Nephrotisches Syndrom bei Kindern

Zusammenfassung

  • Definition:Auftreten einer großen Proteinurie (≥ 40 mg/m2 Körperoberfläche (KOF)/h bzw. ≥ 1 g/m2 KOF/d) mit Hypalbuminämie im Serum (< 25 g/l).
  • Häufigkeit:Insgesamt seltene Erkrankung, aber häufigste Glomerulopathie in der Pädiatrie. Inzidenz in Deutschland ca. 1.8/100.000.
  • Symptome und Befunde:Ödeme (morgendliche Lidödeme, Skrotalödem, Beinödeme, Anasarka), Gewichtszunahme, verminderte Urinausscheidung.
  • Diagnostik:Nachweis einer Proteinurie durch Teststreifen, im Spot- und Sammelurin. Hypalbuminämie im Serum.
  • Therapie:Initial Flüssigkeits- und Natriumrestriktion, medikamentöse Behandlung mit Glukokortikoiden. Bei Steroidresistenz Gabe von Immunsuppressiva.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Definition des nephrotischen Syndroms (NS) im Kindesalter gemäß Deutscher Gesellschaft für Pädiatrische Nephrologie:1
    • große Proteinurie (≥ 40 mg/m2 Körperoberfläche (KOF)/h bzw. ≥ 1 g/ m2 KOF/d)
    • Hypalbuminämie im Serum (< 25 g/l).
  • Ödeme sind das führende klinische Symptom, aber nicht obligat.1
  • Sekundäre Hyperlipidämie meist vorhanden1

Häufigkeit

  • Insgesamt seltene Erkrankung, aber häufigste Glomerulopathie in der Pädiatrie2
  • In Deutschland Inzidenz ca. 1.8/100.0002
    • somit ca. 250–300 Neuerkrankungen pro Jahr1
  • Verhältnis Jungen zu Mädchen
    • beim steroidsensiblen nephrotischen Syndrom (SSNS) ca. 2:12
    • beim steroidresistenten nephrotischen Syndrom (SRNS) ca. 1:13
  • Bei Kindern asiatischer Abstammung bis 6-mal häufiger3

Ätiologie

Primär (80–90 % der Fälle)4-5

  • Idiopathisch (ca. 80 % der Fälle) – die Proteinurie kann dabei verursacht werden durch: 
    • primär glomerulären Defekt
      • Veränderungen von Strukturproteinen der Filtrationsbarriere aufgrund von Mutationen oder Polymorphismen
      • möglicherweise Interaktion zirkulierender Zytokine mit der Filtrationsbarriere
    • immunologische Dysbalance
      • Störung des Immunsystems (B- und T-Zellen) mit Auswirkungen auf die glomeruläre Filtrationsbarriere
      • Erstmanifestation häufig nach immunogenem Trigger, z. B. Atemwegsinfekt
      • gehäuftes Vorkommen bei Kindern mit Atopien.
  • Primäre Glomerulonephritiden
  • Hereditär
    • in den vergangenen Jahren Identifikation genetischer Ursachen, vor allem bei kongenitaler oder infantiler Präsentation6

Sekundär

  • Sekundäre Form selten, z. B. bei Systemerkrankungen, Tumoren, Intoxikationen2

Pathogenese

  • Klinische Folge des Proteinverlust ist vor allem die Ödembildung.
  • Komplizierend können auftreten:
    • Thrombembolien
    • Infektionen
    • Lungenödem
    • Dyslipidämie.

Klassifikation

  • Klassifikation des NS in der pädiatrischen Nephrologie anhand von 4 Kriterien:2,7
    • Ätiologie
    • Alter bei Erstmanifestation
    • Ansprechen auf Steroide
    • Histologie.
  • Die 4 Kriterien sind dabei nicht separat, sondern in der Gesamtschau zu betrachten, diese ist entscheidend für Therapie und Prognose.5,7

1. Ätiologie

2. Alter bei Erstmanifestation

  • 0–3 Monate: kongenitales nephrotisches Syndrom
  • 4–12 Monate: infantiles nephrotisches Syndrom
  • 1–18 Jahre
    • 1–10 Jahre: häufig Minimal-Change-Glomerulonephritis
    • 11–18 Jahre: höhere Wahrscheinlichkeit für fokal-segmentale Glomerulosklerose (FSGS)

3. Ansprechen auf Glukokortikoide

  • Steroidsensibles nephrotisches Syndrom (SSNS)
    • Remission nach 60 mg/m2 KOF pro Tag Prednison in weniger als 4 Wochen
  • Steroidresistentes nephrotisches Syndrom (SRNS)
    • keine Remission nach 60 mg/m2 KOF pro Tag Prednison über 4 Wochen
    • Bei SRNS liegt meist eine fokal-sklerosierende Glomerulosklerose vor.8

