Vitamin-D-Mangel-Rachitis

Zusammenfassung

  • Definition:Gestörte Mineralisierung und Strukturstörung der Wachstumsfuge bei Kindern durch Vitamin-D-Mangel.
  • Häufigkeit:Durch regelhafte Prophylaxe sehr selten geworden.
  • Symptome:Erhöhte Infektanfälligkeit, Krampfanfälle durch Hypokalzämie, motorische Entwicklungsstörungen.
  • Befunde:Muskulärer Hypotonus, Skelettdeformitäten, insbesondere Achsabweichungen vom Kniegelenk, Kleinwuchs.
  • Diagnostik:Labordiagnostik und Röntgen von linker Hand und linkem Kniegelenk.
  • Therapie:Ausreichende Supplementation von Vitamin D und Kalzium.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Gestörte Mineralisierung und Strukturstörung der Wachstumsfuge bei Kindern infolge unzureichender Zufuhr, fehlender adäquater Vitamin-D-Prophylaxe, endogener Synthese oder intestinaler Malabsorption von Vitamin D1
    • Der Mangel an Vitamin D führt zu verminderter intestinaler Absorption von Kalzium, sodass eine kalzipenische Rachitis entsteht.
  • Abzugrenzen sind:

Häufigkeit

  • Dank der Vitamin-D-Prophylaxe bei Kleinkindern und Säuglingen ist die Rachitis sehr selten geworden.
  • Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund sind in Deutschland häufiger von einem Vitamin-D-Mangel betroffen.4
    • Sowohl Jungen und Mädchen mit türkischem oder arabischem Hintergrund sind besonders gefährdet.

Vitamin-D-Stoffwechsel – Begriffsklärung

  • Cholecalciferol = Calciol = Vitamin D3
    • körpereigene Synthese in Haut aus 7-Dehydrocholesterol durch UVB-Exposition oder
    • exogene Zufuhr über Nahrung
  • Calcidiol = 25-OHD
    • Entsteht in der Leber durch Hydroxylierung von Cholecalciferol
    • Spiegelt die Vitamin-D-Zufuhr über die Ernährung und die körpereigene Vitamin-D-Bildung wider.5
      • im Labor Marker für die Beurteilung der Vitamin-D-Versorgung
  • Calcitriol = 1,25-(OH)2D
    • Entsteht in der Niere durch Hydroxylierung von Calcidiol
    • aktive Form

Ätiologie und Pathogenese

  • Ein Vitamin-D-Mangel führt zu einer nicht ausreichenden Mineralisation des Knochens, da intestinal zu wenig Kalzium absorbiert wird.1
  • In der Regel bildet der Körper in der Haut 80–90 % des Vitamins selbst, mithilfe von Sonnenlicht, genauer UV-B-Strahlung.6
    • Die Ernährung trägt mit einem geschätzten Anteil von ca. 10–20 % nur einen relativ geringen Anteil zur Vitamin-D-Versorgung bei.
  • Da Säuglinge vor Sonnenexposition geschützt werden sollen, sind sie besonders für einen Vitamin-D-Mangel gefährdet und benötigen eine adäquate Vitamin-D-Prophylaxe.

Vitamin-D-abhängige Rachitiden (VDAR)2

  • Angeborene Störungen des Vitamin-D-Stoffwechsels
  • Alle Formen der hereditären Vitamin-D-abhängigen Rachitiden ähneln in Klinik und in den radiologischen Veränderungen denen der Vitamin-D-Mangelrachitis.
    • Ein fehlendes Ansprechen auf die übliche Therapie ist ein Hinweis auf VDAR.
  • VDAR IA: Mutationen im CYP27B1-Gen führen zu unterschiedlich starken
    Enzymaktivitätsverlusten der 1α-Hydroxylase.
  • VDAR IB: Mutationen im CYP2R1-Gen führen zu einer Störung der 25-Vitamin-D-Hydroxylase.
  • VDAR II: Mutationen im Vitamin-D-Rezeptor-Gen (VDR) verhindern die Wirkung des aktiven Vitamin D am VDR.
  • VDAR III: Die CYP3A4-Hydroxylase inaktiviert in der Leber verschiedene Vitamin-D-Metabolite. Aktivierende Mutationen führen zu einer raschen und
    permanenten Erniedrigung der Vitamin-D-Metabolite.

