Leri-Weill-Dyschondrosteosis (LWD)

Zusammenfassung

  • Definition:Erblich bedingte Form von Kleinwuchs, ausgelöst durch Veränderungen des SHOX-Gens, in Kombination mit weiteren skelettalen Auffälligkeiten.
  • Häufigkeit:Prävalenz unbekannt.
  • Symptome:Kleinwuchs, evtl. Schmerzen im Bereich der Handgelenke und eingeschränkte Funktion der Handgelenke.
  • Befunde:Typische klinische Befunde sind Kleinwuchs, verkürzte Unterarme und Unterschenkel (Mesomelie) und eine Deformität im Bereich des Handgelenks (Madelung-Deformität).
  • Diagnostik:Röntgen des Handgelenks; genetische Testung.
  • Therapie:Therapie mit Wachstumshormon zur Steigerung der Endgröße.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Auch Leri-Weill-Syndrom genannt (LWD)
  • Ausgelöst durch Mutationen des SHOX-Gens (Short Stature Homeobox-Containing Gene)1
  • Bei der LWD liegen stark ausgeprägte klinische Symptome vor. 
    • SHOX-Mutationen können abgesehen vom LWD auch zu milderen Phänotypen führen, die z. B. lediglich mit Kleinwuchs ohne weitere Auffälligkeiten einhergehen.
  • Klassische klinische Triade 
    • Kleinwuchs (Größe unterhalb der 3. Perzentile)
    • Mesomelie (verkürzte Unterschenkel und Unterarme)
    • Madelung-Deformität (Wachstumsstörung des Handgelenks); tritt teilweise erst mit Beginn der Pubertät auf.
  • Weibliche Betroffene sind häufig stärker betroffen.
  • Die Ausprägung der klinischen Symptome variiert stark unter Betroffenen.

Häufigkeit

  • Die genaue Prävalenz ist nicht bekannt.
    • Schätzungen gehen von einer Prävalenz von 1:1.000–2.000 in der Allgemeinbevölkerung aus.
  • Insgesamt scheinen mehr Frauen als Männer betroffen zu sein; die Gründe hierfür sind nicht bekannt.1 

Ursachen

  • Ursächlich sind Veränderungen, die das SHOX-Gen betreffen.1-3
    • gelegen auf dem X- und dem Y-Chromosom
    • Normalerweise sind also 2 Kopien des SHOX-Gens vorhanden.
    • Das von diesem Gen kodierte Protein ist an der Knochenentwicklung beteiligt und spielt insbesondere beim Wachstum und der Reifung der Knochen von Armen und Unterschenkeln eine Rolle.
    • Haploinsuffizienz (das Gen liegt normalweise in doppelter Ausfertigung vor; liegt nur noch eine Genkopie vor, so kommt es zu Symptomen) des SHOX-Gens als Ursache der LWD
      • durch heterozygote (d. h. nur eine Genkopie betreffende) Deletionen des SHOX-Gens (bei 80–90 % der Betroffenen)
      • seltener: direkte heterozygote pathogene Mutationen des SHOX-Gens
      • Auch Mutationen in benachbarten Bereichen, in denen sich Steuerelemente für die Ablesung des SHOX-Gens befinden (sog. PAR1-Anteile), können LWD auslösen.
      • Extrem selten sind Chromosomenstörungen ursächlich, die das X- oder Y-Chromosom betreffen (z. B. Translokationen).
  • Vererbung1
    • pseudo-autosomal dominante Vererbung
      • Vererbung wie beim autosomal-dominanten Erbgang, nur dass in diesem Fall die Geschlechtschromosomen betroffen sind.
    • Wenn ein Elternteil eine LWD aufweist, besteht eine Wahrscheinlichkeit von 50 %, dass das Kind die Erkrankung erbt.
    • Sollten beide Elternteile eine LWD haben, besteht für gemeinsame Nachkommen eine Wahrscheinlichkeit von 25 %, eine mesomele Dysplasie Typ Langer zu entwickeln (siehe Abschnitt Differenzialdiagnosen).
    • Nach gesicherter genetischer Diagnose sollte zur weiteren Abklärung eine Untersuchung beider Elternteile im Hinblick auf die Veränderung veranlasst werden.
      • Falls ein Elternteil die Veränderung auch trägt, ergibt sich für Geschwister und weitere Nachkommen eine Wahrscheinlichkeit von 50 %, die Veränderung zu erben.
      • Falls die Veränderung bei den Betroffenen neu entstanden ist (de novo), ist die Wiederholungswahrscheinlichkeit zwar niedrig, aufgrund der Möglichkeit eines Keimzellmosaiks aber etwas erhöht im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung.
    • Für Nachkommen von Betroffenen besteht eine Wahrscheinlichkeit von 50 %, die Veränderung ebenfalls zu erben.