4. Histologie

  • Minimal-Change-Glomerulonephritis 77 %
  • Fokal-segmentale Glomerulosklerose (FSGS) 9 %
  • Diffuse mesangiale Sklerose 2 %
  • Mesangial proliferative Glomerulonephritis 3 %
  • Membranöse Glomerulonephritis 1 %
  • Membranoproliferative Glomerulonephritis 6 %
  • Andere/nichtklassifiziert 2 %

Prädisponierende Faktoren

  • Trigger für eine Erstmanifestation oder ein Rezidiv sind:2
    • Infektionen
    • Impfungen
    • Allergien.

Differenzialdiagnosen

  • Differenzialdiagnostisch zur dominierenden primären idiopathischen Form kommen die zahlreichen Grunderkrankungen in Betracht, die zu der selteneren sekundären Form des NS führen.

ICPC-2

  • U88 Glomerulonephritis/Nephropathie

ICD-10

  • N04 Nephrotisches Syndrom
  • N06 Isolierte Proteinurie mit Angabe morphologischer Veränderungen
  • N07 Hereditäre Nephropathie
  • N08 Glomeruläre Krankheiten bei anderenorts klassifizierten Krankheiten

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Große Proteinurie (≥ 40 mg/m2 Körperoberfläche (KOF)/h bzw. ≥ 1 g/ m2 KOF/d)
  • Hypalbuminämie im Serum (< 25 g/l)

Anamnese

  • Ödeme im Rahmen der Erstmanifestation in 95 % der Fälle9
  • Gewichtszunahme
  • Verminderte Urinausscheidung
  • Allgemeinsymptome: Inappetenz, Übelkeit, Erbrechen2
  • Kurz zurück liegender Atemwegsinfekt?
  • Kurz zurückliegende Impfung?
  • Allergien?
  • Vorerkrankungen mit möglichem sekundärem NS?
    • Systemerkrankung?
    • Chronische Infektion?
    • Tumorerkrankung?
  • Medikamente?
  • Erhöhte Infektanfälligkeit oder thrombembolische Ereignisse sind in manchen Fällen die ersten Symptome, die zur Konsultation führen.10

Klinische Untersuchung

  • Ödeme
    • morgendliche Lidödeme
      • nicht selten zunächst als allergisch oder infektiös interpretiert6
    • skrotales bzw. labiales Ödem
    • Beinödeme
    • Anasarka
    • Aszites
  • Pleuraergüsse
    • Tachypnoe bei mechanischer Restriktion durch größere Ergüsse
  • Hinweise für Hypovolämie1
    • kühle Peripherie
    • Tachykardie
    • verzögerte Rekapillarisierungszeit
  • Blutdruck meistens normal3
    • Arterielle Hypertonie bei Erstdiagnose ist ein Alarmzeichen (Risikofaktor für die Entwicklung einer chronischen Glomerulopathie).2
  • In selteneren Fällen Befunde einer Systemerkrankung oder einer hereditären syndromalen Erkrankung

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

Labor1

  • Labor vor allem zum Nachweis des nephrotischen Syndroms mit großer Proteinurie (> 40 mg/m2/h = 1 g/m2/d) und selektiver Proteinurie (Albuminanteil > 80 %), Abfall des Serumalbumins < 25 g/l
Blut
Urin
  • Urinstatus
    • Teststreifen
      • Nachweis von Albumin als Marker der glomerulären Proteinurie12 
      • Mikrohämaturie kann gelegentlich vorliegen.6
    • Mikroskopie
  • Urin-Eiweiß/Kreatinin-Quotient
    • Analyse des Spontanurins insbesondere bei Kleinkindern praktikabler als Sammelurin6
  • Sammelurin für quantitative Eiweißausscheidung
    • Qualitativ besteht vorwiegend eine Albuminausscheidung.6

Rö-Thorax

  • Nur bei pulmonalen Symptomen1

Sonografie

  • Nachweis von normalen oder vergrößerten Nieren, normale oder erhöhte Echogenität1
  • Nachweis von Aszites und Pleuraerguss

Diagnostik bei Spezialist*innen

Erweiterte Labordiagnostik

  • Evtl. zusätzliche Diagnostik auf Systemerkrankungen, chronische Infektionen1
  • Evtl. Thrombophilie-Screening1
  • Genetische Diagnostik bei steroidresistentem Verlauf oder Hinweis auf syndromale Erkrankung1

Duplex-Sonografie

  • Ausschluss einer Nierenvenenthrombose1

Nierenbiopsie

  • Nicht indiziert bei:1
    • typischem Manifestationsalter des idiopathischen NS und charakteristischem Verlauf mit Ansprechen auf Glukokortikoide.
  • Indiziert bei:1
    • Alter > 10 Jahre
    • Steroidresistenz
    • nephrotischem Syndrom
    • Verdacht auf eine Systemerkrankung.