Hereditäre hypophosphatämische Rachitis 3

  • Erhöhte renale Phosphatausscheidung durch verschiedene Mutationen und Mechanismen
  • Am häufigsten X-chromosomale dominante hypophosphatämische Rachitis („Phosphatdiabetes"; basierend auf Mutationen im Gen PHEX), bei der die tubuläre Rückresorption von Phosphat gehemmt wird.

Prädisponierende Faktoren

  • Säuglinge und Kleinkinder mit:1
    • wenig Sonnenexposition der Haut
    • dunkler Pigmentierung und/oder
    • geringer Kalzium-/Vitamin-D-Zufuhr.

ICPC-2

  • T91 Vitamin-/Nährstoffmangel

ICD-10

  • E55 D-Vitaminmangel
    • E55.0 Aktive Rachitis
  • E83 Störungen des Mineralstoffwechsels
    • E83.3 Störungen des Phosphorstoffwechsels, Vitamin-D-resistente Rachitis 
  • N25 Störung aufgrund einer verschlechterten tubulären Funktion der Niere
    • N25.0 Renale Rachitis

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Die Diagnose Vitamin-D-Mangel-Rachitis wird gestellt durch Anamnese, körperlichen Untersuchungsbefund, laborchemische Veränderungen (AP- und PTH-Erhöhung, erniedrigter 25-OHD-Spiegel) und bestätigt durch den radiologischen Nachweis.1

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Vitamin-D-Prophylaxe erfolgt?
  • Bereits durchgeführte Therapie?
    • Das fehlende Ansprechen auf die übliche Therapie einer Vitamin-D-Mangel-Rachitis kann Hinweis auf das Vorliegen einer VDAR sein.2
  • Familiäre Vorbelastung bezüglich Störungen des Vitamin-D-Stoffwechsels oder Phosphat-Diabetes?
  • Die Erkrankung kann u. a. durch erhöhte Infektanfälligkeit, allgemeine motorische Entwicklungsverzögerungen oder Krampfanfälle auffällig werden.1

Klinische Untersuchung

  • Leitsymptome gemäß der deutschen Leitlinie1

Skelettstörungen

  • Achsenabweichungen v. a. am Knie
  • Verbiegungen der Diaphyse
  • Auftreibung bzw. Becherung der metaphysären Wachstumsfugen
  • Glockenthorax
  • Rachitischer Rosenkranz (Auftreibung der Knochenknorpelgrenze der Rippen)
  • Kraniotabes (elastische Eindrückbarkeit des Schädels)

Neurologische Symptome

  • Muskuläre Hypotonie
  • Tetanie
  • Allgemeine motorische Entwicklungsverzögerung
  • Krampfanfälle

Sonstiges

  • Gingivahyperplasie
  • Gehäufte Infekte
  • Herzrhythmusstörung bei schwerer Hypokalzämie
  • Bei der VDAR II haben etwa die Hälfte der Betroffenen eine Alopezie.2

Diagnostik bei Spezialist*innen 

Leitlinie: Diagnostik 1

Labor

Bildgebung

  • Röntgenaufnahme Hand links sowie Knie links
  • Bewertung des Schweregrades der Rachitis nach dem Thacher-Score
    • 0–10 Punkte (10 Punkte schwerste Ausprägung), Anm. d. Red.

Bewertung der Laborwerte1

  • Normale AP schließt eine Rachitis aus (Ausnahme: normal bis erniedrigte AP bei Hypophosphatasie, renal tubuläre Azidose).
  • Klassischer Befund bei Vitamin-D-Mangel-Rachitis
  • Klassischer Befund bei hypophosphatämischer Rachitis
    • alkalische Phosphatase: leicht erhöht
    • Serum-Phosphat: deutlich erniedrigt
    • Serum-Kalzium: normwertig
    • 25-OHD: normwertig
    • Parathormon: normwertig

Ultraschall der Nieren

  • Bei erhöhtem Kreatinin oder Verdacht auf Phosphat-Diabetes Ultraschall der Nieren3

Molekulargenetik

  • Bei Verdacht auf VDAR oder HHR molekulargenetischer Nachweis der Mutationen möglich2-3