Differenzialdiagnosen

  • Turner-Syndrom bei weiblichen Betroffenen
    • Beim Turner-Syndrom kommt es ebenfalls zur SHOX-Haploinsuffizienz aufgrund numerischer oder struktureller Veränderungen, die das X-Chromosom betreffen.
  • Idiopathischer Kleinwuchs
  • Mesomele Dysplasie Typ Langer
    • Durch biallelische (d. h. beide Genkopien betreffende) SHOX-Veränderungen: Kann auftreten, wenn beide Elternteile ein LWD aufweisen.
    • deutlich schwerer Betroffene 
    • schwerer Kleinwuchs: Endgröße 5,5–8,9 Standardabweichungen unterhalb des Medians
  • Andere Syndrome, die mit Kleinwuchs einhergehen, z. B. Silver-Russell-Syndrom.

ICPC-2

  • T10 Wachstumsverzögerung
  • T80 Angeb. Fehlbild., endokrin/metabol.

ICD-10

  • Q77 Osteochondrodysplasie mit Wachstumsstörungen der Röhrenknochen und der Wirbelsäule
    • Q77.8 Sonstige Osteochondrodysplasien mit Wachstumsstörungen der Röhrenknochen und der Wirbelsäule

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Die Diagnose wird auf Grundlage der klinischen Befunde und des Skelettröntgens gestellt und kann durch eine molekulargenetische Untersuchung bestätigt werden.1

Anamnese

  • Die Symptome werden oft erst im Alter von 5–6 Jahren oder später sichtbar.
    • Bei Geburt kann die Körperlänge leicht vermindert sein.1 
  • Die Ausprägung der Symptome variiert stark.
    • Umfang und Schweregrad der Symptome sind auch von Familie zu Familie, aber auch innerhalb einer Familie, sehr unterschiedlich.
  • Anomalien im Bereich des Handgelenks und Unterarms (Madelung-Deformität) können Schmerzen hervorrufen und die Beweglichkeit des Handgelenks einschränken.
  • Frauen sind häufig stärker betroffen als Männer.

Klinische Untersuchung

  • Leichter bis mittelgradiger Kleinwuchs, wobei nicht alle Knochen verkürzt sind (disproportionaler Wuchs).1,3
  • Mesomelie
    • Bedeutet, dass die mittleren Segmente einer Extremität verkürzt sind.
    • bei 60–100 % der weiblichen Betroffenen
    • bei 45–82 % der männlichen Betroffenen
    • Das Längenwachstum der Unterarmknochen (Ulna und Radius) und Unterschenkelknochen (Fibula und Tibia) ist am stärksten beeinträchtigt.
    • Verhältnis von Sitzhöhe zu Körpergröße vergrößert: Hinweis auf Verkürzung der Unterschenkel1,4
  • Madelung-Deformität
    • Verbindung von Radius, Ulna und Karpalgelenk gestört: Kann zu spontaner dorsaler Subluxation der distalen Ulna führen (erinnert an eine Gabel).
    • Ruft bei manchen Patient*innen Schmerzen hervor.
    • oft erst mit zunehmendem Alter erkennbar
    • Manche Personen weisen eine Madelung-Deformität auf, ohne an einer LWD zu leiden.
  • Auch Fehlstellungen im Bereich der Knie und Knöchel aufgrund einer Fehlentwicklung des Wadenbeins und der Fußwurzel sind möglich.1
    • Dies kann zu Problemen beim Gehen (Gangstörung) und Schmerzen führen.

Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Radiologische Untersuchungen1
    • Das Ausmaß der Skelettveränderungen ist sehr unterschiedlich.
    • Im Rahmen der Diagnostik und anschließend jährlich, falls die Patient*innen mit Wachstumshormon behandelt werden, sollten Aufnahmen des Handgelenks angefertigt werden, um die Skelettreifung zu überwachen.
  • Genetische Diagnostik1
    • Array-Untersuchung zum Nachweis von kleinen Deletionen oder Duplikationen der Chromosomen
    • direkte Genanalyse des SHOX-Gens 
    • oder Paneldiagnostik/Exomdiagnostik unter Einbeziehung möglicher Differenzialdiagnosen

Indikationen zur Überweisung

  • Bei V. a. LWD sollte zur weiteren Abklärung der Verdachtsdiagnose und zum Ausschluss von Differenzialdiagnosen eine Überweisung zu einer pädiatrischen und humangenetischen Praxis erfolgen.

Therapie

Therapieziel

  • Steigerung des Längenwachstums1,3

Allgemeines zur Therapie

  • Vor der Pubertät (bis zum Schluss der Wachstumsfugen): Behandlung mit rekombinantem Wachstumshormon1,3
    • Führt zu einer Zunahme der Endgröße von 7–10 cm.
    • Zur Kontrolle des Knochenalters und zur Bestimmung des Alterungsprozesses sollte vor Beginn der Therapie und jährlich während der Wachstumshormontherapie eine Röntgenaufnahme des Handgelenks angefertigt werden.
  • Evtl. handchirurgischer Eingriff bei starken Schmerzen aufgrund der Madelung-Deformität
  • Kinder nach der Pubertät und Erwachsene: Wachstumshormone zeigen keine Wirkung mehr.

Empfehlungen für Patient*innen

  • Falls die Madelung-Deformität Beschwerden hervorruft, sollten körperliche Aktivitäten wie Heben, Greifen, Schreiben, Schreiben auf der Tastatur und Sportarten, die das Handgelenk belasten, eingeschränkt werden.

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Bei Geburt ist die Körpergröße meist nur leicht vermindert.
  • Während der Kindheit kommt es dann zu einer deutlichen Wachstumsverzögerung mit darauf resultierender deutlich verminderter Körpergröße.
  • Die finale Körpergröße (ohne Therapie) ist bei weiblichen Betroffenen um 2,84 Standardabweichungen verringert, bei männlichen Betroffenen um 2,36 Standardabweichungen.1,3 
  • Die Madelung-Deformität entwickelt sich im fortgeschrittenen bis späten Kindesalter und ist bei Mädchen häufiger und schwerer ausgeprägt.

Prognose

  • Bei frühzeitiger Diagnose und Therapie kann die Körperendgröße um 7–10 cm gesteigert werden.1

Verlaufskontrolle

  • Halbjährliche Kontrolle des Wachstums1
    • Überwachung der Größenparameter und des Wachstums: Größe, Armspannweite, Sitzhöhe4
  • Beurteilung des Pubertätsstadiums zur Beurteilung der Therapie mit Wachstumshormonen
  • Auf skelettale Auffälligkeiten wie z. B. Madelung-Deformität und Skoliose achten.
  • BMI-Kontrolle: Der BMI ist häufig etwas erhöht. 

Patienteninformationen

Selbsthilfe

  • Bundesverband Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien e. V. (BKMF)
  • Bundesselbsthilfeverband Kleinwüchsiger Menschen (VKM)
  • Bundesselbsthilfevereinigung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit seltenen, chronischen Skelett-Erkrankungen e. V. (BSHV)

Quellen

Literatur

  1. 1. Binder G, Rappold GA. SHOX Deficiency Disorders. 2005 Dec 12 [Updated 2018 Jun 28]. www.ncbi.nlm.nih.gov
  2. Gürsoy S, Hazan F, Aykut A, Nalbantoğlu Ö, Korkmaz HA, et al. Detection of SHOX Gene Variations in Patients with Skeletal Abnormalities with or without Short Stature. J Clin Res Pediatr Endocrinol. 2020 Nov 25;12(4):358-365. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  3. Orso M, Polistena B, Granato S, Novelli G, Di Virgilio R, et al. Pediatric growth hormone treatment in Italy: A systematic review of epidemiology, quality of life, treatment adherence, and economic impact. PLoS One. 2022 Feb 25;17(2):e0264403. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  4. Malaquias AC, Scalco RC, Fontenele EG, Costalonga EF, Baldin AD et al. The sitting height/height ratio for age in healthy and short individuals and its potential role in selecting short children for SHOX analysis. Horm Res Paediatr. 2013;80(6):449-56. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov

Autor*innen

  • Laura Morshäuser, Dr. med., Ärztin, Karlsruhe
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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