Zusammenfassung
- Definition:Verzögerte oder ausbleibende Pubertätsentwicklung oder Stillstand einer begonnen Pubertätsentwicklung.
- Häufigkeit:Die genaue Prävalenz ist nicht bekannt, Angaben schwanken zwischen ca. 0,3–1 %.
- Symptome:Ausbleiben der Pubertätsentwicklung (Brustentwicklung B1 beim Mädchen, Hodenvolumen < 3,5 ml (Prader-Orchidometer) und ausbleibendes Peniswachstum beim Jungen), Stillstand einer begonnenen Pubertätsentwicklung, Ausbleiben der Menarche.
- Befunde:Verminderte Körpergröße, Zeichen der fehlenden oder verzögerten Pubertätsentwicklung.
- Diagnostik:Beurteilung der Reifeentwicklung (Pubertätsstadien,
Skelettalterbestimmung) und Klärung der Ursache der Verzögerung der
Pubertätsentwicklung. - Therapie:Informationen über die Erkrankung können für Patient*innen und deren Eltern häufig ausreichend sein, evtl. kann eine medikamentöse Induktion der Pubertät bei hohem psychischem Leidensdruck indiziert sein (bei Mädchen Östrogen-/Gestagensubstitution und bei Jungen Testosteronsubstitution).
Allgemeine Informationen
- Der Abschnitt basiert, sofern nicht anders gekennzeichnet, auf dieser Referenz.1
Definition
- Eine Pubertas tarda liegt vor, wenn
- beim ansonsten gesunden Mädchen (Jungen) jenseits eines chronologischen Alters von 13,5 (14) Jahren noch keine Pubertätszeichen vorhanden sind.
- der Zeitbedarf für das Durchlaufen der Pubertät von einem Tanner-Stadium B2 bis zur Menarche (von den ersten Zeichen bis zum Erreichen eines Tanner-Stadiums P5 G5) mehr als 5,0 (5,5) Jahre beträgt.
- eine begonnene Pubertätsentwicklung länger als 18 Monate stillsteht.
- Ein Hypogonadismus ist eine krankheitsbedingte Einschränkung der Gonadenfunktion, die zu einer Pubertas tarda führen kann.
- Eine konstitutionelle, d. h. genetisch bedingt verzögerte Pubertät, ist die häufigste Ursache.
- Die Pubertät ist verzögert, beginnt jedoch spontan.2
Häufigkeit
- Die genaue Prävalenz ist nicht bekannt, Angaben schwanken zwischen ca. 0,3–1 %.3-4
- Normvarianten der Pubertätsentwicklung sind mit einer Häufigkeit von etwa 3 % zu erwarten, pathologische Pubertätsstörungen hingegen treten in einem wesentlich geringeren Maße auf.2
- Eine Pubertas tarda wird häufiger bei Jungen als bei Mädchen beobachtet.
Ätiologie und Pathogenese
- Die häufigste Ursache ist die konstitutionelle Entwicklungsverzögerung.5
- Ca. 75 % der Patient*innen haben Verwandte ersten Grades mit der gleichen Erkrankung.
- Ein hypogonadotroper Hypogonadismus mit fehlender Sekretion von GnRH und somit niedrigen Werte von FSH und LH kann ebenfalls zu den Symptomen einer Pubertas tarda führen.
- Weitere seltene Ursachen
- chronische Erkrankungen wie Asthma bronchiale, Zöliakie, Nieren- und Herzerkrankungen, Morbus Crohn, Anorexia nervosa, Mangelernährung etc.
- starkes/intensives körperliches Training
- schwerer psychosozialer Stress
ICPC-2
- T99 Endo./metab./ernäh. Erkrank., andere
- Schließt verzögerte Pubertät mit ein.
ICD-10
- E30.0 Verzögerte Pubertät [Pubertas tarda]
- Inkl.: Konstitutionelle Verzögerung der Pubertät und/oder
verzögerte sexuelle Entwicklung
- Inkl.: Konstitutionelle Verzögerung der Pubertät und/oder
Diagnostik
- Der Abschnitt basiert, sofern nicht anders gekennzeichnet, auf dieser Referenz.1
Diagnostische Kriterien
- Anamnese und körperliche Untersuchung
- Ziel ist auch die Unterscheidung zwischen konstitutionell verzögerter Pubertät und anderen Ursachen für hypogonadotropen Hypogonadismus (niedrige GnRH-Werte).6
- Mögliche zugrunde liegende Erkrankungen sind auszuschließen.
- Patient*innen bis zum spontanen Beginn der Pubertät beobachten, ggf. Mitbeurteilung durch Pädiater*in.
