Was sind Sprach- und Sprechstörungen bei Kindern?
- Man unterscheidet Sprachstörungen, Sprechstörungen, Stimmstörungen sowie Redeflussstörungen.
- Bei einer Sprachstörung handelt es sich um Störungen des sprachlichen Ausdrucks oder des sprachlichen Verständnisses.
- Sprechstörungen sind dadurch gekennzeichnet, dass die sprachliche Ausdrucksfähigkeit und Lautbildung des Kindes durch eine Störung der zuständigen Muskeln und/oder Nerven beeinträchtigt sind.
- Bei einer Stimmstörung liegen Störungen der Stimmbildung durch Veränderungen der tonproduzierenden Organsysteme vor (z. B. Kehlkopf, Stimmlippen).
- Eine Redeflussstörung kann zu „Störungen des Sprechablaufs, des Sprechrhythmus, der Sprechbewegungen, der Sprechatmung, der Aussprache und der Stimme“1 oder zu einer Störung des Sprechflusses mit zu schneller und/oder einer von der Norm abweichenden Sprechweise führen. Siehe auch Artikel Stottern und Poltern.
Was kann die Ursache sein?
Es gibt eine Vielzahl zugrunde liegender Ursachen von Sprech- und Sprachschwierigkeiten bei Kindern. Während der Sprachentwicklung können vorübergehend bestimmte Phänomene vorkommen, die im Lauf der weiteren Entwicklung wieder verschwinden.
Normale Sprachentwicklung
- Sprachbeginn
- Sprachverständnis ab ca. 9 Monate
- erste Wörter ab ca. 12–15 Monaten
- Altersgemäße Sprachentwicklung (bei 81–86 % der Kinder)
- ≥ 50 Wörter mit 18–24 Monaten
- Zweiwortsätze mit 18–24 Monaten
- Mehrwortsätze mit 24–30 Monaten
- zusätzlich korrektes Verb in der Satzmitte mit 30–36 Monaten
- zusätzlich Nebensätze ab 3 Jahren
- Auffällige Sprachentwicklung: „Late Bloomer“ oder sprachkrank (14–19 %)
- < 50 Wörter mit 18–24 Monaten
- „Late Bloomer“ bzw. „Spätentwickler*in“ mit letztlich normaler Sprachentwicklung (4–9 % der Kinder)
- Sprachentwicklungsstörung mit 3 Jahren (7–12 % der Kinder)
- Bei der Sprachentwicklung gibt es in den ersten 3–4 Jahren erhebliche Unterschiede.
- Rückbildung der Sprachentwicklungsstörung bei 85–95 % der Kinder bis zur Einschulung
Faktoren, die zu einer Sprech- oder Sprachstörung beitragen können
- Vererbte Einflüsse
- Hörstörungen
- Erkrankungen und Veränderungen der Sprechorgane (z. B. vergrößerte Rachenmandeln, Gaumenspalte)
- Krankheiten des zentralen Nervensystems (z. B. Hirn- oder Hirnhautentzündung)
- Störungen der Bewegungsentwicklung
- Schädigungen des Gehirns zu Beginn des Lebens (infantile Zerebralparese: bleibende Störung des Halte- und Bewegungsapparates)
- Intelligenzminderung
- Autismus-Spektrum-Störung
- Sehstörungen
- Umwelteinflüsse (Vernachlässigung, Überbehütung, niedriger sozialer Status)
- Mehrsprachigkeit
- Schwierige Eltern-Kind-Beziehung, Rivalität unter Geschwistern
Sprachstörungen
Sprachentwicklungsstörung
Eine Sprachentwicklungsstörung ist die häufigste Sprachstörung bei Kindern (ca. 30 % eines Jahrgangs), sie kann vorübergehend entwicklungsbedingt sein, daher erfolgt eine Diagnosestellung in der Regel erst ab einem Alter von 3 Jahren. Es kann sich um eine Störung des Sprachgebrauchs (expressiv also ausdrücken, aussprechen) oder um eine Störung des Sprachverständnisses (rezeptiv also empfangen) handeln.