Indikationen zur Überweisung

  • Bei V. a. auf die Erkrankung an Kindernephrologie

Therapie

  • Die Angaben zur Therapie beziehen sich auf das idiopathische nephrotische Syndrom, die mit Abstand häufigste Form.

Therapieziele

  • Remission
  • Verhinderung von Rezidiven
  • Vermeidung von Toxizitäten der Therapie
  • Behandlung von Komplikationen

Allgemeines zur Behandlung

  • Die Behandlung beruht auf:
    • Allgemeinmaßnahmen
    • medikamentöser Therapie mit Glukokortikoiden beim steroidsensiblen nephrotischen Syndrom (SNS) bzw. Immunsuppressiva beim steroidresistenten nephrotischen Syndrom (SRNS)
    • Prophylaxe/Behandlung von Komplikationen (z. B. Thrombosen, Infektionen)
    • psychosozialer Betreuung.

Allgemeinmaßnahmen

  • Im Initialstadium Natrium- und Flüssigkeitsrestriktion zur Vermeidung der Ödemzunahme6
  • Tägliche Gewichtskontrolle zur Flüssigkeitsbilanzierung
    • Diuretika sollten nur zurückhaltend eingesetzt werden, um die intravasale Hypovolämie nicht zu verschlechtern.
  • Keine Bettruhe3
  • Keine Diät erforderlich außer Kalorienreduktion bei glukokortikoidbedingter Gewichtszunahme3

Medikamentöse Therapie

Therapie der Erstmanifestation 

  • Bei Erstmanifestation wird mit Glukokortikoiden nach festem Schema behandelt.1
    • in Abhängigkeit vom Ansprechen weitere Klassifikation in SSNS oder SRNS1
    • Bei Kindern besteht in 90 % der Fälle eines idiopathischen NS eine Steroidsensibilität.13
  • Gabe von Prednison täglich 60 mg/m2 p. o. (max. 80 mg) für 6 Wochen, anschließend jeden 2. Tag Prednison 40 mg/m2 p. o. (max. 60 mg) für weitere 6 Wochen1
    • Etwa 80 % der Patient*innen sprechen nach 2 Wochen auf die Therapie an.6

Therapie von Rezidiven

  • Ein Rezidiv ist definiert als Wiederauftreten einer Proteinurie an 3 aufeinanderfolgenden Tagen.6
  • Erneute Behandlung mit Glukokortikoiden über einen verkürzten Zeitraum6
  • Es wird zwischen Patient*innen mit seltenen und häufigen Rezidiven unterschieden.

Therapie bei schweren Verläufen oder Steroidresistenz

  • Ergänzender oder alternativer Einsatz von Immunsuppressiva:1
    • Cyclosporin
    • Tacolimus
    • Mycophenolat
    • Cyclophosphamid
    • Levamisol
    • Rituximab.

Prophylaxe/Behandlung von Komplikationen

  • Die Entscheidung über eine Thromboseprophylaxe wird individuell unter Berücksichtigung der Risikokonstellation getroffen.1
    • Erhöhtes Thrombembolierisiko, typische Lokalisationen sind Sinusvene, Lungenvenen und rechter Vorhof, tiefe Beinvenen und die Nierenvenen.1
  • Erhöhtes Infektionsrisiko durch Antikörpermangel und immunsuppressive Therapie

Psychosoziale Betreuung

  • Hohe psychosoziale Belastung aufgrund des chronisch-rezidivierenden Krankheitsverlaufes3
  • Psychologisch-pädagogische Intervention z. B. durch Familienschulung nephrotisches Syndrom2

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Komplikationen

Akute Komplikationen1

Langfristige Komplikationen1

  • Folgen der hohen kumulativen Glukokortikoiddosis
  • Nebenwirkungen der ergänzend oder alternativ eingesetzten Immunsuppressiva