Differenzialdiagnosen
- Hypergonadotroper Hypogonadismus (peripher, Gonaden)
- primär: (hormonelle) Insuffizienz der Gonaden (z. B. Turner-Syndrom bei Mädchen oder Klinefelter-Syndrom bei Jungen, bei Anorchie oder Androgenresistenz)
- sekundär: nach Bestrahlung, Chemotherapie, insbesondere bei Tumoren des kleinen Beckens oder bei chronisch konsumierenden/entzündlichen Erkrankungen wie M. Crohn)
- Hypogonadotroper Hypogonadismus vom nicht-konstitutionellen Typ (zentral)
- insuffiziente Gonadotropinesekretion der Hypophyse, meist kombiniert mit weiteren Ausfällen hypophysärer Hormone
Anamnese
- Familienanamnese: Verwandte ersten Grades mit der Erkrankung?
- Fragen nach Zeichen des Pubertätsbeginns
- Befragung zu Wachstum und Entwicklungsstörungen
- Hinweise auf Abflachung oder Stopp des Längenwachstums?
- Angeborene Fehlbildungen wie Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, Kryptorchismus oder Skoliose können auf einen angeborenen GnRH-Mangel hindeuten.
- Ernährungsanamnese: Hinweise auf Mangelernährung?
- Vorerkrankungen?
- Medikamentenanamnese
Klinische Untersuchung
- Orientierende körperliche Untersuchung
- Messung von Größe und Gewicht
- Untersuchung der sekundären Geschlechtsmerkmale
- Auffälligkeiten in Bezug auf die Tanner-Stadien
- Ausbleiben der Pubertätsentwicklung
- Brustentwicklung B1 beim Mädchen
- Hodenvolumen < 3,5 ml (Prader-Orchidometer) und ausbleibendes Peniswachstum beim Jungen
- Stillstand einer begonnenen Pubertätsentwicklung
- Ausbleiben der Menarche
- Isolierte Entwicklung der Schambehaarung (Pubarche) ist nur dann ein Zeichen des Pubertätsbeginns, wenn sie von den obigen Zeichen des Pubertätsbeginns (Gonadarche) gefolgt ist.
- Ausbleiben der Pubertätsentwicklung
- Eine isolierte Pubarche kann Hinweis auf adrenale Erkrankungen sein.
- Auffälligkeiten in Bezug auf die Tanner-Stadien
Untersuchungen in der hausärztlichen Praxis
- Zum Ausschluss von Differenzialdiagnosen gemäß Leitlinie
Diagnostik bei Spezialist*innen
- Gemäß Leitlinie durch Ärzt*innen für Kinder- und Jugendmedizin mit Zusatz-weiterbildung „Pädiatrische Endokrinologe und Diabetologie“:
- Labor
- Gesamt-Eiweiß, IgA, Zöliakie-Antikörper, LH, FSH, Prolaktin, Östradiol/Testosteron
- GnRH-Agonist-Test, hCG-Test (Jungen) [hCG/hMG-Test (Mädchen)] mit Steroidprofil
- Chromosomenanalyse
- molekulargenetische Zusatzuntersuchungen
- Sonografie der Gonaden und des Uterus
- Labor
- Radiolog*in
- Röntgen der linken Hand (Skelettalter)
- ggf. MRT (Gonaden/Uterus/Hypophyse)
Indikationen zur Überweisung
- Bei stark verzögerter Pubertät
- Bei Stillstand der Pubertät über einen Zeitraum von mindestens 12–18 Monaten
- Eine Überweisung kann auch sinnvoll sein, um die Pubertätsinduktion zu bewerten, auch wenn die Erkrankung als konstitutionell verzögerte Pubertät aufgefasst wird.
- Beispielsweise bei Patient*innen mit psychosozialen Beschwerden, die durch die verspätete Pubertät verursacht werden.
Therapie
- Der Abschnitt basiert, sofern nicht anders gekennzeichnet, auf dieser Referenz.1
Therapieziele
- Pubertas tarda sollte durch erfahrene Pädiater*in in Kooperation mit Kinderendokrinolog*in behandelt werden unter evtl. Hinzuziehung von Kinderchirurg*in, Urolog*in und/oder Gynäkolog*in.
- Psychosoziale Belastungen vermeiden/reduzieren.
- Evtl. Induktion der Pubertät, wenn die psychosoziale Situation dies erfordert.
Allgemeines zur Therapie
- Grundlage der Therapie bildet eine umfassende Aufklärung und Informationsvermittlung an Patient*innen und Eltern.