Die Sprachentwicklungsstörung kommt gehäuft innerhalb einer Familie oder gemeinsam mit anderen Entwicklungsverzögerungen vor (in den Bereichen Hören, Sehen, Bewegungsabläufe). Es zeigen sich Auffälligkeiten in einzelnen oder mehreren Bereichen der Sprache, z. B. Lautbildung, Grammatik, Wortschatz, Sprachverständnis.
Bei den meisten Kindern bildet sich eine Sprachentwicklungsstörung bis zur Einschulung zurück.
Dysgrammatismus
Bei einem Dysgrammatismus handelt es sich um eine Beeinträchtigung der grammatikalischen Ordnung in der Sprachproduktion; er ist häufig Teilstörung einer Sprachentwicklungsstörung und zeichnet sich durch Defizite in der Satzbildung und -struktur sowie in der Anwendung grammatikalischer Regeln aus (z. B. „Nils Hunger hat“, „Ich bin umgefallt“).
Aphasie
Die Aphasie ist eine seltene Form einer erworbenen Sprachstörung nach zuvor abgeschlossener Sprachentwicklung. Ursache ist eine Schädigung des zentralen Nervensystems, z. B. durch ein Schädel-Hirn-Trauma. Sie zeichnet sich durch einen Verlust von erworbenen Sprachfähigkeiten wie Sprechen, Verstehen, Lesen und Schreiben aus. Die einzelnen Bereiche können unterschiedlich stark betroffen sein.
Phonologische Störung
Diese Sprachstörung kommt häufig gemeinsam mit einer Dyslalie vor (s. u.). Es handelt sich um eine Beeinträchtigung des Lautsystems. Die einzelnen Buchstaben können korrekt ausgesprochen werden, aber der Laut wird nicht korrekt verwendet oder ausgesprochen. Beispiele dafür sind das Vertauschen oder Weglassen von Buchstaben, wie z. B. „Tuh“ statt „Kuh“.
Bei einer phonologischen Störung besteht das höchste Risiko für eine bleibende Sprachstörung und einer daraus folgenden Beeinträchtigung der Schreibfähigkeit.
Sprechstörungen
Phonetische Störung (Dyslalie)
Bei der sog. phonetischen Störung handelt es sich um eine entwicklungsbedingte Störung der Lautbildung bzw. Aussprache, sie wurde früher als „Stammeln“ bezeichnet.
Dyslalien können Teil der natürlichen Sprachentwicklung sein, sie verschwinden häufig mit abgeschlossener Sprachentwicklung. Betroffene Kinder haben Schwierigkeiten, Laute korrekt zu bilden:
- Sigmatismus (Lispeln): Störung der Bildung von Zischlauten
- Schetismus: Störung der Lautbildung von „sch“-Lauten
- Andere sprachliche Ebenen sind weitgehend unbeeinträchtigt.
Orofaziale Dysfunktion
Bei einer orofazialen Dysfunktion handelt es sich um Störungen der Muskelfunktion im Bereich von Mund, Gesicht und Hals. Symptome können Schluck- und Sprechstörungen unterschiedlichen Ausmaßes sowie Fehlstellungen des Gebisses als Folgeerscheinungen einer Zungenfehlfunktion sein.
Näseln (Rhinofonie)
Das sog. Näseln, bei dem die Sprache sehr nasenbetont ist, kommt entweder durch Blockierungen der Nasenwege (z. B. durch vergrößerte Rachenmandeln) oder durch ein Entweichen der Luft aus Mund und/oder Nase (z. B. durch Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten) zustande. Beides zusammen kann ebenfalls vorkommen.
(Kindliche) Dysarthrie
Unter kindlicher Dysarthrie versteht man eine erworbene Störung der Steuerung von Sprechbewegungen durch eine Schädigung des Nervensystems oder der stimmgebenden Muskulatur (z. B. kindliche Zerebralparese, Schädel-Hirn-Trauma).
Das Sprechen ist gekennzeichnet durch eine geringe Lautstärke und undeutliches, verlangsamtes, monotones Sprechen, eine gepresste und raue Stimme sowie eine reduzierte Verständlichkeit sprachlicher Äußerungen bis zur Unverständlichkeit.