Indikationen zur Überweisung

  • Zur Diagnostik und Therapie Zusammenarbeit mit Pädiater*in empfohlen2

Therapie

Therapieziele

  • Behebung des Mangels von Vitamin D und Kalzium
    • bei Phosphat-Diabetes auch von Phosphor
  • Folgekomplikationen verhindern.
    • z. B. Skelettdeformitäten

Medikamentöse Therapie

Vitamin-D-Mangel-Rachitis

Leitlinie: Medikamentöse Therapie1

Vitamin-D-Mangel-Rachitis

  • Bis zum Alter von 12 Monaten
    • 2.000 IU Vitamin D3 plus 40–80 mg/kg Kalzium pro Tag für 12 Wochen
    • Danach sollte die Durchführung der Prophylaxe mit 500 IU Vitamin D3 bis zum Ende des 1. Lebensjahres folgen.
  • 2.– 12. Lebensjahr
    • 3.000–6.000 IU Vitamin D3 und mindestens 500 mg Kalzium pro Tag für 12 Wochen
  • Ab 13. Lebensjahr
    • 6.000 IU Vitamin D und 500–1.000 mg Kalzium pro Tag
  • Nach Beginn der Therapie sollte nach 3–4 Wochen eine Laborkontrolle durchgeführt werden, um ggf. eine Dosisanpassung von Kalzium bzw. Vitamin D vorzunehmen.
    • Bei dem ausbleibenden Abfall/der Normalisierung des Parathormons ist ggf. die Behandlungsdiagnose zu überprüfen (DD: VDAR).

Vitamin-D-abhängige Rachitis

Leitlinie: Medikamentöse Therapie2

VDAR IA

  • Tägliche und lebenslängliche Therapie mit 0,3–2,0 ug Calcitriol (1,25-(OH)2D), unter Kontrollen von S-Kalzium, Parathormon, AP und Kalzium/Kreatininwerten im Urin.
  • In den Anfangsmonaten der Therapie ist die zusätzliche Gabe von Kalzium zur Absättigung der Kalziumspeicher („Hungry Bone“) erforderlich.

VDAR IB

  • Die Behandlung besteht aus 0,3–2,0 ug Calcitriol täglich bei altersentsprechender
    Kalziumzufuhr mit der Nahrung.

VDAR II

  • Zunächst kann ein kurzzeitiger Behandlungsversuch mit 1,25-(OH)2D (hochdosiert bis zu 50 μg Calcitriol pro Tag per os, ggf. Steigerung) und zusätzlichen Kalziumgaben erfolgen unter Kontrollen von S-Kalzium, Parathormon, AP und
    Kalzium-/Kreatininwerten im Urin.
  • Bei fehlendem Therapieerfolg (kein Abfall der AP- und PTH-Konzentrationen) sollte die Therapie auf Kalzium oral (3–5 g/m2) umgestellt werden.
  • Bei anhaltender Hypokalzämie und massiven AP- und PTH-Erhöhungen
    können in seltenen Fällen nächtliche Kalziuminfusionen zur Absättigung der Kalziumspeicher der Knochen und zur Normalisierung des Knochenumsatzes erforderlich sein.

VDAR III

  • Die Behandlung der VDAR Typ III erfolgt mit Cholecalciferol (1.000 bis 50.000 IU) pro Tag.

Hereditäre hypophosphatämische Rachitis

Leitlinie: Medikamentöse Therapie3

  • X-chromosomale Hypophosphatämie (XLH)
    • bei Mutationsnachweis/positiver Familienanamnese gezielte Antikörpertherapie mit Burosumab als FGF23-Antikörper für Kinder ab dem 2. Lebensjahr
    • Die Startdosis beträgt bei Kindern im Alter von 1–17 Jahren 0,8 mg/kg Körpergewicht alle 14 Tage s. c. (max. 90 mg).
  • XLH bei Kindern < 12 Monate
    • konventionelle Substitutionstherapie
    • elementarer Phosphor (20–40 mg/kg pro Tag), gleichmäßig verteilt auf
      mindestens 5 Einzelgaben (einschleichend dosieren)
    • zusätzliche Gabe von 1,25-(OH)2D in der Dosierung 20–30 ng/kg pro Tag, alternativ Alfacalcidol in der Dosierung 50 ng/kg pro Tag

Prävention

 

Leitlinie: Prävention1,7

Neugeborene

  • Die Rachitisprophylaxe mit Vitamin D wird nach Nahrungsaufbau ab der 2. Lebenswoche in Form einer täglichen Gabe von 500 IU Vitamin D und bis zum zweiten erlebten Frühsommer, also 12–18 Monate fortgeführt.