- Die Behandlung besteht aus einer kurzfristigen Stimulation der körpereigenen Wachstums- und Pubertätsentwicklung.
Medikamentöse Therapie
- Bei nachgewiesenem Hypogonadismus
- Mädchen: Östrogen-/Gestagensubstitution
- Jungen: Testosteronsubstitution
- Therapieschemata siehe Leitlinie.
- Mädchen
- Eine Behandlung ist selten indiziert bei konstitutionell verzögerter Pubertät.
- ggf. sehr niedrige Dosen von oralem oder transdermalem Östrogen mit allmählicher Eskalation
- Ggf. nach 2 Jahren Östrogentherapie eine Zugabe von Progesteron, um den Menstruationszyklus zu etablieren.
- über 3–6 Monate 0,3 mg Östradiolvalerat/d p. o.
- danach 6 Monate Therapiepause, anschließend Reevaluation
- Jungen
- hypogonadotroper Hypogonadismus: zuerst Therapie mit subkutanen Gaben von Gonadotropinen oder pulsatile GnRH-Therapie
- Testosteronsubstitution nach Erreichen eines adult männlichen Phänotyps, Abschluss des Hodenwachstums und Erreichen der Fertilität bis zum Auftreten von Kinderwunsch
- Bei postnatalen Hinweisen auf zentralen Hypogonadismus kann für 6 Monate eine Induktion der „Minipubertät“ mit Gonadotropinen in Betracht gezogen werden.
- Bei Verdacht auf konstitutionelle Entwickungsverzögerung (KEV) und psychischer Belastung (Leidensdruck)
- Testosteron-Enantat 50–100 mg i. m. oder transdermal alle 4 Wochen für 4–6 Monate
- danach 6 Monate Therapiepause, anschließend Reevaluation
- hypogonadotroper Hypogonadismus: zuerst Therapie mit subkutanen Gaben von Gonadotropinen oder pulsatile GnRH-Therapie
- Therapiemonitoring durch behandelnde Pädiater*in
Weitere Therapieoptionen
- Chirurgische Therapie
- ggf. Gonadektomie als Option
- Supportive Therapie
- psychologische/psychotherapeutische Behandlung
Verlauf, Komplikationen und Prognose
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Verlauf
- Bei konstitutionell verzögerter Pubertät beginnt die Pubertät spontan.
- Die endgültige Körpergröße wird nicht beeinflusst.
Komplikationen
- Psychosozialer Stress durch verzögerte Pubertät
Prognose
- Die Prognose ist gut.
Verlaufskontrolle
- Bei abwartender Beobachtung sind Kontrollen in regelmäßigen Abständen, z. B. alle 3 Monate, sinnvoll.
- Längenwachstum
- Tanner-Stadien
Patienteninformation
Worüber sollten Sie die Patient*innen informieren?
- Die Erkrankung ist gutartig.
- Es ist möglich, die Pubertät zu induzieren, falls die Erkrankung psychosoziale Probleme verursacht.
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Leitlinien
- Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie (DGKED). S1-Leitlinie Pubertas tarda und Hypogonadismus. AWMF-Register Nr. 174-022, Stand 2021. register.awmf.org
Literatur
- Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie (DGKED). S1-Leitlinie Pubertas tarda und Hypogonadismus. AWMF-Register Nr. 174-022, Stand 2021. register.awmf.org
- Brämswig J, Dübbers A. Störungen der Pubertätsentwicklung. Dtsch Arztebl Int 2009; 106(17): 295-304. www.aerzteblatt.de
- Sedlmeyer IL, Palmert MR. Delayed puberty: analysis of a large case series from an academic center. J Clin Endocrinol Metab 2002; 87: 1613-20. PubMed
- Tang C, Zafar Gondal A, Damian M. Delayed Puberty. 2022 Aug 1. In: StatPearls [Internet]. Treasure Island (FL): StatPearls Publishing; 2022 Jan–. PMID: 31335042. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov. www.ncbi.nlm.nih.gov
- Wehkalampi K, Widén E, Laine T, et al. Patterns of inheritance of constitutional delay of growth and puberty in families of adolescent girls and boys referred to specialist pediatric care. J Clin Endocrinol Metab 2008; 93: 723-8. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Raivio T, Falardeau J, Dwyer A, et al. Reversal of idiopathic hypogonadotropic hypogonadism. N EnglJ Med 2007; 357: 863. pmid:17761590 PubMed
Autor*innen
- Moritz Paar, Dr. med., Facharzt für Allgemeinmedizin, Münster
- Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).