Verlauf und Prognose

  • Primäres Ansprechen auf die Glukokortikoidtherapie ist der wichtigste Prognosefaktor.5
    • seit der Einführung der Steroidtherapie Rückgang der Mortalität von über 50 % auf ca. 2–5 %9
  • Steroidsensibles nephrotisches Syndrom (SSNS)
    • in ca. 70 % der Fälle Ausheilung im Lauf der Pubertät5
    • bis dahin aber häufig 1 oder mehrere Rezidive11
    • Risiko für Rezidiv 50–90 %, davon 35–50 % mit häufigen Rezidiven5
    • Die Anzahl der Patient*innen mit Rezidiven liegt auch im Erwachsenenalter zwischen 10–42 %.1
    • Risikofaktoren für Rezidive im Erwachsenenalter sind:1,13
      • jüngeres Alter bei der Erstmanifestation (< 4 Jahre)
      • hohe Anzahl von Rezidiven im Kindesalter
      • Einsatz immunsuppressiver Therapien.
    • Das SSNS führt nicht zu einer Niereninsuffizienz.6
  • Steroidresistentes nephrotisches Syndrom (SRNS)
    • Die Prognose des SRNS hat sich in den letzten Jahren durch die immunsuppressive Therapie gebessert.11
    • im Langzeitverlauf dennoch häufig Niereninsuffizienz11
    • Renales Langzeitüberleben von 75 %, 58 % und 53 % nach 5, 10 und 15 Jahren5

Verlaufskontrolle

  • Kinder- bzw. Hausärzt*innen spielen eine wichtige Rolle, da sie die Behandlung überwachen und bei akuten Problemen (z. B. Infektion) rasch handeln können.3
  • Die Therapie sollte langfristig durch Kindernephrolog*innen gesteuert werden.3

Patienteninformation

Selbsthilfeorganisation

Quellen

Leitlinien

  • Gesellschaft für Pädiatrische Nephrologie. Idiopathisches Nephrotisches Syndrom im Kindesalter: Diagnostik und Therapie. AWMF-Leitlinie Nr. 166-001. S2e, Stand 2020. www.awmf.org

Literatur

  1. Gesellschaft für Pädiatrische Nephrologie. Idiopathisches Nephrotisches Syndrom im Kindesalter: Diagnostik und Therapie. AWMF-Nr. 166-001. Stand 2020. www.awmf.org
  2. Benz M, Ehren R, Tönshoff B, et al. Nephrotisches Syndrom im Kindesalter. Monatsschr Kinderheilkd 2019; 167: 488–499. doi:10.1007/s00112-019-0677-5 DOI
  3. Sparta G. Das nephrotische Syndrom im Kindesalter. Pädiatrie 2013;03:21-27. www.rosenfluh.ch
  4. Hoefele J, Beck B, Weber L, et al. Steroid-resistentes nephrotisches Syndrom. medgen 2018; 30: 410-421. doi:10.1007/s11825-018-0215-1 DOI
  5. Weber L. Nephrotisches Syndrom bei Kindern und Jugendlichen. eMedpedia. Zugriff 02.02.21. www.springermedizin.de
  6. Eggert M, Kemper J. Das idiopathische nephrotische Syndrom im Kindesalter. Selten, aber mit Konsequenzen für die pädiatrische Praxis. Pädiatrie 2020; 32: 26-32. doi:10.1007/s15014-020-2424-8 DOI
  7. Benz M, Ehren R, Tönshoff B, et al. Alternativen zur Steroidbehandlung des steroidsensiblen nephrotischen Syndroms im Kindesalter. Nephrologe 2015; 10: 462–471. doi:10.1007/s11560-015-0001-x DOI
  8. Kemper M, Müller-Wiefel D, Tönshoff B. Nephrotisches Syndrom bei Kindern. Nephrologe 2015; 10: 368–372. doi:10.1007/s11560-015-1024-z DOI
  9. Lane J. Pediatric Nephrotic Syndrome. Medscape, updated Mar 04,2020. Zugriff 03.02.21. emedicine.medscape.com
  10. Müller-Deile J, Schenk H, Schiffer M. Minimal-change-Glomerulonephritis und fokal-segmentale Glomerulosklerose. Internist 2019 2019; 60: 450–457. www.springermedizin.de
  11. Schumacher M. Krankheitsbilder jenseits einer harmlosen Proteinurie. Pädiatrie 2010; 2: 98-102. doi:10.1007/BF03363760 DOI
  12. Liebau M, Weber L. Proteinurie im Kindesalter. Monatsschr Kinderheilkd 2017; 165: 727–736. doi:10.1007/s00112-017-0284-2 DOI
  13. Ehren R, Brinkkötter P, Weber L. Nephrotisches Syndrom des Kindes- und Jugendalters. Nephrologe 2019; 14: 184–191. link.springer.com

Autor*innen

  • Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i.Br.
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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