verlauf mit zunehmender Muskelschwäche
      • niedriger Muskeltonus, unzureichende Kraft
      • Muskeleigenreflexe bei muskulären Erkrankungen anfangs noch normal auslösbar, bei Erkrankungen der Vorderhornzellen oder hereditären Neuropathien bereits früh erloschen
      • Brustkorb in der Regel normal
      • Bewegungen des Gesichts in der Regel normal
      • keine Faszikulationen der Zunge
      • tiefe Sehnenreflexe verstärkt, evtl. Klonus
      • Zehengang, hemiparetisch, spastisch
    • periphere motorische Störungen
      • ausbleibende Entwicklung oder Verlust von Fähigkeiten
      • Muskeleigenreflexe auslösbar
      • keine Muskelschwäche
      • schmale Beinmuskulatur
      • Brustkorb evtl. verkleinert, glockenförmig
      • Bewegungen des Gesichts häufig schwach
      • Faszikulationen der Zunge möglich, vor allem bei spinaler Muskelatrophie
      • tiefe Sehnenreflexe schwach oder fehlend
      • Zehengang, „watschelnder“ Gang, Hyperlordose.

Ergänzende Untersuchungen

Labordiagnostik (je nach Verdachtsdiagnose, ggf. in Speziallabors anfordern)

  • Basisdiagnostik:8 CK, GOT, GPT, LDH, Aldolase im Serum
  • Ergänzende Diagnostik
  • Biochemische Zusatzdiagnostik: nicht-ischämischer Arbeitstest, Muskelbelastungstest, Glukosetoleranztest, 24-h-Hungertest
  • Liquordiagnostik (Laktat, Pyruvat, Glukose, Aminosäuren, Neurotransmitter, Methyltetrahydrofolat)
  • Kreatinkinase10
    • Die Kreatinkinase sollte bei Kindern mit neuromuskulären Schwächen immer bestimmt werden, insbesondere jedoch bei peripheren neuromuskulären Störungen wie der Muskeldystrophie Duchenne (mehr als 3-mal höher als normal).
    • Bei spinaler Muskelatrophie, Neuropathien, kongenitalen Myopathien und anderen Muskeldystrophien ist sie mäßig erhöht oder normal.
    • Bei zentralnervösen Erkrankungen ist sie nur selten erhöht.
    • Ist die Kreatinkinase mäßig erhöht, sollte sie nach 2–3 Wochen erneut bestimmt werden.
    • stark erhöht, > 50.000 U/l
    • deutlich erhöht, 3.000–50.000 U/l
    • leicht erhöht, 180–3.000 U/l
      • mögliche Ursachen: spinale Muskelatrophie, kongenitale Myopathien, bestimmte kongenitale Muskeldystrophien, evtl. auch Folge von Impfung, Muskeltrauma oder Virusinfektion
    • normal, 24–180 U/l
      • mögliche Ursachen: Neuropathien, bestimmte kongenitale Myopathien, bestimmte kongenitale Muskeldystrophien
  • Molekulargenetische Diagnostik
  • Erweiterte Stoffwechseldiagnostik
  • Muskelbiopsie bei Verdacht auf (DD), ggf. Haut- und Nervenbiopsien
    • metabolische Erkrankungen
    • atypische entzündliche Erkrankungen

Apparative Diagnostik

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  • EEG
  • Elektroneurografie
  • Elektromyografie (geringer Stellenwert in der Pädiatrie)
  • Myosonografie
  • CT
  • MRT
  • 31P-NMR-Spektroskopie
  • Fachärztliche Visus- und Gehörprüfung

Maßnahmen und Empfehlungen

Indikationen zur Überweisung

  • Bei Verdacht auf motorische Entwicklungsstörung Überweisung an ein sozialpädiatrisches Zentrum zur detailierten Evaluation und Diagnostik.
  • Bei Verdacht auf Stoffwechselerkrankung zügige Kontaktaufnahme mit entsprechend erfahrenem pädiatrischen Facharzt.

Patienteninformationen

Quellen

Literatur

  1. Rosenecker J. Pädiatrische Differenzialdiagnostik. Berlin Heidelberg: Springer-Verlag , 2014.
  2. Lücke T. Gesunde Entwicklung und Entwicklungsstörungen im ersten Lebensjahr. Monatsschr Kinderheilkd 2017; 165: 288-300. doi:10.1007/s00112-017-0264-6 DOI
  3. Lurio JG, Peay HL, Mathews KD. Recognition and management of motor delay and muscle weakness in children. Am Fam Phys 2015; Jan 1, 91 (1): 38-44. pmid:25591199 PubMed
  4. Boyle CA, Decouflé P, Yeargin-Allsopp M. Prevalence and health impact of developmental disabilities in US children. Pediatrics 1994; 93(3): 399-403. pmid:75094 PubMed
  5. Autism and Developmental Disabilities Monitoring Network Surveillance Year 2008 Principal Investigators, Centers for Disease Control and Prevention. Prevalence of autism spectrum disorders—Autism and Developmental Disabilities Monitoring Network, 14 sites, United States, 2008. MMWR Surveil Summ. 2012;61(3):1–19. PIMD 22456193. www.cdc.gov
  6. Centers for Disease Control and Prevention. Data and statistics for cerebral palsy: prevalence and characteristics. Accessed November 14, 2012. www.cdc.gov
  7. Emery AE. Population frequencies of inherited neuromuscular diseases—a world survey. Neuromuscul Disord 1991; 1(1): 19-29. pmid:1822774 PubMed
  8. Gortner L, Meyer S, Sitzmann CF. Duale Reihe Pädiatrie. Stuttgart: Georg Thieme Verlag KG, 2012.
  9. Rosenecker J, Scmidt H (Hrsg.). Pädiatrische Anamnese, Untersuchung, Diagnose. Heidelberg: Springer Medizin Verlag, 2008.
  10. National Task Force for the Early Identification of Childhood Neuromuscular Disorders. Guide for primary care providers. Accessed July 24, 2014. www.childmuscleweakness.org

Autoren

  • Anne Strauß, Ärztin in Weiterbildung Pädiatrie, Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Freiburg
  • Terje Johannessen, professor i allmennmedisin, Institutt for samfunnsmedisinske fag, Norges teknisk-naturvitenskapelige universitet, Trondheim

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