Stimmstörungen
Hyperfunktionelle Dysfonie
Die hyperfunktionelle Dsyfonie ist die häufigste Stimmstörung, die einzelnen Anteile des Stimmapparates – wie Muskeln, Stimmbänder, Kehlkopf – arbeiten nicht koordiniert miteinander. Häufig haben Betroffene eine heisere, belegte, raue Stimme und reden lauter als üblich. Als Komplikation können beispielsweise Stimmlippenknötchen auftreten.
Redeflussstörung
- Stottern
- Poltern
- Siehe Artikel Stottern und Poltern.
Weitere Ursachen
- Mutismus: Es handelt sich um eine Kommunikationsstörung, bei der die betroffenen Kinder nicht sprechen, obwohl sie die körperlichen Voraussetzungen dafür hätten; teilweise tritt dieser nur gegenüber bestimmten Personen oder in bestimmten Situationen auf (elektiver Mutismus). Die betroffenen Kinder leiden häufig unter sozialen Ängsten und Angststörungen
- Bestimmte angeborene genetische Erkrankungen, z. B. Down-Syndrom.
Untersuchungen
Anamnese – das ärztliche Gespräch
Meist fallen bei den Vorsorgeuntersuchungen Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung auf. Folgende Fragen können bei der Diagnosestellung hilfreich sein:
- Wann war der Beginn, und wie haben sich Sprach- bzw. Sprechauffälligkeiten entwickelt?
- Ist von Beginn an eine verzögerte Sprachentwicklung zu beobachten, oder konnte das Kind schon bestimmte Dinge, die es wieder verlernt hat?
- Gibt es Auslöser für die Sprach- bzw. Sprechauffälligkeiten, z. B. situationsbezogenes Verstummen (Mutismus) oder Verschlechterung nach längerem Sprechen?
- Liegen bestimmte Fehlbildungen vor, z. B. Gaumenspalte?
- Gibt oder gab es Auffälligkeiten in der Bewegungsentwicklung?
- Gibt es Auffälligkeiten in der geistigen Entwicklung?
- Ist die soziale, emotionale oder schulische Entwicklung beeinträchtigt?
- Gibt es weitere psychische Auffälligkeiten oder Erkrankungen (z. B. Verhaltenssauffälligkeiten, soziale Ängste oder Depressionen)?
- Gibt es in der Familie gehäuft Schwierigkeiten mit dem Sprechen und der Sprache?
Bei Kinder- oder Hausärzt*innen
- Allgemeine körperliche Untersuchung
- Neurologische Untersuchung (Hinweise auf neurologische Erkrankungen oder verzögerte Entwicklung?)
- Untersuchung der Sprechorgane (z. B. vergrößerte Rachenmandeln)
- Prüfung des Hörens
- Prüfung des Sprach- und Sprechvermögens
Bei Spezialist*innen
- Spezialist*innen (z. B. Logopäd*innen, Kinder- und Jugendpsychiater*innen, Hals-Nasen-Ohren-Ärzt*innen) verfügen über Fragebogentests und sog. Interviews zur Früherkennung von Sprech- und Sprachstörungen bei Kindern. Entweder werden die Eltern der betroffenen Kinder befragt oder je nach Alter die Kinder selbst.
- Hals-Nasen-Ohren-Ärzt*innen untersuchen mögliche Veränderungen, die eine Sprech- oder Sprachstörung auslösen oder begünstigen können (z. B. vergrößerte Rachenmandeln, Belüftungsstörungen des Mittelohres).
- Untersuchung, ob das Kind richtig hören kann. Eine Schwerhörigkeit kommt am häufigsten zusammen mit einer Sprach- oder Sprechstörung vor.
- Kinderneurologische oder kinderpsychologische Untersuchung; v. a. wenn ein Verdacht auf eine Entwicklungsstörung besteht.