Risikogruppen

  • Bei Risikogruppen (chronische Erkrankungen, Menschen mit Migrationshintergrund und dunklem Hautkolorit, Kindern/Jugendlichen mit antiepileptischer Therapie) ist eine tägliche Einnahme von 1.000 IU generell zu empfehlen.
  • Empfehlungen des RKI zur Sonnenexposition6
    • Die Vitamin-D-Bildung ist in den hiesigen Breiten nur von März bis Oktober möglich. Der Körper ist in dieser Zeit in der Lage, nicht nur den akuten Bedarf zu decken, sondern ebenfalls Vitamin-D-Reserven im Fett- und Muskelgewebe für das Winterhalbjahr anzulegen.
    • Um niedrigen Vitamin-D-Werten ganzjährig entgegenzuwirken, legen aktuelle Empfehlungen nahe, zwischen März und Oktober 2–3 x pro Woche Gesicht, Hände und Arme unbedeckt und ohne Sonnenschutz der Sonne auszusetzen.
      • Für eine ausreichende Vitamin-D-Synthese reicht hierbei bereits die Hälfte der Zeit, in der sonst ungeschützt ein Sonnenbrand entstehen würde.
    • Da Rötungen der Haut sowie Sonnenbrände grundsätzlich vermieden werden sollten, sind bei längeren Aufenthalten in der Sonne unbedingt Sonnenschutzmaßnahmen zu treffen.

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Ohne Behandlung zunehmende Entkalkung und Erweichung der Knochen6

Komplikationen

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.6
  • Schwerwiegende Störungen des Knochenwachstums
  • Bleibende Verformungen des Skeletts
  • Knochenbrüche
  • Verringerte Muskelkraft 
  • Verminderter Muskeltonus
  • Infektneigung
  • Hypokalzämische Krämpfe1

Prognose

  • Korrekturoperationen der Beinachsenfehlstellungen sind in der Regel nicht erforderlich, allerdings kann es durchaus 2–3 Jahre bis zur vollständigen Beinachsenbegradigung bei adäquater Kalzium- und Vitamin D-Zufuhr dauern.1

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie. Vitamin-D-Mangel-Rachitis. AWMF-Leitlinie Nr. 174-007. S1, Stand 2022. www.awmf.org
  • Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie e. V. (DGKED). Rachitiden, hereditäre hypophosphatämische. AWMF-Leitlinie Nr. 174-008. S1, Stand 2022. www.awmf.org
  • Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie e. V. (DGKED). Vitamin D-abhängige Rachitiden. AWMF-Leitlinie Nr. 174-009. S1, Stand 2022. www.awmf.org
  • Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin. Betreuung von Neugeborenen in der Geburtsklinik. AWMF-Leitlinie Nr. 024-005. S2k, Stand 2021. www.awmf.org

Literatur

  1. Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie. Vitamin-D-Mangel-Rachitis. AWMF-Leitlinie Nr. 174-007. Stand 2022. www.awmf.org
  2. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. Vitamin D-abhängige Rachitiden. S1, AWMF-Leitlinie Nr. 174-009. Stand 2022. www.awmf.org
  3. Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie. Hereditäre hypophosphatämische Rachitiden. AWMF-Leitlinie Nr. 174-008. Stand 2022. www.awmf.org
  4. Hintzpeter, B., Scheidt-Nave, C., Müller, M.J., Schenk, L., Mensink, G.B.M. Higher prevalence of vitamin D deficiency is associated with immigrant background among children and adolescents in Germany (2008) Journal of Nutrition, 138 (8), pp. 1482-1490. academic.oup.com
  5. Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V.. Ausgewählte Fragen und Antworten zu Vitamin D. Stand 2012. Letzter Zugriff 13.10.22. www.dge.de
  6. Robert Koch-Institut (RKI). Antworten des Robert-Koch-Instituts auf häufig gestellte Fragen zu Vitamin D. Stand 25.01.2019. Letzter Zugriff 10.10.22. www.rki.de
  7. Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin. Betreuung von Neugeborenen in der Geburtsklinik. S2k, AWMF-Leitlinie 024-005. Stand 2021. www.awmf.org

Autor*innen

  • Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Münster
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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