- Weiterführende Blutuntersuchungen, z. B. auf Stoffwechselerkrankungen
Behandlung
Allgemeines
- Die Behandlung richtet sich nach der Art und Schwere der Sprech- bzw. Sprachstörung.
- Viele leichte Abweichungen sind Teil der kindlichen Sprachentwicklung und müssen nicht behandelt werden (z. B. bestimmte Formen der Dyslalie bis zum Alter von etwa 4 Jahren).
- Ab dem Schulalter sollte aufgrund der Risiken einer bleibenden Störung oder von Folgestörungen schnellstmöglich behandelt werden.
- Bei einer Sprachentwicklungsstörung hat eine Sprech- bzw. Sprachtherapie Vorrang.
- Falls bestimmte Begleiterkrankungen vorliegen, sollten diese durch Spezialist*innen behandelt werden:
- bei Hörstörungen – spezialisierte HNO-Ärzt*innen (Pädaudiolog*innen)
- bei Beeinträchtigungen des Nervensystems (z. B. bei frühkindlicher Hirnschädigung) – auf Kinderneurologie spezialisierte (neuropädiatrische) Ärzt*innen
- bei psychischen Begleiterkrankungen – Kinder- und Jugendpsychiater*innen
- im weiteren Verlauf Ergänzung durch Sprech- bzw. Sprachtherapie – Logopäd*innen.
- Bezugspersonen sollten Beratung und Schulung zum Umgang mit der Sprachstörung ihres Kindes erhalten.
- In manchen Fällen ist auch eine Anpassung der Umgebungsbedingungen und/oder eine sonderpädagogische Förderung angebracht.
Sprach- oder Sprechtherapie
- Die Hauptbehandlungsziele sollten sich an den Bedürfnissen der betroffenen Kinder orientieren (z. B. Besserung der Sprach- und Sprechfähigkeiten bis zur Einschulung).
- In der Regel behandeln Logopäd*innen Sprach- und Sprechstörungen. Es gibt wissenschaftliche Belege für die Wirksamkeit, v. a. bei der Behandlung von Aussprachestörungen, Wortschatzstörungen und Stottern.
- Beginn und Intensität sind abhängig vom Schweregrad der Störung.
- Es gibt eine Vielzahl verfügbarer Behandlungsmethoden.
Was können Sie selbst tun?
- Akzeptieren Sie, dass Ihr Kind Schwierigkeiten mit dem Sprechen oder der Sprache hat und dies zum aktuellen Zeitpunkt (noch nicht) besser kann.
- Benutzen Sie Sprache im Alltag zwanglos und unkompliziert, üben Sie keinen Druck aus.
- Thematisieren oder korrigieren Sie „fehlerhafte“ Äußerungen nicht, sondern wiederholen Sie, was Ihr Kind gesagt hat, noch einmal korrekt. Damit soll vermieden werden, dass Ihr Kind das Gefühl bekommt, fehlerhaft zu sprechen und im weiteren Sprachgebrauch gehemmt ist oder ganz aufhört zu sprechen.
- Falls in Ihrer Familie mehrere Sprachen gesprochen werden, sollten Sie vermeiden, zu oft zwischen den einzelnen Sprachen zu wechseln.
Weitere Informationen
- Stottern und Poltern
- Sprach- und Sprechstörungen bei Kindern – Informationen für ärztliches Personal
Patientenverbände
- Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe e. V. (BVSS)
- Bundesverband für die Rehabilitation der Aphasiker e. V.
Quellen
Literatur
- Patientenleitlinie „Redefluss-Störungen: Stottern und Poltern“ zur S3-Leitlinie Pathogenese, Diagnostik und Behandlung von Redeflussstörungen (Stand 2019). register.awmf.org
Autorin
- Catrin Grimm, Ärztin in Weiterbildung Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Klingenberg a. M.
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References
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- Schade, G. (2020). Hörstörungen, Sprachstörungen, Sprechstörungen und Stimmstörungen. In: Hoffmann, G.F., Lentze, M.J., Spranger, J., Zepp, F., Berner, R. (eds) Pädiatrie. Springer Reference Medizin. Springer, Berlin, Heidelberg. doi.org
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